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Europäische Ungastlichkeit und 'identitäre' Vorstellungen

Fremdheit, Flucht und Heimatlosigkeit als Herausforderungen des Politischen

AutorBurkhard Liebsch
VerlagFelix Meiner Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl346 Seiten
ISBN9783787336906
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Die Weltkriege haben das alte Europa zu einer ungastlichen Sphäre gemacht, in der jeder jederzeit zum Flüchtling werden konnte. So ist es im Prinzip bis heute, auch wenn die äußeren Umstände diesen Eindruck nicht erwecken mögen. Muss man daran erinnern, dass die atomare Bedrohung nach wie vor virulent ist? Wer so bedroht ist, kann sich allenfalls in einer fadenscheinigen Sicherheit wähnen, müsste aber wissen, dass jeder nur dank anderer davor bewahrt werden kann, in die Flucht geschlagen zu werden, und nur dank anderer gegebenenfalls anderswo Aufnahme finden wird. Jeder lebt sozial und politisch nur dank anderer, die ihm/ihr bis auf weiteres eine Bleibe eingeräumt haben, sei es unter Brücken, sei es in Notunterkünften, sei es zur Miete oder in legalisiertem Eigentum. Und jede(r) kann als von anderen so oder so Aufgenommene(r) grundsätzlich jederzeit vertrieben werden. An dieser Erfahrung kommt Europa in seiner Geschichtlichkeit nicht vorbei. Entweder es verhält sich ?offen? dazu oder es verschanzt sich ?identitär? in historischer Ignoranz - nicht nur jetzt begegnenden Flüchtlingen, sondern auch sich selbst gegenüber. Für ein Europa, das den Anspruch erhebt, sich nicht-ignorant zu seiner eigenen Gewaltgeschichte zu verhalten, kann die Frage nur lauten, wie (nicht ob) die fragliche ?Offenheit? Gestalt annehmen soll. Keineswegs ist diese Offenheit aber nur eine ?auswärtige? Angelegenheit Fremden gegenüber. Sie müsste vielmehr jedem zugute kommen können, der den Anspruch erhebt, gehört zu werden. Daran erinnern gegenwärtig Marginalisierte, zahllose prekär Lebende und sogenannte »Überflüssige«, deren oft selbstgerechte und anti-politische Empörung allerdings eine eminente Herausforderung für das Politische darstellt.

Burkhard Liebsch lehrt als apl. Professor praktische Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Zuletzt hat er veröffentlicht: »Einander ausgesetzt. Der Andere und das Soziale« (zwei Bände, 2018) und (als Herausgeber) »Sensibilität der Gegenwart. Wahrnehmung, Ethik und politische Sensibilisierung im Kontext westlicher Gewaltgeschichte« (Sonderheft 17 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 2018).

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Leseprobe

KAPITEL I


Europa im Zeichen der Gastlichkeit


Angefeindet von innen und außen


Mit »Haus und Hof« beginnt die

europäische Geschichte.

Ferdinand Seibt1

Es häufen sich Anzeichen für ein

neues Unbehaustsein.

