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'Ich bleib erst mal hier.'

Jugend in Waldshut-Tiengen

AutorKlaus Farin, Nicolle Pfaff
VerlagArchiv der Jugendkulturen Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl169 Seiten
ISBN9783945398043
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Auch in Waldshut-Tiengen ist die Situation von Kindern und Jugendlichen geprägt von Veränderungen im Bereich der Familie, im Medienkonsum, in einer Freizeit, die zunehmend in organisierter Form unter professionalisierter Betreuung stattfindet. 55 % der Jugendlichen sind nicht zufrieden mit den Freizeitmöglichkeiten vor Ort. Über ein Viertel der Jugendlichen wollen weg, wenn sie erst einmal die Schule hinter sich haben. Was sie sich wünschen, trugen 50 Jugendliche im Rahmen einer Zukunftswerkstatt zusammen: weitere Sportangebote jenseits von Fußball, informelle Treffmöglichkeiten im Freien, vielleicht Grillplätze, mehr, unterschiedliche und für ihren Geldbeutel erreichbare Einkaufsmöglichkeiten, Musikveranstaltungen für Jüngere und Treffpunkte ohne erwachsene Kontrolle oder pädagogische Aufwartung. Immer schwieriger wird es für Jugendliche, ihre Interessen zu organisieren. Sie finden zunehmend weniger Gleichgesinnte. Engagieren können sie sich fast nur noch in pädagogisierten Lern- und Bildungsräumen. Tatsächlich wird im öffentlichen Raum wenig jugendliche Initiative sichtbar. Die Studie: Nicht weniger, sondern mehr muss für Jugendliche getan werden, wenn sie weniger werden. Ziel der Untersuchung des Jugendamtes der Stadt Waldshut-Tiengen und des Berliner Archiv der Jugendkulturen e. V. in Kooperation mit der Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Duisburg-Essen war die Beschreibung der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen in der Region. Die entwickelten Erkenntnisse sollen als Grundlage der Weiterentwicklung einer bedarfsgerechten und kooperativ angelegten Jugendarbeit dienen. Das nun vorliegende Buch dokumentiert nicht nur die quantitativen Ergebnisse der Studie, sondern lässt vor allem auch die Jugendlichen selbst zu Wort kommen.

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Leseprobe

„Es gibt keine
Waldshut-Tiengener.“


Ein sozialstrukturelles Mosaik der
Doppelstadt am Hochrhein


Von Karl-Heinz Behr

Es gibt keine Waldshut-Tiengener: Man wächst in Waldshut auf oder in Indlekofen, in Gurtweil, Tiengen oder einem anderen der 12 Ortsteile. Die Identifikation mit dem einen schließt häufig andere aus. Das ist auf den Dörfern so. Oberalpfener müssen immer wieder ihren Jugendtreff „Wäschhüsli“ verteidigen bei „Besuch“ von außerhalb, Ortsvorsteher und Ortschaftsrat müssen hin und wieder klärend eingreifen. Das ist aber auch in den Stadtteilen so. In Tiengen kann die Identifikation mit dem Stadtteil dann so klingen: „… Wo hab ich mich rumgetrieben und wie konnten wir nur alle die Kontrolle über unser Leben so verlieren ach ich weiß doch auch nicht wir waren doch den ganzen Tag dicht und jetzt sitzen wir vor Gericht ich hoff ich muss dort nie mehr hin denn dann müsste ich nach Waldshut und darauf hab ich keinen Bock weil ich mich lieber hier in Tiengen City auf irgendeine Bank hock … denn Tiengen ist die beste Stadt der Erde das is der Grund warum ich für immer hier in Tiengen City bleiben werde … und jetzt schreit mit mir Tiengen Tiengen Tiengen.“ `Empire State of Tiengen´ hat der Rapper Gravito, Tiengener, seinen Tiengen-Rap genannt, den er schon mehrfach enthusiastisch im Jugendzentrum vortrug. Ganz ungern geht er damit nach Waldshut.

Im Zuge der Gemeindereform, die zum 1. Januar 1975 die Stadt Waldshut-Tiengen schuf, wurde möglicherweise die Verwaltung gestrafft und vereinfacht, nicht aber das Zusammenleben der Bürger. Es gibt mit Schwyzertag Anfang Juli in Tiengen und der Waldshuter Chilbi Mitte August zwei große Stadtfeste, zwei Vereine kümmern sich um Handel und Gewerbe je in ihrem Stadtteil. Natürlich gibt es zwei Freibäder und zwei Rathäuser. Es gibt nur einen Gemeinderat, aber beispielsweise zwei CDU- und zwei SPD-Ortsvereine, die sich immerhin auf jeweils eine Liste für den Gemeinderat einigen können.

