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Glück ist das Ziel, Philosophie der Weg

AutorAndré Comte-Sponville
VerlagDiogenes
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783257601350
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Zwölf philosophische Betrachtungen zu den ewigen Themen der Menschheit: über Liebe, Tod, Erkenntnis, Freiheit, Gott, Atheismus, Moral, Politik, Kunst, Zeit, Menschsein und Weisheit.

André Comte-Sponville wurde 1952 in Paris geboren. Der ehemalige Professor für Philosophie an der Sorbonne widmet sich seit 1998 ausschließlich dem Schreiben. Mit dem internationalen Bestseller ?Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben? begründete er eine neue Welle, die ?Philosophie für alle?, die den Philosophiemarkt aufblühen ließ. Weitere große Erfolge waren ?Woran glaubt ein Atheist?? und ?Glück ist das Ziel, Philosophie der Weg?. André Comte-Sponville lebt in Paris.

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Leseprobe

[17] Moral

Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr. Und wenn der Narr oder das Schwein anderer Ansicht sind, dann deshalb, weil sie nur die eine Seite der Angelegenheit kennen. Die andere Partei hingegen kennt beide Seiten.

John Stuart Mill6

Es herrschen falsche Vorstellungen von der Moral. Zunächst einmal ist sie nicht da, um zu strafen, zu unterdrücken, zu verurteilen. Dafür gibt es Gerichte, Polizisten und Gefängnisse, und niemand würde eine Moral darin erkennen. Sokrates ist im Gefängnis gestorben und war doch freier als seine Richter. Dort beginnt vielleicht die Philosophie. Dort beginnt die Moral, für jeden und immer von neuem: dort, wo keine Strafe möglich, wo keine Unterdrückung wirksam, wo keine Verurteilung – zumindest keine äußerliche – notwendig ist. Die Moral beginnt dort, wo wir frei sind: Sie ist diese Freiheit selbst, wenn sie über sich urteilt und sich selbst befiehlt.

Du möchtest eine CD oder ein Kleidungsstück im Kaufhaus stehlen… Doch ein Detektiv beobachtet dich, oder es gibt [18] ein elektronisches Überwachungssystem, oder du hast ganz einfach Furcht, erwischt, bestraft, verurteilt zu werden… Das ist keine Ehrlichkeit, sondern Berechnung. Das ist keine Moral, sondern Vorsicht. Die Furcht vor dem Polizisten ist das Gegenteil der Tugend oder lediglich Tugend aus Vorsicht.

Und nun stell dir umgekehrt vor, du hättest diesen Ring, von dem Platon berichtet, den berühmten Ring des Gyges, der dich nach Belieben unsichtbar macht… Das ist ein Zauberring, den ein Hirte zufällig findet. Er braucht den gefassten Stein nur nach innen, zur Handfläche hin, zu drehen, um unsichtbar zu werden, und nach außen zu drehen, um wieder sichtbar zu werden… Gyges, der vorher als ehrlicher Mann galt, vermochte den Versuchungen, denen ihn dieser Ring aussetzte, nicht zu widerstehen: Mit Hilfe seiner Zauberkräfte drang er in den Palast ein, verführte die Königin, ermordete den König, riss selbst die Macht an sich, übte sie ausschließlich zu seinem Vorteil aus… Der Schüler, der die Geschichte im Staat erzählt, zieht daraus den Schluss, dass sich der Gute und der Böse – oder der als solcher gilt – nur durch die Vorsicht, will heißen, die Heuchelei voneinander unterscheiden, mit anderen Worten, nur dadurch, wie viel Bedeutung sie dem Blick der anderen beimessen, wie geschickt sie es anstellen, sich zu verstellen…

Besäßen sie beide den Ring des Gyges, unterschiede sie nichts mehr: Sie strebten beide nach dem gleichen Ziel. Damit würde behauptet, dass die Moral nur eine Illusion ist, nur eine Lüge, nur eine als Tugend verkleidete Furcht. Man brauchte sich nur unsichtbar machen zu können, und schon verschwände jedes Verbot, und für jeden gäbe es nur noch [19] das Streben nach seinem Vergnügen oder seinen egoistischen Interessen.

