Mit dem Begriff des Freien Theaters bezeichnet man nicht so sehr eine einheitliche Stilrichtung, sondern eher einen programmatischen Anspruch an das Theater, bei dem die Erfahrungsmomente der Theaterarbeit im Mittelpunkt stehen. Daher spricht man auch vom „Theater der Erfahrungen“. Ein wichtiges Merkmal dieser Theaterform ist, dass es sich außerhalb von herkömmlichen konventionellen Systemen organisiert und bewusst die dortigen institutionellen Arbeitsformen und hierarchischen Geschäftsprinzipien ablehnt.[21] Im Gegensatz zu klassischem „Schauspieler-Theater“, bei dem die Auseinandersetzung mit einer literarischen Vorlage im Mittelpunkt steht, ist die Ästhetik des Freien Theaters weniger über die literarische Rollenvermittlung bestimmt, als durch das Darstellen und Ausleben von Körperlichkeit und Emotionalität.[22]
Im Folgenden soll Aufschluss darüber gegeben werden, inwiefern sich diese Form theoretisch in das Grundsystem theaterspezifischer Semiotik einfügt und mit welchen Mitteln Handlungen oder Ausdrücke transportiert werden. Denn auch wenn Freies Theater den Anspruch besitzt, vom Leben durchdrungen zu werden, so ist die Wirklichkeit der Vorführung dennoch von gewissen Regeln bestimmt, die grundsätzlich für alle Inszenierungen und „cultural performances“ gelten und somit im nächsten Kapitel näher betrachtet werden.
Ein theatraler Prozess findet immer dann statt, wenn eine Person Handlungen vorführt, bei der eine andere Person zuschaut und sich beide Personen dabei ihrer Rolle als jeweils Vorführender und Zuschauender bewusst sind. Diese rudimentäre Bestimmung gilt für alle Theaterformen, sei es für rituelles Theater, theatrale Formen asiatischer Kulturen, europäisches Sprechtheater, episches Theater, Experimentaltheater, Tanz- oder Musiktheater und paratheatrale Formen wie dem Varieté, Happenings oder Zirkus. Theater ist somit ein Kommunikationsprozess, der mit Hilfe von Zeichen theatrales Geschehen umsetzt. Die Zeichen können ganz unterschiedlicher Ausprägung sein. Neben der Sprache dienen Mimik und Gestik, Bewegung, Musik, Geräusche, Licht und viele andere Methoden der Effektgestaltung.[23] All diese Zeichen rekrutieren sich aus ihren jeweiligen kulturellen Systemen. Die Semiotik der Theaterwissenschaft steht somit in einem engen Zusammenhang und einem Wechselverhältnis mit historischen, ästhetischen, kommunikativen und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen.[24] Für die Theaterpraxis bedeutet dies eine Öffnung und einen Zugang zu sämtlichen Darstellungsformen, bei denen in ihrer Umsetzung und Aufführung keine kategorischen Grenzen gesetzt sind.
Grundsätzlich müssen sich Zuschauer und Vorführer darüber einig sein, dass die dargestellte Handlung ein Spiel ist, dieses Spiel aber von beiden Beteiligten Ernst genommen wird. Dieses konstitutive Moment der Theatersituation vermag es, dem Spieler Freiräume zu geben, in denen er der Zuschauerpartei ernsthaft den gesellschaftlichen moralischen Konsens provokant und transzendiert darstellt, sie gleichzeitig mit ihren Ängsten, Träumen, einem alternativen Gegenentwurf des Lebens konfrontiert.[25] Der Spielcharakter des Theaters ermöglicht Situationen darzustellen, die der Traum- und Phantasiewelt entstammen.
„Die in den inneren Enklaven von Traum und Phantasie und in der ästhetischen Enklave Theater zugelassenen Symbolsysteme vermögen komplexere, die Tiefenstruktur der Subjekte bestimmende Sinngehalte in die Anschaulichkeit szenischer Situationen weiterzuleiten und damit der Erfahrung (als Traumerfahrung oder ästhetische Erfahrung) zugänglicher zu machen, als es in den restriktiven Verkehrsformen des Alltags und den dort zur Verfügung stehenden Ausdrucksformen der Fall ist.“[26]
Theater ist ein aktuelles authentisches Ereignis, bei dem die Gegenwärtigkeit und die Unwiederholbarkeit, also die räumlich-zeitliche Einheit ganz entscheidend ist. Grundsätzlich wird Theater von Körperlichkeit getragen. Der menschliche Körper produziert in seiner Komplexität die Ausdrucksmöglichkeiten und Fähigkeiten, geht Beziehungen ein, setzt Zeichen, um den Spieler im leeren Raum präsent werden zu lassen und seinen Handlungen Bedeutungen zuzuweisen. Theater ist demnach in erster Linie Körperkunst.[27]
Die künstlerischen Entwicklungen ließen den Blick der Theatertheorien vermehrt auf die Grenzgebiete des herkömmlichen abendländischen Theaters richten. Neben zunehmenden interdisziplinären Betrachtungen in den Geisteswissenschaften haben veränderte Theaterformen wie die Happening-Bewegung in den 50er Jahren aber auch ältere paratheatrale Erscheinungsformen wie der Zirkus oder die Revue die Aufmerksamkeit von Theatertheoretikern und –praktikern auf sich gezogen und zu Untersuchungen angeregt.[28] Insbesondere sei dabei auf die Ausführungen zur Semiotik im Zirkus von Paul Bouissac[29] verwiesen, auf die an späterer Stelle noch ausführlicher eingegangen wird.
