2. Komplextheologisches Denken und Dorothee Sölles mystische Schriften
Lektürebasis:
Sölle, Dorothee: Die Hinreise. Zur religiösen Erfahrung. Texte und Überlegungen, Stuttgart 31976
Sölle, Dorothee: Mystik und Widerstand. „Du stilles Geschrei“, München 1999
(1) Im Rahmen meiner Ausarbeitung zu den Möglichkeiten von „Spiritualität, Ritual und Gottesdienst in einer nachtheistischen Religiosität“ in „Gefeiertes Geheimnis“ bin ich verschiedentlich erneut auf den theologischen Nachlass Dorothee Sölles gestoßen, zunächst auf ihre Impulse zum Gebet als „politisch-theologischer Selbstformulierung“ im Rahmen des sog. „Politischen Nachtgebets“{9}, und dann im Rahmen meiner Beschäftigung mit den spirituellen Impulsen einer spezifisch „weiblichen“ Mystik, die Ingrid Riedel in ihrer „Mystik des Herzens“ zusammengestellt und ausgewertet hat.{10} Riedels Interpretation von Sölles mystischem Denken hat mich bewogen, die beiden vor ihrem postum veröffentlichten Fragment „Mystik des Todes“{11} veröffentlichten explizit mystischen Hauptwerke Sölles, „Die Hinreise“ in der 3. Auflage von 1976 und „Mystik und Widerstand“ von 1999 nochmals gründlich zu lesen.
„Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, … oder er wird nicht mehr sein“ hat Karl Rahner gesagt.{12} Entsprechend war Dorothee Sölle der Überzeugung, dass christliche Religion in unserer nachaufgeklärten Moderne ihr mystisches „Herz“ wiederfinden muss, wenn sie ihrer Infragestellung durch die Religionskritik zum Trotz Menschen einen Weg in die befreiende Erfahrung der Ganzheit und des Heilseins öffnen soll, auf die das Wort „Gott“ in den unterschiedlichen Religionen zielt. In Anknüpfung an das Erbe Rahners formuliert Johann Baptist Metz: „Zu lernen wäre hier, dass diese Mystik nicht eigentlich eine elitäre Angelegenheit spirituell bevorzugter Einzelner ist, sondern gewissermaßen eine populäre Angelegenheit aller Frommen.“{13}
Entsprechend hat Dorothee Sölle in „Mystik und Widerstand“ von einer „Demokratisierung der Mystik“ gesprochen, um die sie sich bemüht, weg von einer Deutung mystischer Frömmigkeitswege als „spiritueller Artistik“, hin zu ihrer Deutung als tägliches geistliches „Brot des Lebens“ in unserer ganz normalen, auch in der einfachsten Frömmigkeit.{14} Solche „demokratisierte Mystik“ ist für Sölle ein „Prozess“, in dem uns unser „eigene(s) Leben … immer verwunderlicher“ wird, so, als ob uns „andere Ohren, ein drittes Auge, Flügel der Morgenröte“ wüchsen{15}, Ausdruck eines heimatlichen Lichts, das uns „‚allen in die Kindheit scheint‘“ (Ernst Bloch). Sölle selbst formuliert: „Ich will an die vergrabene Mystik der Kindheit erinnern. In ihr gibt es für sehr viele von uns, fast möchte ich sagen: für alle und jeden, Augenblicke des intensiven Erlebens, die uns mit einer merkwürdigen, unumstößlich scheinenden Gewissheit ergreifen.“{16}
Mystik ist für Sölle „Sehnsucht nach Gott“{17}, aber der Gott der Mystik ist nicht nur die Gottheit einer einzigen Religion. „Mystik taucht in den verschiedensten Religionen – aber auch außerhalb – als Erfahrung und gemeinsame Bewegung auf. In einem Bild gesprochen, stelle ich mir die Weltreligionen in einem Kreis vor, der sein Zentrum im Geheimnis der Welt, in der Gottheit hat.“{18} Die Sprache der Mystik ist eine „Sprache ohne Herrschaft“{19}, deren drei grundlegende „Sprachelemente“ die „Formen … der Negation“ (via negativa, „Wolke des Nichtwissens“), des „Paradox(es)“ (coincidentia oppositorum) und des kontemplativen „Schweigen(s)“ („stilles Geschrei“) sind.{20} Die Mystik ist eine „Reise“ ins Herz der Wirklichkeit und von ihm aus wieder zurück an ihre Ränder, zu ihren leidenden und marginalisierten Geschöpfen.
(2) Dieses Bild der „mystischen Reise“ hat Sölle bereits in ihrem früheren Buch „Die Hinreise“ näher entfaltet und ausgeführt. In ihm deutet sie die Mystik als die „Hinreise“, die im „Sterben des alten „Menschen“ in der mystischen „Versenkung“ besteht, und den politischen Gottesdienst (das, was sie später „Widerstand“ nennt) als „Rückreise“, in Gestalt der „Auferstehung“ eines neuen, von den Fesseln seiner egoistischen Selbstverkrümmung befreiten Menschen.
