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Auf der Suche nach der größten Geschichte aller Zeiten
Vor ein paar Jahren nahm ich an einem interdisziplinären Symposium zum Thema „Erfahrung und Gewissheit“ teil, in dem das Verhältnis von Wissenschaft, Wissen und Erfahrung diskutiert wurde. Dort hörte ich eine große Geschichte, ausführlich und begeistert vorgetragen von Professor Harald Lesch, einem Physiker, der in Deutschland durch seine populärwissenschaftlichen Fernsehsendungen bekannt ist. Die kürzeste mir bekannte Version dieser Geschichte zeigt der Vorspann der Fernsehserie „The Big Bang Theory“. Auch viele andere erzählen diese große Geschichte und sie geht ungefähr so:
Vor unvorstellbar langer Zeit, etwa vor 13,8 Milliarden Jahren, entstand das Universum mit dem „Big Bang“, dem Urknall, aus dem Nichts. Es gibt kein Ziel, keine Absicht, nur Naturgesetze, die alles vorantreiben und die wir Physiker im Wesentlichen verstanden haben. Nach dem Urknall entstanden in einem langen, komplizierten Prozess Sterne, Galaxien und schließlich Planeten, auf denen sich Leben entwickeln konnte. Mit unserem Planeten Erde haben wir das große Los gezogen – ein Planet, der hervorragende Voraussetzungen zur Lebensentstehung bietet. Von dieser Sorte sollte es noch viele andere geben, aber wir sind erst dabei, sie zu entdecken. Auf der Erde begann nun, angetrieben von den oben erwähnten Naturgesetzen, die Entwicklung von komplexen Molekülen, Zellen und schließlich komplexen Lebewesen. Dann erschien, im Verhältnis zum Alter des Universums quasi in letzter Sekunde, der Mensch mit Bewusstsein und Verstand auf der Weltbühne, und es entwickelten sich Kultur und Religion als höchste Stufen eines Prozesses, der aus dem Nichts begann und durch nichts anderes angetrieben wurde als die in unserem Universum überall und zu allen Zeiten geltenden unverbrüchlichen Naturgesetze. Irgendwann wird unsere Sonne verlöschen und noch viel später wird auch die letzte Sonne im Universum erloschen sein. Jedes Leben, wo immer es auch entstanden sein mag, wird dann verschwunden sein. Soweit wir heute wissen, wird sich das Universum immer weiter ausdehnen und dabei immer kälter und lebensfeindlicher werden. Das menschliche Gastspiel in diesem Universum ist dabei nur eine kurze, aber spannende Episode.
Das ist in aller Kürze die große Geschichte der Welt aus der Sicht des Naturalismus, einer Weltsicht, die behauptet, dass alle Phänomene der Welt allein durch Naturgesetze bestimmt sind, und zwar nicht nur die Entstehung von Sternen oder Lebewesen, sondern auch Phänomene wie Bewusstsein, Moral oder Ästhetik. Diese naturalistische Weltanschauung schließt die Existenz eines Gottes oder anderer „transzendenter“ Kräfte oder Wesen im Allgemeinen aus. Naturalismus und Atheismus werden daher oft als synonyme Bezeichnungen verwendet. Die Existenz und das Wirken eines Gottes sind in dieser großen Erzählung nicht vorgesehen.
Aber stimmt diese große Geschichte? Lesch selbst wies nach seinem begeisterten Vortrag darauf hin, dass bei der Geschichte einige „Leichen im Keller“ lägen. Ist diese Geschichte so tragfähig, wie sie erscheint? Das vorliegende Buch gründet auf einer anderen Geschichte. Ihr Ursprung ist viel älter und meiner Einschätzung nach tragfähiger als die Geschichte, die ich oben wiedergegeben habe. Beide haben einige Gemeinsamkeiten – schließlich reden sie über dieselbe Welt –, der Grundgedanke ist aber ein völlig anderer. Und die Konsequenzen sind völlig andere. Ich werde wesentliche Elemente beider Geschichten in diesem Buch entwickeln und vergleichen und möchte Sie auf eine Entdeckungsreise mitnehmen, bei der Sie wichtige und aktuelle Fragestellungen und Antwortversuche im Spannungsfeld zwischen christlichem Glauben und Atheismus kennenlernen.
Das Thema ist nicht neu. Spätestens mit dem Erscheinen des Bestsellers „Der Gotteswahn“ von Richard Dawkins im Jahr 20061 hat der von Dawkins und anderen Autoren vorangetriebene „neue Atheismus“ die Auseinandersetzung über die Sinnhaftigkeit des Glaubens an Gott aber erneut verschärft.2 Nach Dawkins soll dieser Glaube nicht langsam mit seinen letzten Vertretern aussterben, sondern aktiv vertrieben werden! Der Glaube an einen Gott, vorher bestenfalls als persönliche Geschmacksfrage oder harmloses kulturelles Beiwerk noch geduldet, wird nun als Bedrohung für Wissenschaft, Freiheit und eine fortschrittliche Gesellschaft dargestellt!
