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'Ich bin auch noch da'. Förderung der Resilienz zur positiven Beeinflussung der psychosozialen Entwicklung von Geschwistern behinderter oder chronischer erkrankter Kinder

AutorInes Schrötter
VerlagStudylab
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl71 Seiten
ISBN9783668383524
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
In einer Familie haben sowohl Eltern als auch Geschwister großen Einfluss auf die Entwicklung jedes einzelnen Kindes. Ist ein Kind schwer behindert oder chronisch erkrankt, verändert sich die Familien- und Lebenssituation für alle Beteiligten erheblich. Insbesondere aber für die nichtbeeinträchtigten Kinder kann diese Situation phasenweise oder dauerhaft sehr belastend sein. Ist schon das Leben mit einer eigenen schweren Behinderung kaum vorstellbar, so lässt sich nur vermuten, wie schwierig sich das Leben der Eltern eines behinderten Kindes unter diesem Gesichtspunkt darstellt. Der Aspekt, Geschwister eines beeinträchtigten Kindes zu sein, erscheint dagegen fast bedeutungslos. Es überwiegt die Ansicht, dass sich die unversehrten Kinder ohne Hindernisse entwickeln können, auch wenn sie teilweise altersuntypische Aufgaben übernehmen, von ihnen Rücksichtnahme erwartet wird und sie von ihren Eltern nur unzureichend beachtet werden. Dieses Buch befasst sich mit der Situation von Geschwistern behinderter Kinder und der Frage, welche Faktoren Resilienz fördern, um die Heranwachsenden positiv in ihrer psychosozialen Entwicklung zu beeinflussen. Ferner wird auf Einflüsse eingegangen, die diese Entwicklung gefährden können. Abschließend wird untersucht, welcher resilienzfördernder Unterstützungsmöglichkeiten Geschwister behinderter Kinder und deren Familien in diesem Zusammenhang bedürfen. Aus dem Inhalt: - psychosoziale Entwicklung; - Resilienzförderung; - Intrafamiliäre Beziehungen; - Geschwisterbeziehung; - Soziales Umfeld

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Leseprobe

3 Intrafamiliäre Beziehungen


 

Für die Beantwortung der vorliegenden Fragestellungen dieser Arbeit sind die folgenden Ausführungen insofern relevant, als dass die Geschwisterproblematik in die familiären Prozesse eingebettet ist und zudem die Merkmale sowie den Vergleich einer klassischen Geschwisterbeziehung impliziert.[97] Außerdem ist die Betrachtung der Familiensituation im Kontext der Entwicklung der nicht behinderten Kinder notwendig, da die Familie für sie die primäre und grundlegende Sozialisationsinstanz darstellt, in welcher die Persönlichkeit geformt wird und die elementaren Regeln der Gesellschaft sowie Kompetenzen zur Bewältigung jeglicher Risiken vermittelt werden.[98]

 

3.1 Klassische Geschwisterbeziehung


 

Trotz der indessen unverkennbaren Bedeutung von Geschwisterbeziehungen für die individuelle Identitätsentwicklung wurde ihr bis vor kurzem kaum Beachtung beigemessen. Das psychologische Interesse bezog sich bisher primär auf den Erkenntnisgewinn zur Mutter-Kind-Beziehung, so dass die Geschwisterkinder in diesem Rahmen lediglich als Rivalen wahrgenommen wurden.[99] Demzufolge wurde diese Art des Zusammenlebens auch als „soziales Trainingscamp“[100] bezeichnet. Mit einem Exkurs in die Forschungsprojekte wird deutlich, dass in der Vergangenheit zahlreiche Studien den Zusammenhang der Geschwisterkonstellation auf die Persönlichkeitsentwicklung statistisch untersuchten. Die Ergebnisse dieser Zusammenhangsberechnungen waren zumeist sehr widersprüchlich, enthielten keine theoretischen Konzepte und entsprangen willkürlicher Interpretationen.[101] Der österreichische Psychologe Alfred Adler vertrat in den 30er Jahren als einer der Ersten die Ansicht, dass die menschliche Persönlichkeit dadurch geprägt wurde, welchen Platz man in der Geschwisterreihe einnahm.[102] Nach diesen Pionierarbeiten Adlers gab es lange Zeit wenig neue Forschungsaktivitäten zu diesem Thema, obwohl in der Literatur weiterhin diskutiert wurde und bis heute wird, welche Auswirkungen die Geschwisterkonstellationen, wie Anzahl, Geschlechterfolge, Altersabstand usw., auf die Persönlichkeitsentfaltung der Kinder haben.[103]

