Als Grundsätze der Weiterentwicklung der Chemiepolitik gelten in der EU die Anwendung des Vorsorgeprinzips und des Prinzips der Beweislastumkehr. Dem steht das Prinzip der adäquaten Höhen der Kosten einer Maßnahme entgegen. Diese Politikgrundsätze können insbesondere im Hinblick auf die Reduktion des Expositionspotentials eines Stoffes, der persistente und bioakkumulierende Eigenschaften in der Umwelt hat, von Vorteil sein. Dadurch kann die Beweislastumkehr eindeutig auf den Produzenten oder Importeur des Stoffes angewandt werden7. Der Annahme, dass eine Chemikalie bis zum Eintritt eines Schadens als bedenkenlos gilt, kann durch die Evidenz der Toxizität oder einer anderen Belastung besser vorgebeugt werden. Es wird im Allgemeinen davon ausgegangen, dass dies eine verhältnismäßigere und kostengünstigere Vorgangsweise darstellt8. Das Verursacherprinzip wird bei diesem Verfahren nur unzureichend angesprochen. Es wird zum Teil durch das Prinzip der Beweislastumkehr abgedeckt.
Die Reduktion der Exposition in den verschiedenen Stadien des Lebenszyklusses von Chemikalien ist ein Ziel der Risikobewertungsstrategie. Die immanenten Probleme des Mangels an Daten und der langen Dauer der Risikobewertungsverfahren haben zu einer verstärkten Konzentration auf die Expositionsproblematik geführt. Die Reformen in der EU haben diesen Prozess in den letzten Jahren beschleunigt.
Der Ansatz der integrierten Vermeidung und Verminderung von Umweltverschmutzung (Integrated Pollution Prevention and Control (IPPC)) geht dagegen von einem interaktiven Konzept aus. Die OECD Empfehlung von 31.07.1997 definiert IPPC folgendermaßen:
Unter Berücksichtigung, dass Stoffe sich zwischen den Umweltmedien (Luft, Wasser, Boden, Biota) bewegen können, während sie von einer Quelle zu einem Empfänger bewegen und in dieser Umwelt sich akkumulieren können;
Unter Berücksichtigung, dass die Kontrolle über die Freisetzung eines Stoffes in einem Umweltmedium in der Übertragung in ein anderes Umweltmedium enden kann;
Unter Berücksichtigung, dass in manchen Ländern die Kontrolle der Umweltverschmutzung jedes einzelne Umweltmedium berücksichtigt, und die Kontrolle der Vermarktung und Verwendung der Stoffe in getrennten Aktivitäten ausgeführt wird ist man übereingekommen, dass das Konzept den Stoff, die Quelle (kann industrielle Verfahren Produkte und wirtschaftliche Sektoren beinhalten) und die geografische Region beinhaltet.
Dieses Konzept stellt daher ein integratives Monitoringkonzept für die Freisetzung von Stoffen dar, das den Lebenszyklus des Stoffes mitberücksichtigt, und darf als Grundlage der Arbeit in allen Mitgliedsstaaten der OECD verstanden werden. Die Mobilität eines Stoffes ist aber nach wie vor ein wenig greifbares Kriterium in der Bewertung von Chemikalien, auch wenn sie sich über physikalische Eigenschaften gut definieren lässt (Siedepunkt eines Stoffes).
Alle diese Maßnahmen können aber nicht die Eigenverantwortung der Akteure ersetzen. Seit der Rio Erklärung zu Umwelt und Entwicklung von 1992 ist daher eine Diskussion um eine Reihe von Rechtsgrundsätzen, die verstärkt in der Chemiepolitik Anwendung finden sollen, in Gang gekommen. So trifft vor allem das Prinzip 15, das Vorsorgeprinzip, den Kern der derzeitigen Diskussion: In order to protect the environment, the precautionary approach shall be widely applied by States according to their capabilities. Where there are threats of serious irreversible damage, lack of full scientific certainty shall not be used as a reason for postponing cost-effective measures to prevent environmental degradation. Das Vorsorgeprinzip lässt daher bei einem geringeren Ausmaß der Beweislast der Gefahr die Umsetzung einer konsequenten Politik vor allem dann zu, wenn nur mit erheblichem finanziellen oder irreversiblen Mehraufwand die Beweislastumkehr angewendet werden könnte. Damit präsentiert sich die OECD als offene Plattform in der Diskussion um mehr Chemikaliensicherheit.
