In der psychologischen Forschung wurde versucht, das Entstehen von Aggressionen zu erklären. Im Wesentlichen kann man drei Erklärungsansätze unterscheiden.
In den triebtheoretischen Modellen wird “Aggression” als spontan-triebhaftes Geschehen interpretiert. S. Freuds psychoanalytische Deutung von Aggression durch die Annahme der Existenz eines Todestriebes wird heute von den meisten Psychoanalytikern als spekulativ angesehen.
Im Zusammenhang mit der Auffassung , dass das Entstehen von Aggressionen durch einen spezifischen Trieb zu erklären sei, wird unter anderem von “gekonnter” und “ungekonnter” Aggression (Mitscherlich 1969 b; Spitz 1969) gesprochen. “Gekonnte” oder “konstruktive” Aggression zeigt sich in einer “ziel- und sachgerechten Aktivität des Menschen” (Thalmann 1976, S. 27) und trägt zu seiner Selbstverwirklichung bei (vgl. Ammon 1973, S. 5). “Ungekonnte” oder “destruktive” Aggression zeigt sich in “sach- und zielungerechten, undifferenzierten Handlungen, also in sinnlosen Angriffen und Destruktion” (vgl. Thalmann 1976, S. 76).
Der Verhaltensforscher K. Lorenz definiert in seinem Buch “ Das sogenannte Böse” (1974, S. 7) “Aggression” als einen “auf den Artgenossen gerichteten Kampftrieb von Mensch und Tier” und sieht in ihr einen “lebens- und arterhaltenden Instinkt[1]. Für Lorenz ist aggressives Verhalten seinem Wesen nach ein “biologisch verankertes Instinktverhalten, das sich als relativ starr ablaufende Verhaltenssequenz, ausgelöst durch einen Schlüsselreiz, manifestiert” (Heinelt 1979, S. 35).
Da – im Gegensatz zu den meisten Tieren – bei den Menschen eine artspezifische Tötungshemmung weitgehend verloren gegangen ist, kann nach einem Aggressionsstau die Aggression aufgrund ihrer charakteristischen Spontaneität, mit der sie auftritt, gefährlich werden.
Möglichkeiten eines Umgangs mit Aggressionen liegen für K. Lorenz vor allem in einer Abreaktion an Ersatzobjekten (beispielsweise im Sport oder beim Holzhacken) und im Aufbau von Hemmungsmechanismen durch das persönliche Kennenlernen des “Gegners” (vgl. Lorenz 1974, S. 248).
Die Thesen von Lorenz werden häufig wegen der grundsätzlichen Problematik einer Übertragbarkeit von ethnologischen Erkenntnissen auf den Humanbereich kritisiert.
Wenn auch hinsichtlich des Umgangs mit Aggressionen eine erzieherische Einflussnahme von den meisten Triebtheoretikern nicht geleugnet wird, so spielen bei den triebtheoretischen Erklärungsmodellen pädagogische Gesichtspunkte eine untergeordnete Rolle.
Die Auffassung von K. Lorenz, den Aggressionsstau durch Abreagieren an Ersatzobjekten beseitigen zu können (z. B. durch körperliche Tätigkeiten), wird auch heute noch als Möglichkeit einer Aggressionsminderung angesehen.
Im Alltag ist häufig die Meinung zu hören, dass man Möglichkeiten schaffen soll, bei denen das angestaute aggressive Potenzial “abreagiert” werden kann. Man glaubt, damit zu verhindern, dass ein “gefährlicher Aggressionsstau” entstehen und zu einem Gewaltausbruch führen könnte. Eine solche “Kanalisation” der Aggressionen versucht man vor allem über sportliche Betätigungen und Wettkämpfe zu erreichen, bei denen genaue Spielregeln zu beachten sind, damit Verletzungen (Schädigungen) vermieden werden können.
Im Zusammenhang mit dem “Abreagieren von Aggressionen” spricht man unter anderem von “Dampf-ablassen”.
Sogar nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer sind der Auffassung, dass man am besten gegen die kindlichen Aggressionen angehen kann, indem man ihnen Gelegenheit gibt, diese ausleben zu lassen. Neben der Ermöglichung aggressiver Handlungen in spielerischer Form wird auch häufig angenommen, dass ein aggressionsmindernder Effekt unter anderem durch ein “Beobachten von Aggressionen” (beispielsweise in Filmen) erzielt würde; das Ausleben der Aggression in der Fantasie sei ebenfalls ein möglicher Weg.
Eigene aggressive Handlungen, “beobachtete Aggressionen” und Fantasieaggressionen können sich gegen den Provokateur, gegen andere Ziele (Personen oder Objekte) richten, oder sie sind als sogenannte “quasi-aggressive Aktivitäten” (z. B. Holzhacken) möglich (vgl. Nolting 1982, S. 121).
Diese Vorstellungen werden in der psychologischen Forschung mit “Katharsis-Hypothese” bezeichnet. Durch das Abreagieren soll es zu einer “reinigenden”, befreienden Wirkung kommen.
