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E-Book

Generation Putin

Das neue Russland verstehen - Ein SPIEGEL-Buch

AutorBenjamin Bidder
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783641197483
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Ein gespaltenes Land, eine zerrissene Generation
Als sie auf die Welt kamen, war die Sowjetunion bereits Geschichte. Lena aus Smolensk zum Beispiel, die Putin verehrt und von einer Karriere in der Politik träumt. Die Kreml-kritische Journalistin Wera, die sich nach mehr Demokratie sehnt. Alexander, der im Rollstuhl sitzt und darauf hofft, irgendwann ein selbständiges Leben führen zu können. Sie alle eint, dass sie zur »Generation Putin« gehören, dass sie Kinder des derzeitigen Systems sind.

Diese Generation der nach 1991 Geborenen wuchs in politisch wie ökonomisch turbulente Zeiten hinein. Viele junge Russen sind heute hin- und hergerissen zwischen Ost und West, der Sehnsucht nach einem starken Führer und dem Traum von einem anderen, freieren Leben. In ihren Geschichten spiegelt sich die dramatische Entwicklung Russlands in den letzten 25 Jahren, vom Ende der sowjetischen Weltmacht bis zum Wiedererstarken unter Wladimir Putin.

SPIEGEL-ONLINE-Korrespondent Benjamin Bidder zeichnet in seinen eindrucksvollen Porträts ein überraschend anderes Bild des heutigen Russlands und zeigt, wie eine junge Generation sich aufmacht, ihr Land zu verändern.

Benjamin Bidder, geboren 1981, hat Volkswirtschaftslehre in Bonn, Mannheim und Sankt Petersburg studiert. Er ist Absolvent der studienbegleitenden Journalistenausbildung des Institutes zur Förderung publizistischen Nachwuchses (ifp), u.a. mit Stationen bei der Märkischen Oderzeitung und der Financial Times Deutschland. Benjamin Bidder ist seit 2009 beim SPIEGEL, zunächst als Redakteur im Politik-Ressort von SPIEGEL ONLINE. Von 2009 bis 2016 war er Moskau-Korrespondent. Im September 2016 kehrte er in die Redaktion von SPIEGEL ONLINE zurück. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Hamburg.

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Leseprobe

1. Sturzgeburt

»Adieu, unsere rote Flagge. Du warst uns Feind und Bruder.«

Dieses Buch handelt von jungen Menschen, aber es beginnt mit einem älteren Herrn. Sein Scheitern hat dem Land die Konturen gegeben, in dem die Kinder des neuen Russland aufwachsen.

Am Abend des 25. Dezember 1991 schaltet das Staatsfernsehen der Sowjetunion zu einer Sondersendung in den Kreml. Arbeitszimmer Nummer 4 ist eine detailgetreue Nachbildung des echten Büros des Staatsoberhaupts der UdSSR, aber geräumiger und für Auftritte im TV besser geeignet. Die Wände sind bespannt mit grünem Damast, das Pult mit den Telefonen eine Attrappe. Michail Gorbatschow, 60 Jahre alt, nimmt hinter dem schmucklosen Schreibtisch Platz, der erste und letzte Präsident der Sowjetunion, ein Reformer, der selbst vom Wandel überrollt wurde.

Kein Jubel liegt über Moskaus Rotem Platz, als die Sowjetunion an jenem Abend ihren letzten Atemzug tut, kein Protest, nur nasskalte Winterluft und wenig Schnee. In Moskau regiert der Mangel. Fleisch ist in mehr als 350 Geschäften ausgegangen, melden die Zeitungen, Zucker wird rationiert. Die Frachtflugzeuge, die sonst Nachschub in die Hauptstadt bringen, bleiben am Boden, es fehlt Kerosin. An Moskaus Flughafen Scheremetjewo landen Maschinen aus den USA, sie haben Nahrungsrationen der US-Armee geladen, die übrig geblieben sind vom Golfkrieg.

Die alte Planwirtschaft ist zusammengebrochen, noch bevor die neue Marktwirtschaft auch nur annähernd zu funktionieren begonnen hat. Der Ölpreis ist seit dem Beginn der achtziger Jahre um zwei Drittel eingebrochen, die Sowjetunion hat so eine ihrer wichtigsten Einnahmequellen verloren. »Fleisch erreicht Odessa« ist in jenen Tagen eine Nachricht im Massenblatt Komsomolskaja Prawda. »Kein Brot in Krasnojarsk« schreibt die Moskauer Zeitung Prawda. Ein bitterer Witz macht unter Moskauern die Runde: Steht ein vergesslicher Herr mit leerer Einkaufstasche vor dem Geschäft und fragt sich, ob er gerade im Begriff war, den Laden zu betreten, oder ob er bereits auf dem Rückweg von seinem Einkauf ist.

