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E-Book

Einleitung in die Moralwissenschaft

Vollständige Ausgabe

AutorGeorg Simmel
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl926 Seiten
ISBN9783849616939
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Die unübersehbare Fülle der Moralprinzipien und die Entgegengesetztheit in ihnen und ihren Ausführungen beweist unmittelbar, dass die Ethik diejenige Sicherheit der Methoden noch nicht gefunden hat, die in anderen Wissenschaften ein harmonisches Nebeneinander und aufsteigendes Nacheinander der Leistungen bewirkt. Von der Form der abstrakten Allgemeinheit, die zu den Einzelerfahrungen kein erkenntnisstheoretisch geprüftes Verhältnis hat, von ihrer Verquickung mit der Moralpredigt und den Reflexionen der Weisheit scheint ihr Weg zu einer historisch-psychologischen Behandlung aufwärts zu gehen. Sie hat einerseits, als Teil der Psychologie und nach deren sonst festgestellten Methoden, die individuellen Willensakte, Gefühle und Urteile zu analysieren, deren Inhalte als sittliche oder unsittliche gelten. Inhalt: Vorwort zu dem ersten Neudruck (von 1904) Vorwort zur ersten Auflage Erstes Kapitel: Das Sollen Zweites Kapitel: Egoismus und Altruismus Drittes Kapitel: Sittliches Verdienst Viertes Kapitel: Die Glückseligkeit Fünftes Kapitel: Der kategorische Imperativ Sechstes Kapitel: Die Freiheit Siebtes Kapitel: Einheit und Widerstreit der Zwecke

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Leseprobe

Erstes Kapitel: Das Sollen


 

 

 Die geistige Entwicklung der Menschheit hat eine Stufe durchgemacht, auf der man sich keines Unterschiedes zwischen den Vorstellungen, denen eine Wirklichkeit entspricht, und denen, die unwahr und rein psychologische Vorgänge sind, bewusst war.

 

Von den Naturvölkern hören wir vielfach, dass sie den Vorstellungen des Traumes dieselbe Wirklichkeit zuschreiben und dieselben Folgen geben, wie denen des Wachens; dass die tollste Einbildung, z. B. die Anwesenheit von Geistern, genau dieselbe Realität für sie besitzt, wie irgend ein sinnlich wahrnehmbares Ding; dass sie die Vorstellung eines Menschen, die sein Bildnis hervorruft, von der seiner wirklichen Gegenwart nicht zu unterscheiden wissen.

 

Die Kulturvölker zeigen an ihren Kindern noch die gleiche Erscheinung; es ist oft unmöglich dem Kinde klar zu machen, dass eine Wendung des Spiels oder des erzählten Märchens, die ihm Tränen entlockt, nicht Wirklichkeit, und dass die Puppe, die es wegen einer eingebildeten Ungezogenheit schlägt, kein wirklicher Mensch ist; ein Kind im dritten Jahre, zu dessen Belustigung man Papierfiguren ausschnitt, weinte heftig, wenn eine Figur durch rasches Schneiden in Gefahr kam, ein Glied zu verlieren; ein andres, das geträumt hatte, seine Mutter verliesse es, machte dieser nach dem Erwachen die grössten Vorwürfe darüber.

 

Entsprechend tritt dieser Mangel an Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und dem bloss Vorgestellten bei weniger entwickelten Geistern vergleichsweise stärker hervor; die Juristen bemerken bei ihrem Verkehr mit den ungebildeten Klassen, dass es diesen fast unmöglich ist, die Tatsachen und ihre Auslegungen und Phantasiegebilde auseinander zu halten.

 

Aber auch in den höheren Kulturkreisen sind noch genug Überbleibsel dieser Unvollkommenheit auffindbar.

 

Man scheut sich etwas Böses auch nur beim Namen zu nennen, man darf gewisse Dinge nicht einmal im Scherze sagen, offenbar weil für uns an der blossen Vorstellung schon ein Teil Realität haftet; dass man den Teufel nicht an die Wand malen, dass auch an der unsinnigsten Verleumdung immer etwas daran sein soll und dass immer etwas von ihr hängen bleibt - dies alles ist die Folge einer nicht genügend scharfen Scheidung des blossen Gedankens von demjenigen, der zugleich die Wirklichkeit bedeutet.

 

Noch in der Symbolik des brahmanischen Opfers lässt die gleiche Verschwommenheit des Denkens das gesprochene Wort als Gewissheit, die mitschwebende Bedeutung der Sache als ihre Wirklichkeit erscheinen: "Prajâpati schuf zu seinem Abbild das was das Opfer ist; darum sagt man: das Opfer ist Prajâpati."

 

Um was es sich hier handelt, das ist nicht der Irrtum, der das Erzeugnis der Einbildung in das Gewand der Wahrheit kleidet und so bei prinzipieller Klarheit über den Unterschied zwischen bloss psychologischer und objektiv wahrer Vorstellung die Inhalte beider vertauschte, sondern darum handelt es sich, dass bei primitiverem Denken der Unterschied zwischen Denken und Sein nicht nur nicht in abstrakter Weise, sondern nicht einmal tatsächlich in der Anwendung auf den einzelnen Fall gemacht wird.

 

Die Vorstellungsinhalte tauchen zunächst rein als solche psychologisch auf und es bedarf erst eines langen Differenzierungsprozesses, um sie in wahre und unwahre, logische und psychologische zu teilen.

 

Überall, wo das Bewusstsein ganz und gar von einer Vorstellung ausgefüllt ist, so dass kein Vergleich und kein reflektierendes Zusammenhalten mit der Gesamtheit der andern stattfindet, da pflegt sie sich auch in späteren Stadien der Geistesentwicklung noch unmittelbar als reale darzustellen.

