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E-Book

ICH ist manchmal ein anderer

Mein Leben mit Schizophrenie

AutorCordt Winkler
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783641230166
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Cordt Winkler war Anfang zwanzig, als die Diagnose sein Leben auf den Kopf stellte: paranoide Schizophrenie. Symptome, die er in frühen Kindertagen schon bei seinem Vater beobachtet hatte, entdeckte er nun plötzlich auch an sich selbst: Das unkontrollierbare Abgleiten von Denken und Wahrnehmung, Panikanfälle, Verfolgungswahn, Ohnmacht, freier Fall. Klinikaufenthalte. Ehrlich und mitreißend lakonisch schildert er die Dynamik der psychotischen Krise und führt den Leser tief hinein in seine, von außen betrachtet, phasenweise verrückte Innenwelt. Ein Martyrium für die Betroffenen, ein Rätsel für Angehörige und Freunde und immer noch ein gesellschaftliches Tabu. Cordt Winkler zeigt, dass es möglich ist, mit der Krankheit zu leben. Gut sogar.

Cordt Winkler, 1980 unweit der holländischen Grenze geboren, studierte Medienwissenschaften und arbeitet in einer Trendforschungsagentur. Er lebt in Berlin.

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Leseprobe

1. Der Wohnungsbesetzer

1.1. Die Flucht

Ich lehnte mich auf dem durchgesessenen Fahrersitz des Umzugswagens, mit dem ich am Morgen aus meiner Heimatstadt hergekommen war, zurück, schaltete den dröhnenden Motor aus und atmete tief durch, denn nach längerer Suche hatte ich endlich einen Parkplatz vor dem zehnstöckigen Hochhaus gefunden, in dem sich meine neue Wohnung befand. Ein paar Blätter segelten langsam zu Boden. Es war bereits Herbst geworden, und in wenigen Monaten stand der Jahrtausendwechsel bevor. Die Wohnung war nicht gerade groß. Genau genommen bestand sie aus einem Raum und einem winzigen Badezimmer. Der schmale Flur war mit einer Kochzeile ausgestattet.

Mir fiel wieder ein, wie euphorisch ich vor zwei Wochen den Vertrag für das kleine Apartment unterschrieben hatte. Ich betrachtete das Haus genauer und musste mir eingestehen, dass es recht hässlich war. Ein Baum stand im Weg, sodass ich meinen Kopf weit nach links strecken musste. Mein Blick wanderte zum Fenster der Wohnung im siebten Stock. Es war hell erleuchtet. Ich hatte mir vor der Fahrt in die Großstadt, die mein neues Zuhause werden sollte, bereits bis ins Detail ausgemalt, wie es wäre, in meiner neuen Wohnung zu übernachten. Es würde nach frischem Minztee riechen, ich würde Musik von meinen Lieblingsbands hören, auf meinem kleinen blauen Sofa liegen und lesen. Daraus würde heute wohl nichts mehr werden, denn die Wohnung war besetzt worden. Von meinem Vater, der mir beim Umzug geholfen und sich dann dort einquartiert hatte.

Er weigerte sich, das Apartment wieder zu verlassen. Eigentlich hätte er bereits am Nachmittag zurück in unsere Heimatstadt fahren sollen, doch es kam anders. Ich sah auf die Uhr und war überrascht, denn es war bereits nach neun Uhr am Abend. Ich hatte Tränen in den Augen, war verwirrt und wusste schlicht nicht, was ich tun sollte. Ich rechnete aus, dass in etwa zehn Stunden der erste Tag meines Zivildienstes beginnen würde. Ich wollte natürlich einen guten Eindruck machen, doch hatte ich zum jetzigen Zeitpunkt keine Idee, wo ich mir vorher die Zähne putzen sollte. Vom Duschen mal ganz zu schweigen. Ich schnupperte an meinem Pullover und war vom Geruch wenig angetan. Vielleicht konnte ich mir am frühen Morgen ein starkes Deo besorgen und würde in einigen Stunden auch keinen ganz so verheulten Eindruck mehr machen, hoffte ich. Ich sah erneut auf die Uhr, und mir kam der Gedanke, dass ich morgen früh in ein Schwimmbad gehen könnte, um dort zu duschen. Doch die Zeit würde wohl nicht ausreichen, um pünktlich bei der Arbeit zu erscheinen. Ich rutschte auf dem Sitz hin und her, tat einen tiefen Atemzug und schloss die Augen.