Ist das wahr? Platon ist natürlich vom Gegenteil überzeugt. Aber um diese Frage beantworten zu können, braucht man nicht Platon zu sein. Denn die einzige gültige Antwort findest du, soweit es dich betrifft, in dir selbst. Führen wir ein Gedankenexperiment durch. Stell dir vor, du hättest diesen Ring. Was tätest du? Was tätest du nicht? Würdest du beispielsweise weiterhin das Eigentum anderer, ihre Intimsphäre, ihre Geheimnisse, ihre Freiheit, ihre Würde, ihr Leben respektieren? Niemand kann das an deiner Stelle beantworten: Diese Frage betrifft dich ganz allein, dich ganz und gar. All das, was du nicht tust, dir aber gestatten würdest, wenn du unsichtbar wärest, gehört weniger in den Geltungsbereich der Moral als in den der Vorsicht oder Heuchelei. Was du dir hingegen, auch wenn du unsichtbar wärest, weiterhin auferlegtest oder verbötest, und zwar nicht aus Eigennutz, sondern aus Pflichtgefühl, das allein wäre Moral im eigentlichen Sinne. Deine Seele hat ihren Prüfstein. Deine Moral hat ihren Prüfstein, der dir ermöglicht, über dich selbst zu urteilen. Deine Moral? Das, was du von dir verlangst, unabhängig vom Blick der anderen oder dieser oder jener äußeren Drohung – sondern im Namen einer bestimmten Vorstellung von Gut und Böse, von Verpflichtung und Verbot, von Zulässigem und Unzulässigem, kurzum, von der Menschheit und dir. Konkret: Die Gesamtheit der Regeln, denen du dich unterwürfest, selbst wenn du unsichtbar und unbesiegbar wärest.

Ist das viel? Ist das wenig? Das musst du selbst entscheiden. Wärest du beispielsweise bereit, wenn du dich [20] unsichtbar machen könntest, einen Unschuldigen verurteilen zu lassen, einen Freund zu verraten, ein Kind zu peinigen, zu vergewaltigen, zu foltern, zu morden? Die Antwort hängt nur von dir ab; du hängst moralisch nur von deiner Antwort ab. Du besitzt den Ring nicht? Das entbindet dich nicht von der Verpflichtung, nachzudenken, zu urteilen, zu handeln. Wenn sich ein Schuft nicht nur dem Anschein nach von einem ehrlichen Menschen unterscheidet, dann liegt es daran, dass weder der Blick der anderen noch deine Vorsicht eine Rolle spielt. Die Herausforderung der Moral besteht darin, dass sie sich zwar auf den anderen bezieht, aber nur du allein sie mit dir ausmachst. Moral ist eine äußerst einsame Angelegenheit. Moralisch zu handeln heißt zwar, die Bedürfnisse des anderen zu berücksichtigen, aber »ohne Wissen der Götter und der Menschen«, wie Platon sagt, mit anderen Worten, du wirst von niemandem für dein Verhalten belohnt und bestraft. Ist das eine Herausforderung? Ich drücke mich falsch aus, denn die Antwort hängt wiederum nur von dir ab. Es ist keine Herausforderung, sondern eine Entscheidung. Du allein weißt, was du tun musst, und niemand kann dir die Entscheidung abnehmen. Einsamkeit und Größe der Moral: Dein Wert bestimmt sich nur durch das Gute, das du tust, durch das Böse, das du dir verbietest, und zwar ohne einen anderen Nutzen als die Befriedigung – obwohl niemand jemals etwas davon wissen wird –, gut zu handeln.