Diesen Gedanken der mystischen Hin- und Rückreise entwickelt Sölle hier paradigmatisch an der Geschichte der Gottesbegegnung des Propheten Elia am Berg Horeb. Elias Gotteserfahrung im Säuseln der „Stimme verschwebenden Schweigens“ (Buber), die den vorausgegangenen langen Hinweg Elias zum Berg Horeb voraussetzt, ist eine „Gegenerfahrung gegen Macht und Herrschaft“, die auch das traditionelle theistische Gottesbild verändert: „Gott ist in dieser Geschichte nicht ein Objekt unserer Erkenntnis, ja die Frage nach der Realität dieses Objektes ist selbst ein Ablenkungsmanöver, das von unserer Wirklichkeit, der inneren wie der äußeren fortführt. Wenn es Gott ‚gäbe‘ wie andere Gegenstände unserer Erkenntnis, so wäre die Hinreise überflüssig, das Sich-Entäußern, Sich-selber-verlassen, diese Art von Tod könnte man sich dann sparen.“{21} Der Gott der Eliageschichte ist kein „Ordnungselement“ oder „Garantiesymbol“ einer kapitalistischen „civil religion“; dieser verfügbare „Gott, den es gibt“ ist vielmehr „eine(r) falsche(n) Projektion“, von der sich mystische Gotteserfahrung befreien muss.{22}
„Nicht, dass wir projizieren, ist zu kritisieren, wenn erst verstanden ist, dass Religion eine wesentliche Form menschlicher Kreativität darstellt; aber was wir inhaltlich als Ziel, Wert, letzte Größe entwerfen und ansehen, ist entscheidend.“{23} Mit Erich Fromm unterscheidet Sölle die „autoritäre Religion“ theologischer Allmachtsphantasien von der mystischen Religion der „Empfindung des Einsseins mit dem All“, die das Göttliche „als Liebe und Gerechtigkeit“ imaginiert.{24} Die Geschichte von Elia am Horeb gehört für Sölle zu dieser zweiten Form von Religion: „Elia ‚hört‘ das leise Säuseln, verhüllt sich und tritt aus der Höhle, in der er über Nacht war. Es ist vielleicht eine Überinterpretation, wenn man das Heraustreten aus der Höhle als eine Art Geboren-Werden versteht, in dem der Weg vom Ego zum Selbst sich vollendet“{25}; auf jeden Fall hat aber die Gotteserfahrung des Elia sein Gottesbild und ihn selbst verändert. Er hat die Hinreise vollendet und „die tiefste Vergewisserung“ der Religion erfahren, von Gott getragen und „ein Teil des Ganzen“ zu sein{26}. Nun kann er die Rückreise antreten.
Was Elia auf dem Weg zum Horeb gelernt hat, ist das, was Meister Eckhart „Gelâzenheit“ nennt, das Lassen seines Selbst, das zugleich ein Lassen seines bisherigen Gottes ist. Mystische Gelassenheit ist, so Sölle, nicht stoische Gleichgültigkeit{27}, sondern das radikale Lassen jeder egoistischen Sicherung meines Lebens, auch durch dogmatische Gottesbilder, und das „Absterben“ des eigenen Ich. Das Ziel dieses mystischen Lassenlernens ist „die Geburt Gottes in der Seele“ {28}; damit aber die wahre Gottheit in mir geboren werden kann, muss ich zuvor auch „den überkommenen, offenbarten, Heil versprechenden Gott“ lassen{29}.
Ein immer wiederkehrendes mystisches Bild für solches existentielles und religiöses Lassenlernen ist die Erfrischung der „Dürre der Seele“ durch das Lebenswasser, die „Versenkung“ der Seele und ihr „Schwimmenlernen“ im Wasser im Wasser der Liebe{30}, das zugleich ein Sterben und Wiederauferstehen ist, ein mystischer Regress, der aber letztlich immer auf den Progress, auf die „Rückreise“ zielt. In solcher mystischer Versenkung „nehmen wir ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit auf, eine ganzheitliche Beziehung“, in der wir unsere herkömmliche Weltinterpretation „entmächtigen“. Das ist keine religiöse Wellness, sondern spirituelle Arbeit: „Der Weg nach innen ist kein Spaziergang, bei dem man sich an den eigenen Gefühlen berauscht. Es ist eine Form der Selbsterfahrung, die unsere physischen und geistigen Normalzustände aufbricht, so dass Erfahrung, ‚die man früher Seele nannte‘ (Luing) wieder möglich wird.“{31}
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