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E-Book

Kurt Landauer

Der Mann, der den FC Bayern erfand. Eine Biografie

AutorDirk Kämper
VerlagOrellFüssli
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783280038390
Altersgruppe13 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Kurt Landauer war 1913/1914, von 1919 bis 1933 sowie von 1947 bis 1951 Präsident des FC Bayern. Er führt ihn 1932 zur ersten Deutschen Meisterschaft, doch fast im selben Moment wird sein Lebenswerk zerstört. Landauer wird - wie fast alle Juden - entrechtet, enteignet und misshandelt. 1939 gelingt ihm die Flucht in das Exil in die Schweiz. Obwohl vier seiner Geschwister von den Nazis ermordet wurden, kehrt Landauer 1947 nach München zurück. In eine zerstörte Heimat, in der die Täter keine Reue zeigen. Doch Landauer bleibt im 'Land der Mörder' und beginnt mit dem Wiederaufbau 'seines' FC Bayern.

Dirk Kämper, geboren 1963, studierte Architekturgeschichte, Germanistik und Geschichte. Er ist Journalist und Drehbuchautor für ARD und ZDF und wechselt zwischen den Bereichen Wissenschaft, Geschichte und Krimi (Tatort, Polizeiruf 110 u. v. a. m.) immer wieder das Genre. Er lebt mit Frau und Tochter in der Eifel an der belgischen Grenze.

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Leseprobe

München-Schwabing, Clemensstraße – Mai 1901

Monarchie, Anarchie und freilaufende Torhüter

»Ja laafst halt do hi!« Er schreit, wie er noch nie im Leben geschrien hat: Der Angeschriene steht drei Meter vor ihm, ist etwa zwei Köpfe größer, Anfang zwanzig und damit mindestens vier Jahre älter als Kurt Landauer. Landauer ist Tormann der zweiten Bayernmannschaft.7 Es geht gegen die Erste, zu erkennen an den strahlend hellen, blau-weißen Trikots.8 Zu seinem Entsetzen dreht sein Vordermann sich nun auch noch zu ihm um. Er scheint daran zu zweifeln, ob er das Gesagte wirklich richtig verstanden hat. Landauer hätte besser auf Hochdeutsch geschrien. Andererseits scheint dem hochgewachsenen Abwehrspieler trotz längeren Sinnierens offenbar nichts einzufallen, was ein solches Geschrei aus einer Männerkehle rechtfertigen würde. Geschrien wird beim Militär und auf dem Markt, nicht auf einem Fußballplatz, auf dem es durchaus bewegt, aber ganz sicher nicht zügellos zugeht. Also hat sich Landauers Mitspieler umgedreht und geht nun mit leicht schräg gelegtem Kopf auf seinen Torhüter zu, um sich zu versichern, dass mit seinem Kameraden alles in Ordnung ist. Landauer verzweifelt. Der Gegner stürmt heran, und die letzte Bastion vor dem Tor läuft in die falsche Richtung. Landauer rennt los.

Der Grund, warum er nach einigen Wochen des Probierens im Umgang mit dem schwer berechenbaren Ball ausgerechnet im Tor gelandet ist, sind sicher nicht in seine 1,70 Meter Körpergröße. Wenn die gegnerischen Stürmer es wirklich bis vor sein Tor schaffen, steht er meist vor größeren Problemen. Also lässt er es selten so weit kommen. Man hat ihn ins Tor gestellt, weil er trotz seiner kompakten Masse sehr schnell spurten kann. Und viel wichtiger noch: Er scheint, was die eigene und fremde körperliche Unversehrtheit anbelangt, völlig angstfrei zu sein. Er rennt, sobald Gefahr droht, mit aller Kraft in Richtung Ball, oft schon, wenn der gerade mal die Mittellinie überquert hat. Wenn er es nicht rechtzeitig schafft, den Ball mit den Händen zu sichern, wirft er sich dem Gegenspieler möglichst breit wie ein gefällter Baum vor die Füße.

