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E-Book

Geisterstunde

Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift

AutorKonrad Paul Liessmann
VerlagPaul Zsolnay Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783552057241
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Niemand weiß mehr, was Bildung bedeutet, aber alle fordern ihre Reform. Ein Markt hat sich etabliert, auf dem Bildungsforscher und -experten, Agenturen, Testinstitute, Lobbys und nicht zuletzt Bildungspolitiker ihr Unwesen treiben. Nach der 'Theorie der Unbildung' nun also ihre Praxis: Das, was sich aktuell in Klassenzimmern und Hörsälen, in Seminarräumen und Redaktionsstuben, in der virtuellen Welt und in der realen Politik abzeichnet, unterzieht Konrad Paul Liessmann einer scharfen Kritik. Hinter der Polemik steht ein ernstes Anliegen: der Bildung und dem Wissen wieder eine Chance zu geben.

Konrad Paul Liessmann, geboren 1953 in Villach, ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien; Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Er erhielt 2004 den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz im Denken und Handeln, 2010 den Donauland-Sachbuchpreis und 2016 den Paul Watzlawick-Ehrenring. Im Zsolnay Verlag gibt er die Reihe Philosophicum Lech heraus. Seine Theorie der Unbildung (2006) war ein großer Erfolg und wurde in viele Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen bei Zsolnay seine Bücher Das Universum der Dinge (2010), Lob der Grenze (2012) und Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift (2014) sowie im Carl Hanser Verlag gemeinsam mit Michael Köhlmeier Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam? Mythologisch-philosophische Verführungen (2016). Sein aktueller Essay-Band heißt Bildung als Provokation (2017).

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Leseprobe

2. DER BILDUNGSEXPERTE


Zur Psychopathologie eines Sozialcharakters

 

 

Es ist gespenstisch: Wann immer nationale Bildungssysteme auf dem Prüfstand stehen, Pisa-Ergebnisse veröffentlicht, der jährliche OECD-Bericht Education at a Glance (Bildung auf einen Blick) seine finsteren Prognosen für Deutschland und Österreich verkündet, die geringen Akademikerquoten beklagt und die Chancenungerechtigkeit der Schulen angeprangert werden, taucht er auf wie aus dem Nichts: der Bildungsexperte. Niemand weiß so genau, was ihn zum Experten macht, meistens handelt es sich um einen Absolventen eben jenes Bildungssystems, das er nun medienwirksam kritisiert, sein Hintergrund ist vielfältig, aber eines ist sicher: Er sorgt sich um die Bildung, und er weiß, was eigentlich zu tun wäre. In der Schweiz ist er ein gescheiterter privater Schulunternehmer, der pädagogische »Urbitten« verkündet, an denen alle genesen könnten; in Deutschland sind es ein erfolgreicher philosophischer Autor, der nicht länger zusehen kann, wie sein Kind in und an einem falschen Schulsystem leidet, sowie ein selbsternannter Hirnforscher, der weiß, dass jedes Kind hochbegabt ist; und in Österreich sind es ein pensionierter Landesschulratspräsident, der die Versäumnisse seiner aktiven Zeit als Bildungspolitiker nun publizistisch nachholt und in der Gesamtschule sein Heil sieht, sowie ein – so die Selbstauskunft – »Unternehmensberater, Bestsellerautor und kritischer Vordenker«.1 Was immer Peter Fratton, Richard David Precht, Gerald Hüther, Bernd Schilcher und Andreas Salcher auch voneinander unterscheidet, auf welch unterschiedlichen Bildungs- und Argumentationsniveaus sie sich auch bewegen mögen – eines ist ihnen gemeinsam, und dies kennzeichnet den Bildungsexperten überhaupt: die Überzeugung, dass das aktuelle Bildungssystem das denkbar schlechteste ist und dass nur eine grundlegende Bildungsrevolution die drohende Katastrophe abwenden kann. Der rhetorische Gestus des Bildungsexperten oszilliert dann auch zwischen apokalyptischer Warnung, drohend erhobenem Zeigefinger und frohlockender Euphorie angesichts der unglaublichen, aber verborgenen Ressourcen, die er in den Heranwachsenden schlummern sieht und die er mit einem Schlag zum Leben erwecken will.2