Vilém Flusser2

1. Europa zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft


Unzählige Male ist gefragt worden, was Europa ist – wenn nicht bloß ein gewisser Kontinent oder eine höchst mangelhaft legitimierte, bürokratisch verselbständigte und weitgehend intransparente institutionelle Realität, die den weitaus meisten Europäern offenbar nur als eine ferne Schimäre vorkommt. Das gilt gewiss ganz besonders für die Bevölkerungen nicht nur ökonomisch vielfach vernachlässigter Staaten Osteuropas, ob es sich nun um Mitglieder der EU wie Bulgarien, um bislang assoziierte Anwärter auf Vollmitgliedschaft wie Montenegro und Serbien oder um Nachbarn mit vorläufig unklarer Beitrittsperspektive wie Moldawien handelt. Auch in den rechtlich voll integrierten EU-Staaten erweckt Europa allzu oft den Eindruck eines Trugbildes. Behaupten nicht gerade diejenigen im Namen Europas handeln zu dürfen, deren Verbindung zur gelebten Realität, für die dieser Begriff doch auch stehen müsste, am allerwenigsten überzeugt? Die TTIP-Geheimverhandlungen waren dafür nur das bezeichnendste Beispiel. Wie konnten diejenigen, die sie führten, vergessen, dass ihre kaum mehr zu überbietende, undemokratische Distanz zur gelebten Realität der Europäer ein eklatantes Legitimationsproblem heraufbeschwören muss? Wie konnten sie derart fahrlässig das politische Prinzip aufgeklärter Publizität ignorieren? Die absehbare Folge wiederholter Erfahrungen dieser Art ist, dass man Europa paradoxerweise gerade dort lokalisiert, wo man es mit Akteuren zu tun hat, die sich von Europa weitestgehend entfremdet zu haben scheinen, obwohl sie in seinem Namen handeln. Europa wäre demnach vor allem dort, wo man es versäumt bzw. vergisst, sich davon Rechenschaft abzulegen, was es eigentlich ausmacht, wo man sogar dieses Vergessen in Vergessenheit fallen lässt und dessen ungeachtet im Namen Europas handelt.

Doch einem solchen Vergessen des Vergessens kann man nicht einfach eine europäische Realität entgegenhalten, die ausmachen würde, was Europa wirklich ist. Auf diese Was-Frage war bislang keine befriedigende Antwort zu finden. Deshalb wich man in die Geschichte aus und fragte sich, seit wann es Europa gibt. Weitläufigen Diskussionen um diese Frage konnte die v. a. von Friedrich Nietzsche vorgebrachte rigorose Kritik solchen Ursprungsdenkens bislang wenig anhaben.3 Immer noch glaubt man, um Anachronismen weitgehend unbesorgt, bei Hesiod, bei Karl dem Großen, bei Dante Alighieri und seinem Zeitgenossen Pierre Dubois, in den Augsburger und westfälischen Friedensverträgen von 1555 und 1648, bei Friedensdenkern der frühen Aufklärung wie dem Herzog von Sully, bei William Penn und dem Abbé Castel de Saint-Pierre fündig zu werden.4 Dabei hat es sich längst herausgestellt, dass es »keine frühen Vorläufer« der politischen europäischen Einigungsbewegung des 20. Jahrhunderts gibt.5 Stößt man unabhängig davon aber nicht im Investiturstreit des späten 11. und des frühen 12. Jahrhunderts, in der Magna Charta (1215), im Habeas-Corpus-Act (1679) und in der Ideologie der Französischen Revolution von 1789 wenigstens auf moralische Ursprünge des Europäischen, so wie wir es heute als auf die Achtung der Menschenrechte verpflichtet vorfinden?6 Auch in diesem Fall müssen wir zurückfragen: Ist nicht die moralische Vorgeschichte dieser Rechte überhaupt nur nachträglich als deren Genealogie zum Vorschein gekommen? Hat man sich auf diese Rechte nicht erst zurückbesonnen, als radikale, extreme und exzessive Gewalt deren endgültige Negation heraufzubeschwören drohte?

Kritiker jenes Ursprungsdenkens weisen mit Rémi Brague in diesem Sinne auf die »Sekundarität« Europas hin. Demzufolge hat Europa ›ursprünglich‹ überhaupt nichts allein aus sich heraus. Immerfort hat es sich vielmehr durch nachträgliche Antworten herausgebildet, die ihm von woanders her abverlangt wurden: vom Alten und Neuen Testament, vom griechischen und römischen ›Erbe‹, durch die Konkurrenz weltlicher und religiöser Macht, die islamische Herausforderung und schließlich durch selbstdestruktive kollektive Gewalt.7 Durch kriegerische Gewaltverhältnisse wurde man auf dem europäischen Kontinent derart sich selbst fremd, dass man sich nach den großen Kriegen, die ihn wiederholt exzessiv verwüstet haben, fragen musste, was man angesichts dieser Gewalt überhaupt miteinander gemeinsam hat. Nichts, so schien es, wenn nicht wenigstens die Negation dieser Gewalt in dem unbedingten Willen, sich ihr niemals mehr widerstandslos hinzugeben und auszuliefern. Auch dieser minimale Wille ist aber in der Geschichte Europas, die sich nur aus mannigfaltigen Verflechtungen inkompossibler europäischer Geschichten zusammensetzt, nirgends als ›ursprünglicher‹ anzutreffen. Er hat sich vielmehr ebenfalls nur als nachträgliche Antwort auf eine Gewalt artikuliert, deren künftige Wiederholung man auszuschließen hoffte.8 So konnte sich die weder im Rekurs auf die Vergangenheit noch mit Blick die Gegenwart befriedigend beantwortbare Frage, was Europa ist oder war, auf die Bestimmung seiner Zukunft verlagern. Europa, das ist demnach genau das, was es erst werden soll. Kann bzw. darf sich Europa als ›Projekt‹ aber in seiner bloßen Zukünftigkeit erschöpfen? Wird es niemals darüber hinaus gelangen, Europa erst zu werden und auf diese Weise unaufhörlich nur auszustehen?9

