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Gebrauchsanweisung für England

13. aktualisierte Auflage 2017

AutorHeinz Ohff
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783492972130
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
England ist anders. Schon immer gewesen. Man fährt notorisch links, trägt in Gerichtssälen immer noch Perücken und verehrt zu Beginn des 21. Jahrhunderts wie in alten Tagen eine Königin. Von jeher messen, wiegen und berechnen die Briten anders als andere Europäer. Mit britisch trockenem Humor führt Heinz Ohff in alle Absonderlichkeiten des Königreichs ein.

Heinz Ohff, geboren 1922, gestorben 2006, war von 1961 bis 1987 Feuilletonchef des Berliner Tagesspiegel. Von ihm liegen zahlreiche Biographien vor, unter anderem über Königin Luise von Preußen, Karl Friedrich Schinkel, Fürst Pückler-Muskau, Theodor Fontane und die Könige Preußens sowie die 'Gebrauchsanweisung für England' und die 'Gebrauchsanweisung für Schottland'. Der Autor lebte in Berlin und Cornwall.

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Leseprobe

Der gemäßigte Anglozentrismus

Dabei haben die Engländer den Tourismus erfunden, den wir heute doch alle begeistert ausüben. Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts waren sie das einzige Volk, das planmäßig reiste. Routen, Verkehrsmittel, Herbergen, Hotels, sogar Speisekarten blieben lange Zeit auf englische Bedürfnisse zugeschnitten.

In ihren auffallend großkarierten Reiseplaids, mit den zweischirmigen Mützen und dem unvermeidlich mitgeführten ausziehbaren Fernrohr – angeblich einer Erfindung Admiral Nelsons – bildeten sie, umgeben von unzähligen Gepäckstücken, Seekisten und Kindern, die wie kleine Erwachsene aussahen, so etwas wie eine eigene Gesellschaft mit eigenen Sitten.

Man belächelte die ewig reisenden Engländer zwar, wohin sie auch kamen. Aber die Orte, in die es sie trieb – in Frankreich, Holland, Italien, der Schweiz, am Rhein vor allem –, profitierten von ihrer verrückten Reiselust. Bald begann man sie zu locken und zu umwerben. Sie wurden auch beneidet. Wer reist, dem gehört die Welt.

Das konnte man bei den Engländern wörtlich nehmen. Ihrer Reiselust verdankten sie, schon ehe der Tourismus einsetzte, wenn nicht die ganze, so doch die halbe Welt. Ihre Reisen waren zunächst Expeditionen, und ihre Expeditionen wurden Eroberungszüge, aus denen eben jenes Empire entstand, das nach dem Zweiten Weltkrieg zerfallen ist.

Obwohl sie dadurch weltläufiger wurden als andere Nationen, hat diese Tatsache die Engländer in ihrem Inselfestungsdenken nur noch bestärkt. Einen Engländer erkennt man bis heute überall sofort, wie einem Leserbrief zu entnehmen, den ich einmal in der Times fand und in dem ein Mr. Roger Musgrave berichtete: »Ausgestattet mit einem italienischen Anzug, einem Schweizer Hemd, französischem Schlips und braungebrannt von adriatischer Sonne, bahnte ich mir einen Weg durch die kosmopolitische Menge und reichte dem Verkäufer, ohne ein Wort zu sagen, meine Auswahl aus seinen Postkarten. Sofort sagte er (auf englisch): ›Six hundred lire, please.›«

Weshalb reist der Mensch überhaupt?

Weil die Neugier ihn treibt und er sich, wahrscheinlich, nirgends so recht zu Hause fühlt. Seine Spanne auf Erden ist relativ kurz bemessen; irgendwo wartet schon ein endgültiger Ruheplatz auf ihn. Wer etwas von dieser Erde kennenlernen will, hat kaum Zeit zu verlieren.

