Um das individuelle Lesekompetenzniveau festzustellen, bedarf es einer Lesediagnose. Das Wort Diagnose wird als das Erkennen einer Krankheit definiert (vgl. Meyers Lexikonredaktion 1995, S. 205). Bezogen auf das Lesen meint die Definition das Erkennen und Feststellen einer Leseschwäche, die - durch entsprechende Fördermaßnahmen - bestmöglich behandelt bzw. behoben werden kann. Häufig offenbart erst eine Diagnose, welche Schwierigkeiten Kinder beim Lesen haben. Der Lehrer bzw. größere Untersuchungsgremien (wie z.B. bei den Schulleistungsvergleichsstudien) übernehmen in diesem Fall die Rolle eines Diagnostikers.
Lesekompetenz ist eine unbedingte Voraussetzung in unserer Gesellschaft. Nur wer ausreichend gut lesen kann, hat in der heutigen Zeit die Chance, sein Leben so zu gestalten, dass ein hoher Grad an persönlicher und beruflicher Zufriedenheit erreicht werden kann. Bei vielen Fünftklässlern ist die Lesekompetenz nicht ausreichend entwickelt. Sie bedürfen einer Leseförderung. Diese wiederum kann nur sinnvoll sein, wenn vorher eine Lesediagnose durchgeführt und das jeweilige Lesekompetenzniveau ermittelt wurde.
Aufgrund der Anwendung von Lesediagnoseverfahren sind Lehrer in der Lage - je nach Grad der Professionalisierung -, Kinder individuell zu fördern. Durch Lesediagnosetests erhalten sie notwendige, weit gehend objektive und hilfreiche Informationen bzw. Grundlagen, um eine individuelle und differenzierte Förderung ausführen zu können (vgl. Wehrhahn 2005, S. 19) und so das Lesekompetenzniveau der Schüler zu erhöhen. Es werden verschiedene Lesediagnoseinstrumentarien unterschieden (z.B. Tests, persönliche Beobachtungen).
Schulleistungsvergleichsstudien wie PISA und IGLU widmen sich u.a. der Diagnose der Lesekompetenz von Schülern und vergleichen die Ergebnisse national wie international, um zuverlässigere Informationen über die Effektivität der Schulsysteme verschiedener Länder zu erhalten.
Die PISA-Studie wird in bestimmten zeitlichen Abständen (2000, 2003, 2006) durchgeführt. Hierfür werden Leistungen 15-jähriger Schüler erfasst, bezogen auf die Bereiche Lesekompetenz, naturwissenschaftliche und mathematische Grundbildung. In jedem der Testjahre wird der Leistungsstand der teilnehmenden Schüler in einem Bereich besonders intensiv geprüft, im Jahr 2000 war dies die Lesekompetenz. Circa 180.000 15-jährige Schüler aus 32 Staaten nahmen an der PISA-Studie 2000 teil. Der Test teilte sich in Multiple-Choice- und in offene Fragen verschiedener Schwierigkeitsgrade, die, nachdem Texte realitätsnaher Situationen gelesen wurden, zu beantworten waren (vgl. Baumert u.a. 2001, S. 17-18).
Die Ergebnisse der ersten PISA-Studie zeigten, dass fast zehn Prozent der deutschen 15-jährigen Schüler Texte, die sie lasen, nicht verstanden (vgl. Schön 2002, S. 72). Der Anteil der deutschen Schüler, die beinahe gar nicht lesen konnten, war (gemäß Buchmanns Vortrag) fast doppelt so hoch wie im OECD- (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) Durchschnitt; vor allem Jungen waren auf den unteren Kompetenzstufen überrepräsentiert.
Die Mädchen besaßen sowohl eine wesentlich höhere Lesekompetenz (vgl. ebd., S. 81) als auch, gemäß Buchmann (Vortrag), Lesegeschwindigkeit.
42 Prozent der Schüler lasen nicht zum Vergnügen (vgl. Jansen 2005, S. 49). In Deutschland gelingt es Schulen kaum, Unterschiede, die durch die sprachliche, kulturelle sowie soziale Abstammung der Schüler zu Stande kamen (und sich auf ihre Schul- bzw. Leseleistung auswirkten), wettzumachen (vgl. Brinkmann 2005, S.4).
Auch bei den Ergebnissen der PISA-Studie aus dem Jahr 2003, die Lesekompetenz nicht schwerpunktmäßig testete, zeigten sich diesbezüglich keine auffälligen positiven Veränderungen. International verglichen befanden sich die deutschen Schüler im Mittelmaß, sie wiesen beträchtliche Defizite in allen getesteten Bereichen auf (vgl. Friedmann 2005, S. 71).