Es wird wieder knapp. Er hat seinen besorgten Abwehrspieler längst hinter sich gelassen, spurtet, was das Zeug hält. Dieses merkwürdige Phänomen, dass sich die Zeit dehnt, je schneller man unterwegs ist, kennt er erst, seit er das Fußballspiel für sich entdeckt hat. Nie zuvor hat er sich so verausgabt wie beim ersten Mal. Natürlich rannte er damals auch immer dahin, wo der Ball gerade war. Nach einer Viertelstunde dachte er, ihm würde die Lunge wegbrennen. Die erfahrenen Mitspieler erklärten ihm in der Pause ein, zwei grundlegende Dinge, aber auch dann rannte er noch, als ginge es um sein Leben. Er schlidderte, rutschte und kugelte sich das Bein halb aus, weil der Ball längst woanders war, als sein schussbereiter, energiegeladener Fuß die Luft zerteilte. Er wurde umgestoßen, man erwischte ihn am Schienbein und ließ ihn saublöd ins Leere laufen. Mindestens zwei Mal befürchtete er eine Erschöpfungsohnmacht, aber diesen Gedanken vergaß er ganz schnell, er musste weitermachen, er war ja schließlich nicht allein auf dem Platz, man brauchte ihn, man setzte auf ihn. Am Ende stand er da mit zitternden Knien, einer blutenden Schramme am Bein, mit Schmerzen innen, außen, oben und unten. Zudem voll Dreck und Schweiß. Eigentlich genau so, wie Dr. Wittstock es auf dem Schulhof apokalyptisch ausgemalt hatte. Aber Dr. Wittstock, der Theoretiker, hatte am Ende in einem ganz wesentlichen Punkt unrecht: Noch nie hatte er sich so gut gefühlt wie in diesem Moment. Es war eine völlig unbekannte Euphorie, die alle Schmerzen und Blessuren zu einem ebenso stillen wie lodernden Jubel zusammenzwang.

Es gibt Tage, die halten ein Leben lang.

Er rennt auf den blau-weiß gekleideten Spieler zu, kurz vor der drohenden Kollision lässt er seinen kräftigen Körper quer auf den Boden fallen. Der Ball prallt an seiner Schulter ab, und wie ein Soldat unterm Drahtverhau robbt er auf Händen und Knien hinterher, Mitspieler des Angreifers sind zur Stelle, er liegt im Gewühl der Stutzen und Schuhe, die plötzlich gefährlich dicht um seinen Kopf herum den Rasen aufwühlen. Er bekommt Grassnarben und Dreckbrocken ins Gesicht. Für einen winzigen Moment ist sein ganzes Bewusstsein erfüllt vom Duft nach nasser, frischer Erde. Er angelt weiter mit den Händen, erwischt ein Bein, jemand fällt. Er hat den Ball sicher und zieht ihn zu sich ran. Pfiff. Auf der Stelle beruhigt sich, was gerade noch wild und ungestüm war. Kurt Landauer steht auf, bereit, den Lohn für seinen Einsatz zu empfangen. Aber er steht allein da. Die anderen haben eine Traube um den Schiedsrichter gebildet und diskutieren. Argumente werden ausgetauscht. Die Regeln sind nicht ganz einfach, zudem werden sie immer wieder geändert. Schließlich trifft der Schiedsrichter eine Entscheidung: Freistoß! Kurt Landauer blickt sich verunsichert um. »Ja wie? I derf doch den Ball bis zur Mitt’n in d’Hand …«9 Der Abwehrspieler, der sich gerade noch Sorgen um Landauer gemacht hatte, klopft ihm freundlich auf die Schultern: »Scho recht, Bub! Hätt’schen halt net umg’haue, den hätt i scho g’hätt.« Landauer nickt artig, er wird bestimmt nicht widersprechen, mit seinen sechzehn Jahren. Er entschuldigt sich formvollendet bei dem Spieler, den er von den Beinen geholt hat. Es ist Pollack, sein Idol. Auch das noch. Auf dem Weg zum Tor ärgert er sich, dass sein Plan nicht aufgegangen ist, jetzt wird’s wieder eng, wenn der Ball hoch reinkommt. Und das bei einem Spielstand von 12:2 für die Erste!