Es gibt noch einen dritten Grund, den man mit einem Sprichwort umschreiben könnte, das fast alle Sprachen kennen: Das Gras auf der anderen Seite des Zauns ist immer grüner als das auf der eigenen Seite. Dort, wo man selbst lebt, ist es entweder zu kalt, mitunter auch zu heiß, zu regnerisch, zu trocken, zu wechselhaft oder nicht wechselhaft genug. Den meisten Menschen geht es wie Alfred Polgar, der »überall a bisserl ungern« war. Was spricht jener englische Mister Pief bei Wilhelm Busch? »Warum soll ich nicht beim Gehen – sprach er – in die Ferne sehen?« Dabei entfaltet er sein Nelson-Perspektiv, denn »schön ist es auch anderswo, und hier bin ich sowieso«.

Genauer gesagt: Man unterschätzt stets das, was man hat, und überschätzt, was man nicht hat. Auch die Engländer haben lange ihr eigenes Land unterschätzt, worüber sich schon deutsch-englische Maler wie Philip de Loutherbourg und frühe preußische Reisende wie Fürst Pückler, Karl Friedrich Schinkel und Theodor Fontane höchst verwundert zeigten. Das war Mitte des 19. Jahrhunderts und ist dann beträchtlich umgeschlagen. Die englische Landschaft jedenfalls war und ist heute noch so schön, so abwechslungsreich, so grün, so reich an Überraschungen und dabei so leicht erreichbar wie kaum eine andere. Es mußte schon erstaunen, warum den reichen britischen Touristen einst das eigene Land so wenig anziehend vorkam, weshalb ihnen die Blaue Grotte oder Teneriffa reizvoller erschienen als der Lake District oder die aufregende Felsenküste von Wales.

Es hat auch dies mit dem Kanal zu tun, den man überqueren muß, wenn man vom Kontinent auf die Britischen Inseln gelangen will und umgekehrt.

Der Reiseverkehr war immer größer von den Britischen Inseln zum Kontinent. Daß England, daß Großbritannien ein vorzügliches und abwechslungsreiches Reiseland ist, scheint in Vergessenheit geraten.

Vor 150 Jahren war das anders. Da mußte nach England fahren, wer etwas von der nachhaltigsten Revolution mitbekommen wollte, die je die Welt verändert hat, die industrielle. England war das Ursprungsland alles damals Modernen, von Maschinen, Fabriken, Eisenbahnen, mechanischem Werkzeug, Dampfschiffahrt, Zentralheizung bis zum simplen Wasserhahn, den noch ein nicht unverwöhnter deutscher Reisender, der Fürst Pückler, angestaunt hat. Man sah verblüfft all die vielen Bequemlichkeiten und auch schon Überflüssigkeiten, die dort – wenn auch noch nicht am laufenden Band, einer amerikanischen Erfindung Henry Fords – erzeugt wurden. Und man bewunderte dann neben der modernen Technik auch Land und Leute.

Aus Hunderten von Berichten, die Reisende nahezu aller europäischen Nationen hinterließen, spricht diese Wertschätzung. England schien den Kontinentaleuropäern sauberer, fortschrittlicher, komfortabler eingerichtet und trotzdem individueller als andere Länder. Nikolai Karamsin, in seinen Briefen eines russischen Reisenden: »Diese unbegrenzte Freiheit, zu leben wie man will, wenn es nur dem Wohle anderer nicht hinderlich ist, bringt in England eine Menge selbständiger Charaktere hervor und ist eine reiche Quelle für Romanschreiber.«

Und weiter: »Die übrigen Länder Europas gleichen regulären Gärten, wo ein Baum so groß ist wie der andere, wo die Wege gerade sind und wo in allen Stücken Einförmigkeit herrscht. Die Engländer hingegen wachsen, im moralischen Sinne, wie wilde Eichen empor. Sie sind zwar alle von einem Stamme; aber dabei alle verschieden.«

Tatsächlich waren Untertanengeist und Leibeigenschaft in Großbritannien längst beseitigt, als es auf dem Kontinent noch Bauernkriege gab und als Stein und Hardenberg Anfang des 19. Jahrhunderts in Preußen ihre Reformen durchsetzen konnten. Seit der Bauernrevolte 1381 gab es in England zwar soziales Unrecht und Elend genug, aber keine direkte Abhängigkeit mehr. Das System der Arbeitsgruppen, von den Bergleuten in Cornwall eingeführt, sorgte auch in industriellen Bereichen für individuelle Freiheit und Unabhängigkeit: Man arbeitete in Teams und verdingte sich bei den Unternehmern, die am meisten boten, eine frühe Vorstufe der Gewerkschaften.