Die IGLU-Studie testete im Jahr 2001 in 35 Staaten das Leseverständnis von Schülern am Ende des vierten Jahrgangs. An einem ersten Testtag wurde die Lesekompetenz (IGLU) und an einem zweiten Termin (IGLU-E) in Deutschland zusätzlich die Bereiche Naturwissenschaften, Rechtschreiben, Mathematik und Aufsatzschreiben überprüft (vgl. Lankes u.a. 2003, S. 7). Bei dem Leseverständnistest lasen die Schüler Kurzgeschichten still, um im Anschluss daran textbezogene Fragen auf verschiedenen Schwierigkeitsniveaus zu beantworten (vgl. Bos u.a. 2003, S. 76).
Unter den 35 Teilnehmerländern erzielten Deutschlands Grundschüler einen Platz im oberen Leistungsdrittel (vgl. ebd., S. 101), lagen „im Durchschnitt auf der Höhe der teilnehmenden Länder aus der Europäischen Union“ (ebd., S. 101).
Interessant war, „dass z.B. Länder wie Frankreich oder Norwegen, die in der PISA-Studie signifikant besser als Deutschland abgeschnitten hatten, mit ihren Ergebnissen auf der Gesamtskala Lesen in IGLU signifikant unter denen in Deutschland erreichten liegen.“ (Ebd., S. 101) Bei IGLU kristallisierten sich in Bezug auf die Lesekompetenz im Gegensatz zu PISA keine Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen heraus (vgl. Willing 2004, S. 55).
Was für einen Sinn machen Schulleistungsvergleichsstudien? Positiv - neben der relativ großen Zahl getesteter Schüler (hohe Validität) - an den beschriebenen Studien ist, dass sowohl eine Qualitätskontrolle geliefert als auch Hilfestellungen für eine Qualitätssicherung und -verbesserung der Bildungssysteme geboten werden. Gut abschneidende Länder (z.B. Finnland) erhalten durch die Studien eine Vorbildfunktion für weniger erfolgreiche Länder. Bei komparativen Schlussfolgerungen ist allerdings darauf zu achten, dass in jedem Land Heterogenität vorherrscht, Verallgemeinerungen und uneingeschränkte Übernahmen nur unter Vorbehalt angebracht sind.
Der Kontext wird in den Studien nicht umfassend berücksichtigt. „Aufgrund der altersbasierten Stichprobe, die keine ganzen Klassen enthält, sind Klassenkontexte sowie das Wissen und Handeln von Lehrerinnen und Lehrern kein expliziter Untersuchungsgegenstand. Zentrale Qualitätsmerkmale von Unterrichtsprozessen wurden zwar fachspezifisch aus Schülersicht erfasst; sie sind jedoch aufgrund der Anlage der Untersuchung nicht auf Klassenebene aggregierbar.“ (Baumert u.a. 2001, S. 33) Zur Optimierung des Lesekompetenzerwerbs ist es aber sinnvoll, kontextabhängige Merkmale zu berücksichtigen. Darüber hinaus testen Lesekompetenztests lediglich das, was sie selber als Kompetenz definieren. Es handelt sich hierbei um keine klar definierbaren Größen wie z.B. Geschlecht und Alter.
Aufgrund der Ergebnisse insbesondere der PISA-Studie 2000, die deutschen Schülern und Schulen ein schlechtes Zeugnis ausstellte, ist Bildungspolitik hier zu Lande ein Schlüsselthema geworden. Vielfach wird seither vom ´PISA-Schock` gesprochen. Aus den angeführten Studienergebnissen wird ersichtlich, wie wichtig Lesediagnostik und anschließende -förderung für deutsche Schüler sind. Bei genauerer Betrachtung der in Kurzform dargestellten ausgewählten Resultate fallen die verhältnismäßig guten Leseleistungen der Grundschulkinder (IGLU-Studie) im Vergleich zu den schwächeren Leseleistungen der älteren Schüler auf.
Hier stellt sich die Frage - unterstellt, dass die von PISA getesteten 15-jährigen Schüler am Ende ihrer Grundschulzeit genauso gut waren wie die heutigen Viertklässler (IGLU) -, was nach der Grundschule in Bezug auf Lesekompetenzentwicklung versäumt wird, da die relativ guten Leseleistungen eher absinken? Vielfach wird der Lesediagnostik und -förderung in den weiterführenden Schulen nicht mehr die Bedeutung zugemessen, die ihnen zusteht, da der Leselernprozess formal bereits abgeschlossen ist (s. Pkt. 7.1). Lesediagnose und -förderung sind aber auch in der Sekundarstufe I noch von Bedeutung. Gerade in der fünften Jahrgangsstufe, nach dem Wechsel von der Grundschule in eine andere Schulform, sollte deshalb versucht werden, die relativ guten Leistungen der Grundschüler konstant zu halten bzw. diese weiter zu verbessern.
Neben den schulübergreifenden Lesediagnosetests gibt es auch für den schulinternen Gebrauch diverse Tests bzw. Möglichkeiten, die Lehrer eigenständig und in regelmäßigen oder unregelmäßigen Abständen anwenden können, um die Lesekompetenz ihrer Schüler jahrgangs- und/oder klassenintern zu überprüfen. Geeignete Fördermaßnahmen können, je nach individuellem Bedarf, kurzfristig ab- und eingeleitet werden.