Geprägt durch Industrialisierung und technischen Fortschritt gestaltete sich auch die Entwicklung des kulturellen Lebens im 20. Jahrhundert in analog akzelerierter Form. Mit den Begriffen wie kulturrevolutionäre Bewegungen und das Aufkommen einer Massenkultur werden die ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts charakterisiert. In diesen Jahren haben Überlegungen der Futuristen, Dadaisten, Expressionisten und Surrealisten auf künstlerischer Ebene zu den veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten Stellung und Position bezogen. Dies hatte Auswirkungen auf die bildenden und darstellenden Künste.
Mit Bertolt Brecht, dessen episches Theater im Mittelpunkt seines theoretischen Werks steht, der sich für ein politisch-aufklärerisches Theater einsetzte, bildete sich einer der beiden Pole des modernen Theaters. Bei ihm stehen Vernunft, Verbesserung der Menschen und politische Ziele im Vordergrund. Für die vorliegende Arbeit steht sein Schaffen jedoch nicht im Mittelpunkt der Untersuchungen und seinem Namen soll mit dieser Erwähnung Genugtuung getan sein. Den anderen Pol und einen ähnlich starken Einfluss auf das Gegenwartstheater stellt Antonin Artaud dar, der mit seinen Überlegungen zu dem Schluss kommt, dass jede Form der Darstellung und Nachahmung, somit auch das Literaturtheater abzulehnen sei. Artaud gilt als geistiger Kopf des surrealistischen Theaters. In den 60er Jahren mit Entstehung der Performances wurden seine Schriften als theoretische Grundlage für die Schaffung von neuen Theaterformen genutzt.
Der Höhepunkt der Auseinandersetzung mit neuen theatralischen Formen ist in den 60er Jahren zu finden, eine Zeit die durch gesellschaftskritische Protestbewegungen gekennzeichnet ist. Die Theaterentwicklung dieser Jahre ist von den Ideen der Bewegung getragen und kann als kulturrevolutionäre Manifestation verstanden werden.[30] Als Vorreiter der Avantgarde Bewegung beim Theater dieser Jahre gilt Artaud.
Vom ersten Weltkrieg enttäuscht und ernüchtert, schlossen sich zahlreiche Künstler, die stark von futuristischen Ideen geprägt waren, zu DADA zusammen.[31] All jene, die sich mit DADA identifizierten, strebten eine Auflösung der einzelnen Kunstfelder an, um diese gegenseitig durchdringen zu können. Einzelne Kunstgattungen sollten somit Teil eines „Gesamtkunstwerkes“ werden.[32] Die dabei verwandte Methodik war eine experimentelle Formfindung zu neuen Kunstausdrücken. Man traf sich in Kabaretts und kleinen Aufführungsorten, wo es darum ging, Vorgetragenes mit unterschiedlichsten Mitteln von konventionellen Methoden abzuheben. Dabei bediente man sich einer Mischung aus Geräuschen und Klängen, die mit herkömmlichen Hörgewohnheiten brach, benutzte Masken und Kostüme. Die Absurditität des Dargestellten wurde durch den Einsatz der Masken unterstrichen. Die Maske steht als Symbol des nichtmenschlichen, überlebensgroßen Charakters, die die paralysierenden Hintergründe der Dinge sichtbar machte und somit den „Bankrott der Ideen des Menschenbildes“[33] aufzuzeigen vermochte. Es entstand ein „Theater der Überraschungen“, das nicht das Logisch-Gedankliche einer literarischen Vorlage transportieren wollte, sondern die aus Wortgeräuschen entstehende Wirkung beabsichtigte.[34] Das Publikum sollte provoziert und angeregt werden. Es galt Passivität in jeder Lebenslage auszuschalten. DADA wollte die Trennung zwischen Kunst und Leben aufheben. Ein Element zur Erneuerung des Theaters sahen die Dadaisten durch die Integration von theaterähnlichen Elementen wie dem Varieté oder Zirkus. Die Öffnung hin zu begrenzten Darstellungsformen in festgefügten Raum– und Zeitdimensionen sollte somit erreicht werden.[35] Die von DADA ausgehenden Impulse drangen in die nachfolgenden Jahrzehnte und kommenden kulturellen Strömungen. DADA wandte sich gegen Wertevorstellungen der bürgerlich-ästhetischen Gesellschaft, in der die Tiefen der Seele unterdrückt werden. DADA...