Fünfzig Jahre später, Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, fuhr man dann eher nach Schottland. Zum ersten fand sich dort noch ursprüngliches Landleben in unverdorbener Natur, und zum zweiten sorgte der Bestseller aller bestsellernden Autoren, Sir Walter Scott, mit seinen Romanen für eine weltweite Reisewerbung.

Aber ob England oder Schottland: Besucht wurde das Vereinigte Königreich, dessen Sauberkeit, Effizienz und Individualismus man schätzte und zum Vorbild nahm; das wuchs, blühte, gedieh, ohne jenen Kadavergehorsam zu verlangen, den die Obrigkeit selbst in Ländern alter Kultur und Zivilisation – Frankreich, Deutschland, Rußland – von seinen Untertanen fordern zu müssen glaubte.

Kadavergehorsam wird man noch heute in England schwerlich auftreiben. Aber seit, wie der Politiker und Autor Jeffrey Archer in seinem Roman Es ist nicht alles Gold, was glänzt den amerikanischen Geschäftsmann Harvey sagen läßt, die Engländer nach dem Zweiten Weltkrieg sich aus ihrem Weltreich in einer Weise abgesetzt haben, »wie es keinem amerikanischen Geschäftsmann einfallen würde, sich aus seinem Vorzimmer zurückzuziehen«, läßt auch die Effizienz zu wünschen übrig. »Harvey hatte oft überlegt, daß die Briten, brächten sie nur etwas frischen Wind in ihre Vorstandszimmer und etwas Ordnung in ihre Steuerstruktur, die reichste Nation der Welt sein könnten – und nicht, wie der ›Economist‹ einmal schrieb, eine Nation, die von den Arabern mit dem Ertrag aus zwei Monaten Ölförderung aufgekauft werden könnte. Die Briten erlaubten sich den Luxus, mit dem Sozialismus zu flirten und gleichzeitig an ihrer folie de grandeur festzuhalten, während es doch ganz danach aussah, als ob sie dazu verurteilt seien, in die Bedeutungslosigkeit abzusinken.«

Obwohl dieses Urteil einem amerikanischen Geschäftsmann in den Mund gelegt wird, hat es doch ein Engländer geschrieben, der weiß, was er sagt. Der Anglozentrismus hat gelitten.

Und auch die einst – unter anderem von Fürst Pückler und Schinkel – so hochgepriesene Reinlichkeit scheint mit dem Empire dahin. Was England betrifft, so kommt einem heute eher das Adjektiv »schlampig« in den Sinn. Selbst beim Besuch feinster Speiselokale sei geraten, nicht allzu genau auf die Sauberkeit des Fußbodens, der Tische, Teller und Bestecke zu achten. Auch hapert es zuweilen empfindlich an jener soliden Handwerklichkeit, für die das Land einst berühmt war und die für die erste industrielle Revolution sorgte. Mrs. Romberg, die deutsche Ehefrau eines englischen Richters, erzählte mir, daß sie nach Inspektion einer Wohnung, die sie in Bath erwerben wollten, gefragt habe: »Das Bad ist französischer Herkunft, der Fußbodenbelag stammt aus Deutschland, die Tapeten kommen aus Taiwan. Was ist hier englisch?« Die Antwort habe gelautet: The craftsmanship. – »Worauf ich nun gern verzichtet hätte«, wie Mrs. Romberg, durch langjährige Erfahrung geschult, seufzend hinzufügte.

Aber ein bißchen ist das wie mit dem englischen Wetter und dem englischen Essen. Beide sind besser als ihr Ruf. Für...

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