 

Darum erscheinen einem die meisten Gedanken im Augenblick der Konzeption als wahre, darum ist der Schöpfer einer Idee, die sein ganzes Denkvermögen ausfüllt, ihr gegenüber meistens so kritiklos, darum sind wir meistens von der objektiven Richtigkeit von Parteimeinungen durchdrungen, die durch die Fülle der mit ihnen verbundenen Interessen unser Bewusstsein ganz und gar ausfüllen; selbst in der Wissenschaft ist diese Überschätzung des eignen Gebietes ganz gewöhnlich, weil die subjektiv-psychologische Bedeutung für uns gar zu leicht den Anschein einer sachlichen annimmt; so, um ein weniger bekanntes Beispiel zu nennen, zeigt die Geschichte der Tierpsychologie, dass die wirklichen Beobachter, die sich eingehend mit der Tierwelt beschäftigt haben, die Fähigkeiten der Tierseele fast durchgehendes überschätzten.

 

So gewinnt auch das erste Dogma, dem unser Studium sich hingibt und das noch unbestrittenen Raum zur Ausbreitung in unserm Geist findet, uns so oft zu seinen Anhängern; darum übt das Gegenwärtige, bloss weil es ein solches ist, eine psychologische Kraft, die über seine objektive Bedeutung oft weit hinausreicht.

 

Denn das Sein oder die Wahrheit ist auch nur ein Verhältnisbegriff, d. h. die Majorität der mit einander zusammenhängenden und übereinstimmenden Bewusstseinsinhalte nennen wir Wahrheit, gegenüber der Minorität, und wiederholen damit im Individuellen das schon sonst ausgesprochene Verhältnis, dass Wahrheit die Vorstellung der Gattung, Irrtum aber die schlechthin individuelle Vorstellung wäre.

 

Wenn also die Enge des Bewusstseins es verhindert, dass sich neben eine sehr mächtige Vorstellung noch andere setzen, wenn an Stelle eines vollkommenen Weltbildes, an dem sich die Kraft, d. h. hier: die Wahrheit einer Vorstellung erst zu messen hätte, nur diese letztere allein unsern Geist ausfüllt, so ist sie eben für uns wahr, weil kein ihr überlegenes Kriterium vorhanden ist.

 

So wenig cogito ergo sum ein Schluss ist, der von einer vorher gesetzten Beziehung zwischen Denken und Sein abhängig wäre, so wenig stammt der Glaube an die Realität jedes Phantasmas, den wir auf den niedrigen Denkstufen finden, aus einem bewussten oder unbewussten Schlusse: cogitatur ergo est.

 

Da vielmehr die Zweiheit: Denken und Sein, noch gar nicht als solche aufgetaucht ist, so findet kein Prozess der psychologischen Überführung von jenem in dieses statt, sondern für den ganz unerfahrenen Geist ist das eine unmittelbar das andere, oder vielmehr keines von beiden, sondern der reine sachliche Inhalt der Vorstellung übt auch die psychologischen Wirkungen, die bei differenzierterem Vorstellen nur den mit dem Zeichen der Realität versehenen Inhalten zukommen.

 

Es werden ausschliesslich praktische Veranlassungen sein, die dann zwischen Denken und Sein scheiden lehren.

 

Wenn die Handlungsweisen, die von gewissen Vorstellungen ausgingen, den gehofften Erfolg nicht erzielten, so wird sich mit diesen Vorstellungen ein anderes Gefühl psychologisch assoziieren, als mit anderen, auf Grund deren man seine Zwecke erreichte.

 

Nicht die Kategorie eines Seins liegt zu Grunde, in welche auf solche Erfahrungen hin die Vorstellungen eingereiht oder von der sie ausgeschlossen würden; sondern begreiflicher erscheint der Vorgang so, dass sich auf Grund praktischer Erfahrungen von Täuschung und Befriedigung eine Differenzierung innerhalb der Vorstellungen bildet, deren einer Teil dann die Wirklichkeitsvorstellung, der andere blosse Idee genannt wird; oder vielmehr mangels der Klarheit darüber, dass im letzten Grunde ja auch die Wirklichkeit nur Vorstellung ist, heisst der eine Teil der Vorstellungen schliesslich das Sein schlechthin, der andere das Denken.

 

Das Sein ist freilich keine Eigenschaft der Dinge, denn damit sie überhaupt eine Eigenschaft zeigen können, müssen sie schon sein; dagegen kann man es als eine Eigenschaft der Vorstellungen bezeichnen; indem wir einer Vorstellung das Sein zusprechen, drücken wir damit das Vorhandensein gewisser Beziehungen derselben zu unserm Empfinden und Handeln aus.

 

Die Realität ist etwas, was zu den Vorstellungen psychologisch hinzukommt, aber nicht ursprünglich irgendwie an ihnen haftet; es ist erst Sache späterer Entscheidung, ob wir einer Vorstellung das Sein zusprechen oder sie als blosse, vielleicht irrende Vorstellung betrachten, während sie bei ihrem Auftauchen einen Indifferenzzustand zwischen beiden darstellt; der blosse Inhalt der Vorstellung, der zunächst das Bewusstsein füllt, lässt es noch zweifelhaft, unter welche von beiden Kategorien er gehöre.

 

Aber auch für den Geist, der über die Zweiheit derselben vollkommene Klarheit erreicht hat und gerade für ihn steht der sachliche Inhalt der auftauchenden Vorstellung noch immer am Scheidewege zwischen Sein und Nichtsein.

 

Sicherlich zwar ist die Hypothese falsch, nach der ein Schluss von der Wirkung auf die Ursache dazu gehörte, um von den blossen Bewusstseinstatsachen zur Vorstellung einer realen Welt zu kommen.

 

Das ist der alte Irrtum der Projektionslehre,...

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