Bis in die frühen neunziger Jahre war es in der Europäischen Gemeinschaft (EG), wie in vielen OECD Ländern, eine der Kernaufgaben der Chemiepolitik die Dimension des Problems zu erfassen. Die Anzahl der chemischen Stoffe, die in Verwendung waren, war nicht konkret bekannt. Aufgrund des European Inventory of Existing Commercial Chemicals (EINECS), das 1981 erstellt wurde, sind 100.116 chemische Verbindungen in Produktion, bzw. befinden sich im Handel. Schätzungen variieren zwischen 20.000 und 70.000 Verbindungen9, die vermarktet werden. Dazu kommen pro Jahr mehrere hundert neue Verbindungen, die erstmals am Markt erhältlich sind. Die Politik der Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien (Registration, Evaluation, Authorization and Restriction of Chemicals (REACH)) dürfte hier mehr Klarheit schaffen. Bis Ende 2012 wurden mehr als 140.000 Stoffdateien angemeldet[8].
Ein weiteres zentrales Problem bei der Handhabung der Chemiepolitik für diese Stoffe ist die Verfügbarkeit von Daten über ihre Auswirkungen auf den Menschen und die Umwelt, ohne die eine Zuordnung eines Gefahrenpotentials nicht möglich ist. So sind etwa für 75% der 2.000 – 3.000 Chemikalien, die in Mengen über 1000 Tonnen/Jahr produziert werden, keine vollständigen Daten über die Toxizität und Ökotoxizität nach den Anforderungen der OECD verfügbar10. Der Aufbau von elektronischen Datenbanken gehört daher seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu den vordringlichsten Aufgaben, um die Probleme im allgemeinen und im speziellen systematisch erfassen zu können. Die zunehmende Verfügbarkeit von Daten, und der andererseits bei vielen Stoffen noch immer weitgehend fehlende Datenbestand hat zur Entwicklung von anlagenbezogenen und stoffbezogenen Simulationsprogrammen geführt, die durch die laufende Zunahme an Daten ständig verbessert werden. Seit dem Gipfel von Johannesburg (2002) übernimmt die OECD eine verstärkte Koordinationsrolle auf der technischen Ebene in internationalen Gremien.
Diese Mängel bei der Umsetzung der politischen Anforderungen, die bisherige EU-Chemikalienpolitik und der daraus resultierende unzureichende Schutz, führten zu einer Diskussion der Umweltminister auf der informellen Ratstagung im April 1998 in Chester im Vereinigtes Königreich. In Anerkennung der Tatsache, dass eine Überprüfung der bisherigen Chemikalienpolitik notwendig war, verpflichtete sich die Europäische Kommission (EK) zum Vorsorgeprinzip und der praktischen Durchführung von vier wichtigen Rechtsvorschriften, denen Chemikalien unterliegen, in einer Entschließung des Europäischen Rates von Nizza im Dezember 2000[9]. Sie verpflichtete sich die Richtlinie 67/548/EWG des Rates über die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Stoffe in der geänderten Fassung[10], die Richtlinie 88/379/EWG über die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Zubereitungen[11], die Verordnung EG/793/93 des Rates zur Bewertung und Kontrolle der Umweltrisiken chemischer Altstoffe[12] und die Richtlinie 76/769/EWG über Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung gewisser gefährlicher Stoffe und Zubereitungen[13], denen die Gemeinschaft unterworfen ist, zu überprüfen. Der Bericht über die Bewertung wurde im November 1998 von der EK und vom Rat im Dezember 1998 angenommen.
Diese obigen vier Rechtsvorschriften decken ein breites Spektrum von Stoffen unterschiedlichen Ursprungs ab (z. B. Industriechemikalien aus natürlichen Produkten, Metalle, Mineralien usw. hergestellte Stoffe). Sie regeln die für diese Stoffe durchzuführenden Prüfungen und legen Maßnahmen zur Risikobegrenzung fest. Darüber hinaus legen sie die Verpflichtung zur Vorlage sicherheitsrelevanter Informationen für die Verbraucher (wie Kennzeichnung, Sicherheitsdatenblätter) fest. Neben diesen vier Rechtsinstrumenten bestehen spezifische Rechtsvorschriften für bestimmte Sektoren und Bereiche, wie Pflanzenschutzmittel, kosmetische Mittel, Biozide, Nanomaterialien und für den Transport gefährlicher Güter. REACH versucht den Rahmen für alle diese Fragestellungen rechtlich und technisch bereitzustellen. Darüber hinaus besteht eine Reihe von nationalen Unterschieden in Detailfragen. Es bleibt hier noch festzuhalten, dass die EU erst ab 2017 über eine eigene Rechtspersönlichkeit verfügt. Damit werden Haftungsfragen resultierend aus Entscheidungen zu REACH bis dahin bei den MS verbleiben.
Angesichts der Ergebnisse der zuvor eingeleiteten Analyse veranstaltete die EK im Februar 1999 ein Brainstorming mit mehr als 150 interessierten Parteien – Vertretern von Regulierungsbehörden, Wissenschaftlern, der Industrie, von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) für Umwelt- und Verbraucherschutz sowie den damals beitrittswilligen Ländern – und so konnte sich die EK ein abgerundetes Bild von den Problemen und Lösungsmöglichkeiten verschaffen.
Im Juni 1999 verabschiedete der Rat eine Reihe von...