Das ist der Geist Spinozas, der sagt, es gehe darum, »gut zu handeln… und in Freude zu sein«.7 Das ist der Geist, [21] Punkt. Wie können wir Freude empfinden, wenn wir uns nicht wenigstens ein bisschen achten? Und wie können wir uns achten, ohne uns zu beherrschen, ohne uns zu zähmen, ohne uns zu überwinden? À toi de jouer, sagt man auf Französisch, du bist dran, aber es ist kein Spiel und schon gar kein Schauspiel. Es ist dein Leben: Du bist, hier und jetzt, das, was du tust. Moralisch betrachtet ist es völlig nutzlos, davon zu träumen, ein anderer zu sein. Wir können auf Reichtum hoffen, auf Gesundheit, Schönheit, Glück… Aber es ist absurd, auf Tugend zu hoffen. Ob du ein Schuft oder ein anständiger Mensch bist, entscheidest du, du ganz allein: Du bist genau so viel wert, wie du wert sein willst.

Was ist Moral? Das ist die Gesamtheit dessen, was ein Individuum sich auferlegt oder verbietet, und zwar nicht primär, um sein Glück oder sein Wohlbehagen zu steigern, was lediglich Egoismus wäre, sondern um die Bedürfnisse und Rechte anderer wahrzunehmen, um kein Schuft zu sein, sondern um sich zu einer bestimmten Vorstellung des Menschseins und seiner selbst zu bekennen. Die Moral antwortet auf die Frage »Was soll ich tun?« und besteht in der Gesamtheit meiner Pflichten, anders gesagt, der Imperative, die ich als rechtmäßig anerkenne – selbst wenn ich sie, wie jeder andere, gelegentlich verletze. Sie ist das Gesetz, das ich mir selbst auferlege oder auferlegen sollte, unabhängig vom Blick der anderen und jeglicher erwarteten Sanktion oder Belohnung.

»Was soll ich tun?« und nicht »Was sollen die anderen tun?« Das unterscheidet die Moral vom Moralismus. »Die Moral«, sagt Alain, »ist nie für den Nachbarn da«: Wer sich um die Pflichten des Nachbarn kümmert, ist nicht [22] moralisch, sondern ein Moralprediger. Was könnte unangenehmer sein? Welcher Diskurs wäre überflüssiger? Die Moral ist nur in der ersten Person legitim. Jemandem zu sagen: »Du sollst großzügig sein«, beweist keine Großzügigkeit. Ihm zu sagen: »Du sollst mutig sein«, beweist keinen Mut. Die Moral taugt nur für uns selbst. Für die anderen genügen das Mitgefühl und das Recht.

Wer kann im Übrigen die Absichten, die Motive oder die Verdienste der anderen kennen? Niemand ist moralisch von anderen als Gott, wenn er denn existiert, zu beurteilen oder von sich selbst, und mehr braucht es nicht. Bist du egoistisch gewesen? Bist du feige gewesen? Hast du die Schwäche, die Not, die Naivität des anderen ausgenutzt? Hast du gelogen, gestohlen, vergewaltigt? Du weißt es genau, und dieses Wissen von dir über dich heißt Gewissen – der einzige Richter, der, jedenfalls moralisch, zählt. Ein Prozess? Eine Geldstrafe? Gefängnis? Das ist lediglich die Gerechtigkeit der Menschen: Das ist das Recht und die Polizei. Wie viele Schufte laufen frei herum? Wie viele rechtschaffene Menschen sitzen im Gefängnis? Du kannst mit der Gesellschaft im Reinen sein – und solltest es auch sein. Doch das entbindet dich nicht von der Notwendigkeit, mit dir selbst, mit deinem Gewissen im Reinen zu sein. Und das ist in Wahrheit die einzige Regel.

Gibt es ebenso viele Moralvorstellungen wie Individuen? Mitnichten. Das ist das ganze Paradoxon der Moral: Sie gilt nur in der ersten Person, aber allgemein – anders gesagt, für jeden Menschen (da jeder Mensch ein »Ich« ist). Zumindest leben wir danach. Tatsächlich wissen wir sehr gut, dass es [23] verschiedene Moralvorstellungen...

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