In Kreml-Büro Nummer 4 setzt Gorbatschow an zu seiner letzten Rede an die »lieben Landsleute«. »Das Schicksal hat es so gewollt, dass ich das Steuer des Landes übernahm, als es um den Staat bereits schlecht bestellt war«, sagt er. Als »leader without a country« hat ihn das Time-Magazin zwei Tage zuvor bezeichnet, als Herrscher ohne Land. Gorbatschows Macht reicht kaum noch über die roten Mauern des Kreml hinaus. Die Präsidenten der Teilrepubliken haben ihn kaltgestellt, angeführt von seinem Rivalen Boris Jelzin, der seit Juni 1991 den Titel »Präsident der Russischen Sowjetrepublik« trägt. Jelzin wartet an diesem Abend ungeduldig darauf, Gorbatschows Platz zu übernehmen – ebenso wie den Tschemodantschik genannten Koffer, dessen Besitzer einen Nuklearschlag autorisieren kann.

Gorbatschow verliest eine Erklärung, die Rücktritt, Rechtfertigung und Mahnung zugleich ist:

Von allem haben wir reichlich: Land, Öl und Gas, und auch mit Verstand und Talent hat uns Gott bedacht, doch leben wir viel schlechter als die entwickelten Länder, bleiben hinter ihnen immer weiter zurück. Der Grund dafür ist klar, die Gesellschaft erstickte im bürokratischen Kommandosystem. Sie war verdammt, einer Ideologie zu dienen und die schreckliche Last des Wettrüstens zu tragen. Ich habe verstanden, dass es in diesem Land schwierig, ja sogar riskant sein würde, Reformen zu wagen. Die Gesellschaft hat die Freiheit bekommen. Das ist die wichtigste Errungenschaft, auch wenn wir dies bisher noch nicht realisieren konnten. Wir haben nicht gelernt, mit der Freiheit umzugehen.

Gorbatschow vergleicht sein Schicksal mit den Helden eines sowjetischen Kinodramas: Die Crew erzählt die Geschichte einer Flugzeugbesatzung, die am Boden mitten in ein verheerendes Erdbeben gerät. Im Film sagt der Pilot: »Starten können wir nicht, am Boden bleiben auch nicht. Also starten wir.« Als Gorbatschow den grünen Ordner mit dem Text seiner Rede zuklappt, tritt mit ihm auch die Sowjetunion ab von der Bühne der Weltgeschichte. Innerhalb weniger Stunden erkennen die USA die Unabhängigkeit der Ukraine an. Bei einem Referendum wenige Wochen zuvor hatten sich mehr als 90 Prozent der Ukrainer für die Unabhängigkeit ausgesprochen, auf der Halbinsel Krim waren 54 Prozent dafür.

Am selben Abend nimmt Jelzin das Kontrollsystem der strategischen Raketenstreitkräfte Moskaus in Empfang. Zwei schweigsame Offiziere haben Gorbatschow jahrelang auf Schritt und Tritt mit dem Koffer begleitet. Sie wachten darüber, dass der Tschemodantschik stets in seiner Reichweite war. Von diesem Tag an dienen sie einem neuen Herrn: Das Oberkommando über ein Arsenal von 27 000 Nuklearsprengköpfen geht an Jelzin über. Auf der anderen Seite des Globus dreht die Redaktion des Fachblatts Bulletin of the Atomic Scientists seine Doomsday Clock auf 11:43 Uhr zurück. Die Uhr ist eine Mahnung. Sie soll der Weltöffentlichkeit die Gefahr eines Nuklearkriegs vor Augen führen. Als Gorbatschow 1985 in Moskau an die Macht kam, standen die Zeiger auf drei Minuten vor zwölf.

In Moskau steigen Punkt 19:32 Uhr zwei Arbeiter auf das Dach des Kreml. Sie holen die rote Flagge vom Fahnenmast, nach mehr als sieben Jahrzehnten. Ein neues Banner wird über der goldenen Kuppel des Präsidentenpalasts gehisst, eine Trikolore in Weiß, Blau und Rot. Fast beiläufig wird die Welt so Zeuge der Wiedergeburt der neuen, alten Großmacht Russland. Das Jahr 1991 markiert damit auch den Schlusspunkt des kommunistischen Experiments. Das Gleichgewicht des nuklearen Schreckens ist Vergangenheit, mit ihm der Ost-West-Konflikt, und zwar für immer, davon ist damals nicht nur Gorbatschow ganz fest überzeugt.