Trägt die Doppelstruktur in mancher Hinsicht zur bereichernden Vielfalt bei, so erhalten sich doch auch immer wieder wenig hilfreiche, manchmal teure Parallelstrukturen. Auch wenn manchem Verein die Aktiven fehlen, werden die vereinseigenen Strukturen und Bestände geschützt.

Die städtische Vereinsdatei weist 376 Einträge auf von A wie Akkordeon-Orchester Tiengen bis Z wie Zierfischfreunde Hochrhein. Vergleichsweise hoch ist die Vereinsbindung von Jugendlichen, stellt die Waldshut-Tiengener Jugendstudie 2014 fest: 73% der an der Studie Teilnehmenden sind in einem Sportverein, 36% in einer Musikgruppe, wobei sich die Zugehörigkeit zum einen oder anderen nach Geschlecht teilt – Mädchen machen eher Musik, Jungen sind mehr im Sport aktiv. Auch die soziale Herkunft spielt dabei eine Rolle. Trotz hoher Mitgliederzahlen klagen Vereine und Verbände über die Schwierigkeiten, einen Vorstand zu besetzen oder Jugendtrainer zu finden. Eigeninitiative und Engagement, so stellt die Jugendstudie fest, ist bei den befragten Jugendlichen gering ausgeprägt. Das entspräche wohl den Einstellungen ihrer erwachsenen Vorbilder, ergänzte ein Kommunalpolitiker bei der Vorstellung der Studie. Nicht überraschend, dass die Stadtjugendringe in Waldshut und Tiengen schon in den 90er Jahren eingeschlafen sind und auch der Kreisjugendring, als einzig verbliebene verbandliche Vertretung Jugendlicher, seit Jahren Nachwuchsschwierigkeiten hat.

Waldshut-Tiengen wächst.


Trotz des auch hier vorhandenen landesüblichen Geburtendefizits ist die Bevölkerung in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen auf 22.700 im Jahr 2013. Das verdankt die Stadt vorwiegend den Gewinnen aus der bundesweiten Nord-Süd-Wanderung, aber auch den Wanderungsgewinnen aus dem Umland. 2012 blieb bei 1.963 Zuzügen ein Plus von 185 Personen. Der Demografiebericht der Bertelsmann-Stiftung, der Waldshut-Tiengen unter „mittelgroße Kommune mit geringer Dynamik im ländlichen Raum“ einordnet, prognostiziert einen weiteren leichten Anstieg bis zum Jahr 2025, bevor die Einwohnerzahl sinken wird. 2.700 Personen klassifiziert die Statistik als Ausländer, also rund 12% der Bevölkerung. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund ist, wenn man die Definition des Zensus 2011 zugrunde legt („Ausländer und alle nach 1955 nach Deutschland Zugewanderten einschließlich derer, die einen Elternteil haben, der nach 1955 nach Deutschland eingewandert ist“), etwa dreimal so hoch.

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen in den zwei städtischen und zehn dörflichen Stadtteilen ist, im Gegensatz zur Gesamtentwicklung, schon längst gesunken. Auch damit liegt Waldshut-Tiengen im Landestrend: Das Statistische Landesamt verzeichnete den Höhepunkt schon 2001 mit rund 4.800 jungen Menschen unter 20 Jahren. Der Jugendquotient, also der Anteil der unter 20-Jährigen bezogen auf die Zahl der 20-65-Jährigen, wird bis 2030 mit 4.000 auf 32,8% gesunken sein, wohingegen der Altenquotient, der Anteil der über 65-Jährigen mit 6.000 auf über 50% steigen wird. Folgte man der Logik einer „Demografischen Rendite“, wie sie landesweit derzeit die Kürzungen an Lehrerstellen begründet, dann brauchte man künftig wohl für Kinder und Jugendliche eher weniger als mehr tun.