Die Bedeutung des Bildungsexperten liegt weniger in der Qualität seiner Expertise als in der medialen Aufmerksamkeit, die er genießt. Dadurch prägt er ganz wesentlich die öffentliche Stimmung und das Bild, das allenthalben von Schulen, Lehrern und Universitäten existiert. Mittelbar beeinflusst er so auch die Politik, die er gleichzeitig verachtet, da er sie letztlich für jene Bildungsmisere verantwortlich macht, gegen die er seinen heroischen Kampf führt. Das hindert ihn natürlich nicht, als Berater für Bildungspolitiker, Ministerien und Regierungen zu fungieren. Das kann auch zu unfreiwilligen Pointen führen – so etwa, wenn der ehemalige Politiker Bernd Schilcher seinem bildungspolitischen Pamphlet Bildung nervt den markigen Untertitel »Warum unsere Kinder den Politikern egal sind« verleiht, in seiner Danksagung am Ende des Buches – zeitgeistig »Acknowledgments« genannt – aber nahezu alle Bildungspolitiker der letzten Jahre – Ministerinnen und Landeshauptleute, Stadtschulräte und Schuldirektoren – über den grünen Klee lobt, sich seiner Freundschaften mit diesen rühmt und weinerlich das Glück beschwört, das ihm erlaubte, eine große Anzahl solch »beeindruckender Persönlichkeiten« kennen zu lernen.3 Seltsam, dieselben Politiker, denen angeblich unsere Kinder egal sind, sind wunderbare Menschen und erfüllt von edlen Bildungsmissionen. Irgendetwas stimmt da nicht. Nicht die Bildung nervt, sondern der Bildungsexperte.

Solche Ungereimtheiten produziert der Bildungsexperte am laufenden Band. Ein gutes Beispiel dafür ist der Pisa-Test. Einerseits begrüßt der Bildungsexperte diese Tests, bestätigen sie ihn doch in seiner Ansicht, in der schlechtesten aller möglichen Bildungswelten zu leben. Dass Schulen nicht das leisten, was sie leisten sollen, dass sie gemessen am Output zu teuer sind, dass soziale Benachteiligungen durch das Bildungssystem nicht korrigiert, sondern verfestigt werden, dass differenzierte Schulsysteme deshalb von Übel und Gesamtschulen die Erlösung darstellen, dass man nach Finnland reisen muss, um zu wissen, was zu tun ist – all das weiß der Bildungsexperte dank Pisa. Zum anderen aber beschleicht ihn Unbehagen. Denn Pisa misst nur wenige Kompetenzen – das widerspricht seinem ganzheitlichen Menschenbild; Pisa berechnet durchschnittliche Leistungen –, das widerspricht der von ihm hochgehaltenen Individualisierung; Pisa verführt dazu, Unterricht nur mehr als Vorbereitung für diesen Test zu sehen – das widerspricht seinem Ideal selbstbestimmten Lernens; und Pisa steht eindeutig im Dienste des Wettbewerbs, auch wenn dieser überhaupt erst durch Pisa künstlich erzeugt wird – und beim Wettbewerb weiß der Bildungsexperte nicht, was er will: einerseits ja, denn wir müssen konkurrenzfähig bleiben; andererseits nein, denn es darf keine Bildungsverlierer geben. Dass es zur Logik jedes Wettbewerbs gehört, dass es Verlierer geben muss, ist seinem Verstand – um mit Kierkegaard zu sprechen – ein Ärgernis.4