Genüsslich weisen überzeugte Europa-Kritiker darauf hin, wie schlecht es um ein politisches Gebilde stehen muss, das allenfalls eine niemals verwirklichte Zukunft, aber gar keine unstrittige Geschichte oder Gegenwart hat. Angesichts immer neuer Krisen meinen sie denn auch für den Fall, dass man sich nicht auf ein verbindliches ›Erbe‹ einigen sollte, jederzeit das Ende Europas sich abzeichnen zu sehen, während andere ein Leben im Krisenmodus für ganz normal halten und davor warnen, immerzu Europas früher oder später unvermeidlichen Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten oder seinen baldigen Zusammenbruch herbeizureden. In Anbetracht dieser verworrenen Diskussionslage erscheint es als bloß frommer Wunsch, im Fragen nach dem Ursprung, nach der Gegenwart und nach der Zukunft Europas Einigkeit erzielen zu wollen.

Der Phänomenologe Edmund Husserl, der noch im nazistisch beherrschten Freiburg der 1930er Jahre, wo sich sein ehemaliger Schüler Martin Heidegger den »Herrenmenschen« andiente, unverdrossen die anzustrebende Europäisierung Europas beschrieben hat, insistierte dagegen darauf, dass alle drei Fragen, die nach dem Ursprung, nach der Gegenwart und nach der Zukunft Europas, nur auf einmal zu beantworten seien. Im griechischen Vernunftdenken meinte er den Ursprung Europas und dessen weiterhin unangefochten wirksamen teleologischen Sinn seiner künftigen Verwirklichung erkennen zu können. Europa konnte für ihn nichts anderes sein als ein ständiges Vernunft-Werden und in diesem Sinne ein fortwährender, allenfalls vorübergehend aufzuhaltender, aber niemals wirklich abzubrechender Prozess der Europäisierung – inklusive aller »fremden Menschheiten«, die seiner Meinung nach nur dem von Europa vorgezeichneten Weg nachfolgen konnten, so dass sich schließlich deren Schein-Pluralität genauso wie eine spezielle Identität der Europäer in einer universalen Menschheit auflösen müsste.10

Während die Vernichtungspolitik der Nazis schon ihren Lauf nimmt, verficht dieser deutsche Jude einen Vernunft-Optimismus, der im integralen Zusammenschluss des Ursprungs, der Gegenwart und der Zukunft Europas keinen Gedanken an ein Scheitern aufkommen lässt, das wenige Jahre später, spätestens 1945, nicht länger zu leugnen war. Die düsteren Prophezeiungen August Bebels, Friedrich Engels’ und Helmuth v. Moltkes, die schon Ende des 19. Jahrhunderts in diese Richtung gewiesen hatten, hat Husserl scheinbar nicht wahrgenommen.11 Und ungeachtet seiner am eigenen Leib erfahrenen Diskriminierung als Jude glaubte er wie schon Hegel unbeirrt an die Kraft einer jeden Untergang überlebenden Vernunft12, deren Verwirklichung sich weder von der Kürze individuellen Lebens noch von Gründen millionenfachen Umkommens aufhalten lässt.

Für Husserl war Europa von Anfang an definiert durch die ihm...

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