1.2. Der Umzug

Das Bild meiner Mutter beim Abschied heute Morgen kam mir in den Sinn. Sie hatte sehr unglücklich ausgesehen, als sie mir half, meine königsblauen Kommoden in den Wagen zu verfrachten. Zusammen hatten wir sie wenige Tage zuvor gestrichen und vorab gemeinsam die Farbe ausgesucht. Ich war dennoch gut gelaunt gewesen, da ich mich freute, nach dem bestandenen Abi endlich aus dem Kleinstadtmief ausbrechen zu können. Da mein Hab und Gut nicht gerade leicht war, hatte sich mein Vater bereit erklärt, mich auf der Fahrt in die Großstadt zu begleiten. Meine Eltern lebten zwar getrennt, und meine Mutter hatte einen neuen Partner gefunden, trotzdem hatte sie meinen Vater angerufen und gebeten, mir beim Umzug zu helfen. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine Anzeichen dafür, dass daraus ein Problem werden könnte. Ich war jedenfalls froh, dass ich den klapprigen Umzugswagen nicht selbst fahren musste.

Ich verabschiedete mich von meiner Mutter, während mein Vater auf dem Fahrersitz wartete. Minuten später fuhren wir Richtung Autobahn. Ich erzählte meinem Vater von dem Plan, zunächst noch bei einer nahe gelegenen Ikea-Filiale zu halten, bevor wir zu meiner neuen Wohnung fuhren. Begeistert berichtete ich ihm von meiner Idee, dort in einem Hochbett zu schlafen. Mein Vater jedoch zog seine buschigen Augenbrauen nach oben und wackelte mit dem Kopf hin und her, als hätte er bereits den gesamten Tag hinter dem Steuer verbracht und bräuchte nun Erholung.

Ich hantierte mit der zerknitterten Straßenkarte und versuchte, ihm zu erklären, welche Autobahnausfahrt wir in wie vielen Kilometern nehmen mussten, da der Wagen nicht über so etwas Fortschrittliches wie ein Navi verfügte und Smartphones auch noch nicht erfunden waren. An diesem Punkt beschwerte sich mein Vater lautstark über die Fahrt zum Möbelhaus. Als wir dann die richtige Ausfahrt verpassten, sah er mich mit aufgerissenen Augen an und machte mir Vorwürfe, dass ich die Karte nicht richtig gelesen hätte. Darüber hinaus sprachen wir nicht viel miteinander. Es dauerte fast eine Stunde, bis wir den Rundgang in der Filiale hinter uns gebracht hatten, alle Einzelteile des Bettes und ein paar zusätzliche Kleinigkeiten auf den Einkaufstrolley geladen hatten und in der Schlange standen, um endlich zu bezahlen.

Am frühen Nachmittag kamen wir an meiner neuen Wohnung an und luden die Möbel aus. Die gesamte Fahrt hatte circa drei Stunden gedauert. Ich verkündete, dass wir das Bett nun noch aufbauen müssten, bevor mein Vater zurückfahren würde. Er sah mich überrascht an. Eine weitere Stunde später hatten wir fast alle Teile zusammengeschraubt, während er ständig laut fluchte. Ich stellte fest, dass die Holzbeine falsch herum angebracht waren und es somit unmöglich war, die letzten fehlenden Schrauben anzubringen. Nun verlor er vollständig die Fassung, beugte seinen Oberkörper nach vorn und richtete seinen Zeigefinger auf mich, während er mich anschrie.

Schließlich überraschte er mich damit, dass er zur Wohnungstür ging, diese verschloss und die Schlüssel an sich nahm. Als ich ihn aufforderte, mir die Schlüssel wiederzugeben, legte er sich auf die Matratze, redete zunehmend wirr vor sich hin und behauptete, dass dies seine Wohnung sei. Ich verstand nicht, was er damit meinte. An dieser Stelle war es mir egal, dass das Bett nicht aufgebaut werden würde. Ich wurde nun ebenfalls laut und versuchte vergeblich, ihn zum Gehen zu bewegen. Schließlich gelang es mir, ihm die Schlüssel abzunehmen und die Wohnung zu verlassen, während er weiterhin unverständliche Dinge brabbelte.