Bei allen inhaltlichen Differenzen und inneren Widersprüchen: Es gibt einige markante Grundüberzeugungen, die die Bildungsexperten unserer Tage teilen. Fast alle sind gute Rousseauisten, das heißt, sie sind überzeugt davon, dass Neugeborene, Babys und Kleinkinder wunderbare, umfassend kompetente, mehrfach begabte, hochtalentierte und kreative Wesen sind, die allein durch ein antiquiertes Bildungssystem korrumpiert, gebrochen und zerstört werden. Das Kind mutiert zum Ur- und Vorbild des Humanen, der Schwärmerei über dessen Repertoire an unglaublichen Fähigkeiten sind denn auch keine Grenzen gesetzt: »Jedes Kind ist hochbegabt. Das eine für das, das andere für jenes, und kein Kind hat damit ein Problem. Wer damit ein Problem hat, das sind wir.«5 Einerseits wird – vielleicht nicht ganz zu Unrecht – beklagt, dass die Gesellschaft nur jene Talente schätzt und fördert, die gerade in der gegenwärtigen Welt besondere Anerkennung finden, und andere Begabungen wie die, »Weltmeister im Kirschkern-Weitspucken oder im Rückwärtslaufen zu werden«, nicht weiter gefördert werden,6 andererseits ist es wunderbarerweise so, dass diese Begabungen genau jene sind, die unsere Gesellschaft so dringend braucht, nämlich »Eigensinn, Kreativität, Querdenkertum und soziale Kompetenz«; alles Fähigkeiten, die angeblich von den »Personalchefs der großen, global operierenden Unternehmen« beachtet und gewünscht werden, allerdings nicht von den bornierten, kleinkarierten und provinziellen Schulen.7

Im »System Schule« zählt am Ende nur eines, nämlich »einen passablen Durchschnitt vorweisen zu können«. Und wer, wie angeblich alle Kinder, nach Höherem strebt, dem wird schnell beigebracht, »sich lieber am Mittelmaß zu orientieren«.8 In dieser Klage sind sich alle Bildungsexperten einig: »Die am höchsten bewertete Tugend im konventionellen deutschen Schulsystem ist Konformität […]. Ein hohes Maß an Kreativität und Eigensinn, sosehr es von einzelnen Lehrern geschätzt werden mag, ist weitgehend systeminkompatibel mit unseren Schulen.«9

Mit einem Wort: Schule ist eine gigantische »Talentvernichtungsindustrie«, und es ist völlig klar, dass wir uns diese schon aus rein ökonomischen Gründen nicht mehr leisten können.10 Die Zahlen und Statistiken, mit denen operiert wird, um solche Befunde zu untermauern, sind dann auch einigermaßen abenteuerlich. Bei Drei- bis Fünfjährigen, so versichern uns die Bildungsexperten, »beträgt« die »Kreativität« noch 98%, bei Acht- bis Zehnjährigen noch 34%, bei 14- bis 16-Jährigen gerade mal noch 10% und bei 25-Jährigen nur mehr 2%.11 Erwachsene, so können wir vermuten, sind dann zu null Prozent kreativ. Und es ist klar, dass die herkömmlichen Bildungseinrichtungen für diese Kreativitätsvernichtung verantwortlich sind, und dass wir alles tun müssen, um diese Kreativität zu erhalten. Der Bildungsexperte glaubt fest an jene »Unvermeidlichkeit des Kreativen«, die es nicht erlaubt, sich vorzustellen, dass es jemanden geben könnte, der weder kreativ ist noch kreativ sein will.12 Abgesehen davon, welcher Begriff von Kreativität hier verwendet und wie er gemessen wird, betreibt der Bildungsexperte einen Kult um Begriffe wie Einmaligkeit, Talent, Begabung und Originalität, der den Verdacht nahelegt, dass das, was seit dem 18. Jahrhundert als die Merkmale des »Genies« – des »Günstlings der Natur«, wie Immanuel Kant formulierte13 – gegolten hatte, nun zumindest jedem Kind zugesprochen werden muss. Denn die Natur – so die romantische Annahme – sei mittlerweile gerecht geworden, kenne keine Günstlinge mehr und schütte ihr Füllhorn an Begabungen und Talenten gleichmäßig über alle Menschenkinder aus. Erst die Gesellschaft und ihre Institutionen lassen fast alle diese Talente wieder verkümmern.

Dies gilt auch für das, was man lange als Gegenteil der Begabung gesehen hatte: die Behinderung. Entweder, so das Konzept der neuen inklusiven Pädagogik, erweist sich die vermeintliche Behinderung als bisher verkanntes und unterdrücktes Talent, oder sie kennzeichnet uns alle: »Wir sind alle behindert […]. Da ist jede Abgrenzung absurd.«14 In seinem Willen zum Guten kennt der Bildungsexperte kein Pardon. Wenn etwas als gut erkannt wurde, muss es flächendeckend und ohne Abstriche verwirklicht...

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