 

Mit der 1983 publizierten Monographie ‚Birth Order‘ von Ernst und Angst wurden Adlers Theorien scharf kritisiert, da ihrer Auffassung nach nicht die Geschwisterposition, sondern die damit verbundenen Prozesse und Wechselwirkungen bestimmen, welche Persönlichkeitseigenschaften sich herausbilden. Zudem erkannten sie, dass neben den Eltern auch andere Bezugspersonen, wie die Geschwister, einen prägenden Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder haben können.[104] Diese Erkenntnisse werden durch die neuesten Forschungsergebnisse bestätigt, die im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung der Qualität der Geschwisterbindung hohe Bedeutung beimisst.

 

Durch das Hinzukommen von Geschwistern entsteht ein Subsystem, in dem „wechselseitige Erziehungs- und Sozialisierungsprozesse stattfinden“[105] und welches nicht nur die Eltern-Kind-Beziehung, sondern auch die Beziehung der Eltern zueinander verändert. Dennoch wird die Familie als System betrachtet, in welchem alle Familienmitglieder voneinander abhängig sind.[106]

 

Im Vergleich mit anderen zwischenmenschlichen Beziehungen weisen Geschwisterbeziehungen besondere Merkmale auf. Sie sind in der Regel die längsten menschlichen Bindungen und einzigartig, da sie zeitlich betrachtet alle anderen wichtigen zwischenmenschlichen Verbindungen übertreffen. Weiterhin teilen sie vielseitige Faktoren, wie gemeinsame frühe Erfahrungen, ihr genetisches Erbgut und kulturelles Gesellschaftsumfeld und unterscheiden sich somit deutlich von anderen Beziehungen.[107] Durch die Existenz eines Geschwisters, unabhängig davon, ob das Miteinander positive oder negative Ausprägungen hat, verwirklicht sich das Gefühl einer vertrauten Präsenz. Da diese Beziehung ohne eigene Einflussnahme besteht, ist sie vermutlich auch kennzeichnend für „das gleichzeitige Vorhandensein von Zuneigung und Abneigung, Verbundenheit und Abgrenzung, Hilfe/Unterstützung und Rivalität/Feindseligkeit; Nähe und Distanz, Liebe und Hass.“[108] Diese ambivalenten Dimensionen sind in ihrer Gesamtheit zwar nicht verallgemeinerbar, jedoch finden sie breite Verwendung in Empirie und Literatur. Letztendlich hängt es von den Lebensumständen der Familie, der Persönlichkeit der Kinder und dem Verhalten der Eltern ab, wie sich Geschwisterbeziehungen entwickeln. Welche zwei Faktorengruppen diese beeinflussen, beschreiben Bank und Kahn:

 

Zu den äußeren Faktoren zählen u. a. die sozioökonomische Lebenssituation der Familie, soziale und familiäre Strukturen sowie die Rolle und Einstellung der Eltern hinsichtlich der Identität ihrer Kinder inbegriffen. Die inneren Faktoren sind schwer messbar, da es sich hierbei um tiefgreifende Gefühle handelt, die sich schon während der frühen Kindheit bilden. Oftmals zeigen sich diese in der Adoleszenz und im späteren Alter im Rahmen gemeinsamer Interaktionen.[109]

 

Welchen Einfluss diese Faktoren auf die Geschwisterbeziehung von Kindern mit behinderten Geschwistern nehmen, wird in den nachfolgenden Ausführungen beschrieben.