Wirtschaft


„Die Wirtschaftsstruktur des Landkreises zeigt zwei Besonderheiten: 1. Die Grenzlage zur Schweiz bewirkt enorme Erwerbstätigenströme in die Schweiz und einen hohen Kaufkraftzufluss in den Landkreis. 2. Der Kreis ist dünn besiedelt und stark ländlich geprägt. Funktionen und Einrichtungen, die städtische Räume kennzeichnen, sind nur unterdurchschnittlich vorhanden oder fehlen ganz“, schreibt die „Wirtschaftsförderung des Landkreises Waldshut 2014“. Kennzeichen der gewerblichen Struktur des Landkreises seien ein breiter Branchen-Mix in kleinen und mittleren Unternehmen mit unter 1.000 Beschäftigten. 11.400 Personen waren 2013 in der Stadt Waldshut-Tiengen laut Statistischem Landesamt sozialversicherungspflichtig beschäftigt, 40% davon arbeiteten im produzierenden Gewerbe, eine im Landesvergleich hohe Quote. „Eine Spezialität der Region ist die qualitativ hochwertige, flexibel auf Nischen und tendenziell auf kleinere Stückzahlen ausgerichtete Produktion. Viele Unternehmen … sind Ableger oder Töchter mit Entscheidungszentralen außerhalb der Region, häufig auch in der Schweiz. … Die stärksten Branchen im Dienstleistungssektor sind der Einzelhandel (am Hochrhein mit rund 40% Schweizer Kundschaft), der Tourismus (mit ca. 9% der regionalen Wertschöpfung) und das Gesundheitswesen mit 3.800 Arbeitsplätzen“, berichten die Wirtschaftsförderer.

Viele Jugendliche wollen weg.


Viele Jugendliche wollen weg, wenn sie erst einmal die Schule hinter sich haben. Aber es kommen auch viele. Nicht nur Touristen, die die Innenstädte von Waldshut und Tiengen bewundern, den Radweg am Rhein entlang nutzen, im Schwarzwald wandern oder klettern. 34.000 Gästeankünfte und 79.000 Übernachtungen verzeichnet die Statistik des Landkreises 2012 in Waldshut-Tiengen. Das Schwyzerdütsch, das in der Kaiserstraße Waldshut an sonnigen Tagen Standardsprache wird, wird nicht nur von Touristen, sondern auch von vielen Tagesgästen gesprochen, die in Deutschland günstig einkaufen oder essen gehen können. Zur Arbeit kommen 8.500 Menschen in die Stadt, 4.800 Arbeitnehmer müssen wegfahren.

4.400 Schülerinnen und Schüler besuchen täglich die 9 städtischen Schulen. Viele von ihnen kommen aus dem Umland. Mit den weiteren Schulen – Gewerbliche Schulen, die christliche Schule und verschiedene Förderschulen – pendeln fast 5.000 Schülerinnen und Schüler täglich in die 18 Schulen im Stadtgebiet ein. Manche haben lange Fahrwege: Sie kommen aus Hohentengen und Jestetten im Osten des Landkreises oder aus Görwihl westlich der Stadt. Dass Wohnort und Schulort sehr weit auseinander liegen und der Busverkehr außerhalb der Schulzeiten zu jugendlichen Lebensrhythmen oft nicht so recht passen will, ist die gemeinsame Erfahrung schon vieler Jugendgenerationen.

Eine Spezialität der Region ist, dass junge Leute mit Hochschulqualifikation vor Studium und Berufsausbildung abwandern, weil hier „keine Uni um die Ecke ist“ (Fabian Leber), und sie in der Regel nicht mehr zurückkommen. „Ich weiß nicht, ob inzwischen ein Bewusstsein dafür da ist, dass man die Leute auch hier halten muss. Irgendwann hast du dann echt Probleme, da noch Leute zu finden. Diese gut ausgebildeten Leute, die kriegst du dann auch nicht mehr zurück, wenn die einmal weg sind…“ gibt Fabian Leber zu Bedenken. Er ist in Waldshut aufgewachsen und lebt in Berlin (s. auch das Gespräch mit ihm in diesem Buch).

Arbeitslosigkeit und Armut in Waldshut-Tiengen


Die SGB-II-Quote für Waldshut-Tiengen beziffert der Demografie-Bericht der Bertelsmann-Stiftung mit 7,2%, das sind knapp 1.100 Personen zwischen 15 und 65 Jahren. Kinder und Jugendliche, die Leistungen nach dem SGB II erhalten...

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