Viele Menschen im „aufgeklärten Westen“ tun sich nicht schwer mit der oben beschriebenen Sicht, denn viele haben sich ohnehin mit einem atheistisch geprägten „wissenschaftlichen Weltbild“ mehr oder minder arrangiert, auch wenn es die Fragen nach Sinn und Bedeutung für das eigene Leben nicht stillen kann.
Der im deutschen Sprachraum wohl bekannteste Vertreter im Streit mit dem „neuen Atheismus“ ist der inzwischen emeritierte Oxford-Professor und Mathematiker John Lennox, dessen Bücher zu einem Gutteil ins Deutsche übersetzt wurden. So behandelt er in seinem gleichnamigen Buch die Frage „Hat die Wissenschaft Gott begraben?“3 und seine direkte Antwort auf den „neuen Atheismus“ folgte dann mit „Gott im Fadenkreuz – Warum der neue Atheismus nicht trifft“.4
Schon lange vor Dawkins vollzog sich allerdings eine sehr interessante Entwicklung im Bereich der Philosophie: Ernst zu nehmende und im anglo-amerikanischen Sprachraum auch bekannte christliche Philosophen begründeten nicht nur die Vernünftigkeit des christlichen Glaubens, sondern behaupteten sogar, dass die große Geschichte des Naturalismus nicht nur Lücken hat, sondern schwerwiegenden Einwänden ausgesetzt ist!5
Während Theologen, wenn sie nicht gerade auch Physiker6 sind, die Diskussion im Dreiländereck von Theologie, Philosophie und Naturwissenschaft tendenziell scheuen, fällt christlich geprägten Naturwissenschaftlern7 die Auseinandersetzung in diesem Umfeld anscheinend leichter.
Es steht also heute eine Fülle aktueller Literatur zu unserem Thema zur Verfügung. Aber was macht der interessierte Leser, der weder Philosophie, Theologie noch eine Naturwissenschaft studiert hat und zudem noch wenig Zeit oder begrenzte Englischkenntnisse hat, wenn er sich in unserem Thema zurechtfinden will? Die gute Nachricht ist: Sie haben das richtige Buch in der Hand!
Das vorliegende, relativ kompakte Buch füllt eine Lücke sowohl für diejenigen, die in deutscher Sprache in kurzer Zeit ohne spezielle Vorkenntnisse einen Überblick über einige grundlegende Fragestellungen zum oben genannten Spannungsfeld der Weltanschauungen erhalten wollen, als auch für diejenigen, die sich aufbauend auf den im Text beschriebenen Themen weiter in einzelne Fragestellungen einarbeiten wollen.
Die These, die ich in diesem Buch vertrete, lautet: Der Glaube an Gott ist vernünftig und erklärt die Existenz und die Eigenschaften der Welt besser als der Atheismus. Dabei meine ich den Gott, der sich in der Bibel offenbart hat. Die Eigenschaften dieses Gottes werde ich später noch ausführlicher diskutieren. Vernünftig zu glauben heißt hier, begründet zu glauben. Das Verhältnis von plausiblen Argumenten und Beweisen werde ich ebenfalls später noch diskutieren.
Sie können dieses Buch auf zweierlei Weise lesen: Wer einen schnellen Überblick möchte, kann alle Anmerkungen und Literaturhinweise übergehen und das Buch in wenigen Stunden durchlesen. Wer sich tiefer einlesen will, findet in den Anmerkungen zusätzliche Erläuterungen, die teilweise mehr Vorwissen erfordern. Die Literaturzitate verweisen auf geeignete Literatur8 zu einzelnen Themen, berücksichtigen, wo immer möglich, deutschsprachige Quellen, erfordern aber teilweise (erheblich) mehr Vorkenntnisse.
Eine weitere Unterscheidung mag hilfreich sein: Das Buch ist sowohl für Christen geschrieben, die für sich selbst Antworten suchen oder ihre Argumentationsfähigkeit schärfen wollen, als auch für interessierte Atheisten oder Skeptiker, die bereit sind, sich auf ungewohnte Denkansätze einzulassen.
Ich behandele in Kapitel 2 zunächst ein paar wichtige Vorbemerkungen zu intellektuellen Stolpersteinen und Mauern und kläre einige grundlegende Fragen zum Verhältnis von Wissenschaft und Weltanschauung. Dabei beziehe ich mich explizit auf die Naturwissenschaften, den christlichen Glauben und den Atheismus, um eine klare, kompakte Diskussion führen zu können. Ich bespreche dann, was wir berechtigterweise über Gott sagen können, und die Frage nach dem Wahrheitsanspruch von Aussagen und diskutiere, was wir warum für glaubwürdig halten, um schließlich die Eigenarten naturwissenschaftlicher Modelle zu behandeln. Ich empfehle, dieses einführende Kapitel nicht zu überspringen! Kapitel 3 diskutiert dann die grundlegenden Fragen, warum es überhaupt eine Welt gibt, warum es überhaupt Leben geben kann, ob es vielleicht sehr viele Welten gibt und woher die...