Eine solche Auffassung wurde von den Triebtheoretikern (Lorenz, Mitscherlich u. a.) vertreten. Aber auch die Anhänger der ursprünglichen “Frustrations-Aggressions-Hypothese” (Dollard und Mitarbeiter 1939) waren der Meinung, dass sich durch Frustrationen im Menschen ein Aggressionspotenzial anstaut, das nur “durch einen aggressiven Akt – möglichst gegen den Provokateur – wieder abgebaut werden kann (vgl. Nolting 1982, S. 121).
Neben der Erleichterung vom Aggressionsdruck schreibt man der Katharsis vor allem die Wirkung zu, dass sich die “Tendenz zu weiteren Aggressionen” vermindern würde (vgl. Nolting 1982, S. 121).
Man kann kritisieren, dass in triebtheoretischen Erklärungsansätzen der Mensch zu einem reinen Triebwesen reduziert wird; die große Bedeutung erzieherischer Möglichkeiten wird kaum in Erwägung gezogen.
Die Katharsis-Theorie wurde von den Triebtheoretikern (Lorenz u. a.) nicht durch Untersuchungen überprüft. Deshalb muss man diese Hypothese als das ansehen, was sie schon immer war: eine unbewiesene Annahme, die für die Gewinnung weiterer Erkenntnisse ein Hilfsmittel sein kann.
Wissenschaftlich überholte Theorien – sie stellen spekulative, nicht überprüfte Denkmodelle dar – bleiben recht häufig im Bewusstsein von Menschen haften. Die nicht brauchbare, ja gefährliche Lösungsstrategie des “Auslebens von Aggressionen” ist ein Paradebeispiel dafür. Deshalb erscheint das Eingehen auf Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Untersuchungen zur Katharsis-Hypothese bedeutungsvoll.
In der psychologischen Forschung wurden zu dieser Thematik gesicherte Erkenntnisse gewonnen.
Grundsätzliche Überlegungen zur Theorie einer Ableitung von Aggression hat G.W. Allport bereits 1954 angestellt. Er kritisiert die Annahme, dass ein Ermöglichen von Aggressionen zur allgemeinen Verminderung dieser beiträgt. Er schreibt (1971, S. 361 f.): “Wenn die Theorie der Ableitung richtig wäre, müssten wir innerhalb einer Nation in Kriegszeiten weniger Streitereien finden.” Er verweist auf die Tatsache, dass es in Kriegszeiten auch unter der Zivilbevölkerung viel häufiger zu Gewalttätigkeiten kommt als in Friedenszeiten.
Eine Untersuchung zur Frage, ob es durch ein “Ausleben” zu einer allgemeinen Senkung des Aggressionspotenzials kommt, hat S. Feshbach im Jahre 1956 über mehrere Wochen mit Kindern durchgeführt. Während den Kindern der Versuchsgruppe ein Spiel mit “aggressivem Spielzeug” (Soldaten etc.) ermöglicht wurde, erhielten die Kinder der Kontrollgruppe ein “neutrales Spielzeug” (Eisenbahn etc.). Die Untersuchungsergebnisse zeigten, dass die Kinder der Versuchsgruppe nicht nur im Spiel häufiger Aggressionen zeigten, sondern auch aggressive Handlungen gegen andere Kinder öfters ausgeführt wurden als in der Kontrollgruppe. Durch das Ausleben-lassen von Aggressionen wurde also kein Katharsiseffekt erzielt, sondern das allgemeine aggressive Verhalten wurde noch verstärkt (vgl. Feshbach 1956, S. 499 ff.).
C. A. Loew führte zur Hypothese der “Verminderung von Aggressionen durch Abreagieren” einen Versuch mit College-Studenten durch. Die Ergebnisse zeigten, dass das laute Aussprechen von aggressiven Wörtern keine kathartische Wirkung hatte, sondern danach ein “bestrafend-aggressives” Verhalten (in dem Versuch: Erteilung eines Elektroschocks) verstärkt wurde (vgl. Loew 1967, S. 335 ff.).
S. K. Mallick und B. R. McCandless benutzten bei ihrer Untersuchung mit neunjährigen Kindern ein aggressives Spiel. Die Spieler, die von einem Mitarbeiter bei einem Wettbewerb verärgert wurden, erhielten danach die Gelegenheit, auf ein Bild zu schießen, das dem Provokateur glich. Auch hier konnte danach keine kathartische Wirkung festgestellt werden (vgl. Mallick/McCandless 1966, S. 591 ff.).
Auch bei den Versuchen über das “Beobachten von Aggressionen” konnte die Theorie des “Abreagierens von Aggressionen” nicht bestätigt werden. Aggressive Modelle wirkten sich nicht vermindernd, sondern stimulierend auf das weitere aggressive Verhalten aus (Lernen am Modell).
Dass es bei Kindergartenkindern durch aggressive Modelle (Vorbilder) nicht zur Verminderung, sondern zur Aktivierung aggressiver Verhaltensweisen kommt, haben u. a. A. Bandura und D. Ross/S. Ross 1961 nachgewiesen. Die Kinder der Versuchsgruppe (sie bekamen ein aggressives Modell zu sehen) zeigten im Gegensatz zu den Kindern in der Kontrollgruppe (diese bekamen ein nicht aggressives Modell zu sehen) in der...