 

3.2 Familienleben mit einem behinderten Kind


 

Die folgenden Darlegungen, welche nicht allgemeingültig und zu pauschalisieren sind, vermitteln einen groben Einblick in eine Familiensituation mit behindertem Kind. Da jedoch die Familie für die Geschwister die primäre und grundlegende Sozialisationsinstanz ist, erscheint die Betrachtung der Familiensituation im Kontext der psychosozialen Entwicklung der nicht behinderten Kinder notwendig.

 

Nach Bekanntwerden der Diagnose eines behinderten Kindes, befinden sich die Eltern zunächst in einem emotionalen Schockzustand und ihre „Wunschbilder“[110] werden zerstört. Entgegen einiger Eltern, die in Hoffnungslosigkeit und tiefe Verzweiflung stürzen, wird bei anderen der Kampfgeist geweckt. Entscheidend ist, dass es weniger auf die Schwere der Behinderung ankommt, als auf die Einstellung zu dieser. Die Geburt eines behinderten Kindes, die Akzeptanz dessen und die vielen ungewohnten Anforderungen, welche die neue Situation hervorruft, stellen in den ersten Jahren dennoch die schwierigste Herausforderung für die Familienangehörigen dar.[111] Der Familienalltag ist durch unzählige Arzt- und Therapiebesuche sowie häufige Krankenhausaufenthalte und einem zumeist enormen Pflege, Kraft- und Zeitaufwand geprägt, wenn z. B. das betroffene Kind nicht alleine essen kann oder gewindelt werden muss.[112] Viele Eltern fühlen sich mehr als Co-Therapeuten und weniger als Eltern, da sie neben den unzähligen therapeutischen und medizinischen Verpflichtungen kaum Zeit und Sinn für die eigentliche Erziehung und die emotionalen Aspekte des Elternseins aufbringen können.[113]

 

So müssen die betroffenen Familien ihre Rollen im familiären Ablauf neu definieren. Oftmals gelingt das nicht oder es kommt zu einer eher traditionellen Rollenverteilung, in welcher der Vater die Ernährerfunktion einnimmt, da die Mutter die Pflege- und Betreuungspflichten erfüllt. In diesem Zusammenhang besteht das Risiko, dass sich eine Dyade[114] bildet, weil zwischen der Mutter und dem behindertem Kind eine besonders intensive und emotionale Zweierbeziehung entsteht, die wenig Raum für andere Emotionen oder gar ein gemeinsames Familienleben lässt. Infolge dessen richtet der Vater sein Interesse und seine Aufmerksamkeit auf das gesunde Kind und plant Aktivitäten getrennt von der Familie.[115] Häufig zerbrechen Ehen oder Beziehungen an dieser ständigen Belastung. Obwohl die Eltern aus struktureller und organisatorischer Sicht in der Lage gewesen wären, sich dieser neuen Lebenssituation anzupassen, versagt hier oftmals die emotionale Verarbeitung.[116] Erschwerend kommt hinzu, dass die Zeit für eigene Interessen nur begrenzt vorhanden ist. Selbst eine gemeinsame Freizeitgestaltung oder gar Reisen gestalten sich zumeist unspontan, da sie genau geplant werden müssen.[117]

 

Auch das meist geringe Haushaltseinkommen muss als nicht zu unterschätzende Belastung angesehen werden. Die wesentlichen Gründe liegen dabei in der materiellen Höherbelastung mit einem behinderten Kind sowie der eingeschränkten, oftmals aufgegebenen Erwerbstätigkeit der Mutter als Zweitverdiener. Unvorbereitet fühlen sich die Eltern in eine soziale Randgruppe gedrängt, welche ihr Selbstwertgefühl negativ beeinflusst. Grundsätzlich ist das nicht allein ein familiäres Problem im Kontext des Faktes Behinderung, sondern auch eine Folge unzureichender sozialer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen.[118]

 

Ein behindertes Kind hat zudem Auswirkungen auf die sozialen Kontakte der Familie. Dies liegt beispielsweise daran, dass viele...

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