Pollack wird den Freistoß ausführen. Landauer bewundert niemanden mehr als den schnellen Bayern-Spieler. Er stand als Zuschauer an der Seitenlinie, als Pollack und die Bayern den FC Nordstern mit 15:0 vom Platz fegten. Ab da war klar, dass die Blau-Weißen der Verein seiner Wahl würde. Nicht der MTV, nicht Bavaria und schon gar nicht Nordstern.

Landauer steht im Tor. Es ist das neue Tor. Bislang hatten sie immer vor dem Spiel zwei Stangen in Löcher im Boden versenkt und eine Querstange oben eingehängt. Mindestens einmal pro Spiel war die ganze Konstruktion dann zusammengekracht, und als Torhüter musste man höllisch aufpassen, dass einem der Balken nicht auf den Schädel fiel. Aber mit dem neuen, nun fest verschraubten Tor kann das nicht mehr passieren. Pollack tritt vom Ball zurück, um Anlauf zu nehmen.

»He, Kurt, den hältst!«

Ihm schießt das Blut in den Kopf. Alfons! Er hat keine Zeit mehr, den Blick zur Seite zu wenden. Pollack läuft schon an. Was macht sein kleiner Bruder hier? Das wird Ärger geben. Der Ball kommt geflogen. Alfons, woher weiß der, wo ich bin? Der Ball senkt sich steil in den Strafraum, er muss zusehen, dass er ihn vor den anderen fängt. Und aufpassen, dass sie ihn dabei nicht umhauen. Wenn er den Ball erst mal hat, muss er rennen wie ein Wiesel, raus aus dem Gewühle, in dem sie versuchen werden, ihm den Ball wieder aus den Händen zu rempeln. Es misslingt zunächst, der Ball springt auf und steigt wieder hoch. Erst jetzt kann er ihn fassen, sofort kommt ein heftiger Rempler von rechts, er strauchelt, nur jetzt nicht loslassen, der nächste heftige Stoß von links, er stolpert mehr als dass er läuft, im Fallen, im letzten Moment wirft er den Ball einem Mitspieler zu. Faktisch war die Rettungsaktion völlig unerheblich; er hat lediglich das 13:2 verhindert. Aber es ist trotzdem ein gutes Gefühl. Sogar Ludwik Eicke, seines Zeichens Philosophiestudent und zuständig für die Bayern-Jugend, kommt nach dem Spiel und klopft ihm auf die Schulter.

Alfons, schmächtig, hüpft wie ein bockendes Pferd am Spielfeldrand auf und ab. »Kurt! Du bist der Größte!«

Er geht neben seinem kleinen Bruder her auf die ersten großen Schatten der Stadt zu. Am Fußballplatz der Bayern, an der Clemensstraße, ist Schwabing noch ein Dorf – viel Grün, vereinzelte Häuser, Landwirtschaft. Ab und an kommt ein Pferdefuhrwerk vorbei. Doch schon ein, zwei Straßen weiter steht die Stadt wie eine Mauer. München wächst so rasant, da bleibt keine Zeit für sanfte Übergänge. Dörfer werden einfach überrollt. Und zwar so schnell, dass manche ländliche Idylle gar keine Zeit hat zu kapitulieren. Weshalb sie einfach weitermacht, als sei nichts geschehen. Das Ergebnis – in diesem Fall Schwabing – ist ein, wie er findet, sehr merkwürdiges Nebeneinander von in frischer Farbe erstrahlenden, hoch aufschießenden Mietskasernen und alten, windschiefen Bauernhäusern mit dem einen oder anderen verwunschenen Vorstadtschlösschen dazwischen. Gerade die Zugereisten mögen das, hat ihm sein Bruder Paul erklärt. Was auch immer sie daran schön finden.

Er schimpft nicht mit Alfons, das macht er nie, Alfons tut ja auch nie etwas Böses. Er macht nur jede Menge falsch. Und genau so viel mutwilligen Unsinn, aber er tut es nie aus...

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