Ich schluchzte vor mich hin, als ich die Wohnungstür hinter mir zuzog, und war froh, dass niemand zu mir in den Aufzug stieg, als ich nach unten fuhr. Mir fiel ein, dass ich beim Unterschreiben des Mietvertrages einen Nachbarn getroffen hatte, der ausgesprochen freundlich gewesen war. Ich hoffte, dass die Wände der Wohnung dick genug waren, sodass der neue Nachbar das Geschrei nicht mitbekommen hatte. Mit verheulten Augen flüchtete ich schließlich zurück in den Umzugswagen.

1.3. Die Klapsmühle

Niemand kannte mich hier. Genau das war meine Chance, neu anzufangen. Mein ganzes Leben lang war ich der gewesen, über den alle sprachen, weil er diesen sonderbaren Vater hatte. Zumindest hatte ich mir das eingebildet. Auch aus diesem Grund hatte ich mich für den Umzug in die Großstadt entschieden. Bei der Wohnungssuche war ich durch die neue Stadt spaziert und hatte mir ausgemalt, in welchen Cafés ich in Zukunft sitzen würde. Stattdessen hockte ich nun mit feuchten Augen in einem schäbigen Umzugswagen und wollte mich nur noch verkriechen. Immerhin hatte ich hier im Auto fürs Erste ein sicheres Refugium gefunden. Doch was sollte ich jetzt tun?

Kurz entschlossen startete ich den Motor und fuhr los. Ohne Adresse, ohne Ziel. Nach einiger Zeit wurde mir bewusst, dass ich im Kreis fuhr und an denselben Stellen bereits ein zweites und drittes Mal vorbeigekommen war. Es wurde langsam dunkel, und ich sah ein rotes Licht unter der Geschwindigkeitsanzeige leuchten. Der Tank war fast leer, und ich hatte nach wie vor keine Idee, wohin ich fahren sollte. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, den Wagen zu verlassen, um aufzutanken. Denn dies war mein geschützter Raum. Am Ende war ich wieder vor meiner besetzten, hell erleuchteten Wohnung gelandet.

Mir fiel ein, dass der Pullover und die Hose, die ich an meinem ersten Arbeitstag im Zivildienst tragen wollte, oben im Apartment lagen. Ich dachte darüber nach, zurück in meine Wohnung zu gehen, doch dann wäre das peinliche Geschrei nur von Neuem losgegangen. Mir blieb nichts anderes übrig, als weiter in meinem kleinen Refugium auszuharren. Es war nun komplett dunkel, und ich fühlte mich mehr und mehr wie damals, als ich klein war. Immer wenn meine Eltern stritten, hatte ich mir ein imaginäres Zimmer vorgestellt. Es war ein kleiner Raum zwischen den Mauern hinter der bunten Tapete, in den ich mich verkriechen konnte.

Ich schaltete das Autoradio an und erschrak vor der gut gelaunten Stimme des Moderators. Der nächste Sender spielte klassische Musik, die ebenfalls nicht zu meiner Stimmung passte. Schließlich schaltete ich das Radio wieder aus. Ich wollte nichts mehr sehen oder hören. Ich kletterte nach hinten und versuchte, die Augen zu schließen. Doch die alten Bilder ließen mich nicht los. Ich musste daran denken, wie ich früher als Kind auf der Rückbank gesessen hatte. Meist spielte meine Mutter mit mir ein paar Spiele, um mich während der langweiligen Fahrt abzulenken. Zum Beispiel ging es darum, VW-Käfer auf der Straße zu zählen, von denen es in den Achtzigern etliche gab. Während einer Fahrt, konnte ich mich erinnern, hatte meine Mutter jedoch keine Lust auf diese Spiele. Sie fokussierte ihren Blick auf die Bundesstraße und versuchte, mir zu erklären, wohin wir fuhren.

»Wir besuchen Papa«, sagte sie.

Warum er nicht zu Hause sei, wollte ich wissen.

»Er ist gerade in der Psychiatrie«, fuhr sie fort.

»Ist das so etwas wie eine Klapsmühle?«, wollte ich wissen. Das Wort musste ich irgendwo aufgeschnappt haben. Psychiatrie...

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