Gorbatschow war angetreten mit dem Versprechen, die Sowjetunion als Weltmacht ins 21. Jahrhundert zu führen. In das kollektive Gedächtnis der russischen Gesellschaft aber geht er ein als der Mann, der die UdSSR zu Grabe getragen hat. In Russland schlägt ihm deshalb zum Teil offener Hass entgegen, im Westen dagegen wird er auch dafür verehrt. Beides sind im Grunde Missverständnisse – die Ressentiments daheim genauso wie der »Gorbi«-Kult im Ausland. Gorbatschow wollte den Kalten Krieg beenden, auch das Wettrüsten und die Gefahr eines Atomkriegs beseitigen. Aber nicht die Sowjetunion.

Der im Westen für seine Perestroika-Politik geachtete Gorbatschow hatte bis zuletzt an einem Vertrag für eine neue Union gearbeitet. Er wartete auf Unterhändler aus der Ukraine, die aber nie kamen. Gorbatschows Wut darüber kann man noch ein Vierteljahrhundert später spüren, wenn er Putins Krim-Annexion verteidigt und die angebliche chronische Unzuverlässigkeit der Ukrainer geißelt.

Die Umrisse des neuen Russland wurden auch geprägt durch Gorbatschows Rivalität zu Jelzin. Gorbatschow hoffte bis zu seinem Rücktritt auf eine Erneuerung der Sowjetunion als Bundesstaat, der Schritt für Schritt demokratischer werden sollte. Vielleicht hätte er mehr Erfolg gehabt, hätte ihm Jelzin nicht so unversöhnlich gegenübergestanden. Gorbatschow hatte seinen Widersacher erst als Moskaus Parteichef eingesetzt, ihn 1987 aber wieder demontieren lassen. Jelzin wurde aus einem Moskauer Krankenhausbett geholt, mit Medikamenten vollgestopft und vor dem versammelten Zentralkomitee der Kommunistischen Partei vier Stunden lang gedemütigt. Er vergaß das nie. In der Folge strebte er einen lockeren Staatenbund an, ohne mächtige Zentralregierung, ohne Gorbatschow. Nach Gorbatschows Abschied aus dem Kreml trafen die beiden Rivalen nie wieder persönlich aufeinander.

Der Vertrag, mit dem Jelzin das Schicksal seines Widersachers und der Sowjetunion gleichermaßen besiegelte, war kurios zustande gekommen. Jelzin hatte das Papier Anfang Dezember 1991 ohne Wissen Gorbatschows mit den Präsidenten Weißrusslands und der Ukraine ausgehandelt. Da ihre Länder 1922 die Sowjetunion gegründet hatten, waren die drei der Auffassung, sie hätten auch das Recht, sie wieder aufzulösen.

Sie trafen sich dafür im äußersten Zipfel des sowjetischen Machtbereichs. Der staatliche Jagdhof Wiskuli liegt an der Westgrenze Weißrusslands. Er ist umgeben von der Belowescher Heide, durch diesen dichten Urwald streifen noch heute europäische Bisons, acht Kilometer weiter im Westen liegt schon Polen. Das Treffen der Republikpräsidenten war improvisiert und wurde geheim gehalten. Jelzin fürchtete, ein Angriff durch kommunistische Hardliner könnte ihr Vorhaben vereiteln oder Gorbatschow Spezialeinheiten des sowjetischen Geheimdienstes KGB in Marsch setzen.

Der erste Entwurf der »Belowescher Vereinbarung« wurde nachts handschriftlich notiert. Am Morgen landete er im Mülleimer, eine Putzfrau hatte ihn für Abfall gehalten. An eine Schreibmaschine hatte niemand gedacht, die eilig herbeigerufene Sekretärin eines nahe gelegenen Nationalparks tippte das Abkommen auf einer DDR-Maschine der Marke Optima, die sie aus ihrem Büro mitgebracht hatte. Jewgenija Pateitschuk wurde später in ihrem weißrussischen Heimatdorf Kamenjuki bekannt als »die Frau, die unsere Sowjetunion beerdigt hat«. Zwei Faxgeräte hielten als Kopierer her. Als die drei Präsidenten das Abkommen über die Gründung der »Gemeinschaft unabhängiger Staaten« feierlich unterzeichnen wollten, fiel ihnen auf, dass sie keinen Stift...

Blick ins Buch

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