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E-Book

Literaturtheorien zur Einführung

AutorOliver Simons
VerlagJunius Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl195 Seiten
ISBN9783960600350
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Auf der Grundlage von konkreten Analysen einflussreicher Texte bietet diese Einführung einen neuen systematischen Zugang zum Kanon der Literaturtheorie. Anhand der semiotischen Unterscheidung von Bedeutung, Zeichenträger und Referent gliedert sich der Band in drei Kapitel. Als Theorie der Bedeutung wird die Hermeneutik von Wilhelm Dilthey, Hans-Georg Gadamer, Peter Szondi und Paul Ric?ur vorgestellt. Das zweite Kapitel rekonstruiert die Psychoanalyse Sigmund Freuds und Jacques Lacans, den Strukturalismus und Poststrukturalismus von Roland Barthes, Jacques Derrida und Paul de Man als Zeichentheorien. Im dritten Kapitel schließlich werden Theorien der Gesellschaft (Adorno, Luhmann), Kultur (Lévi-Strauss, Geertz), Geschichte (Foucault, Greenblatt), Körper (Kristeva, Butler) und Medien (Baudrillard, Kittler) als Modelle von Referenz diskutiert.

Oliver Simons ist Associate Professor am Department of Germanic Languages and Literatures der Harvard University.

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Leseprobe

I. Theorien der Bedeutung


Wilhelm Dilthey


Mit seinem 1900 veröffentlichten Aufsatz über die Entstehung der Hermeneutik setzt Wilhelm Dilthey (1833–1911) eine anhaltende Diskussion in Gang. Sein knapper historischer Abriss wird später häufig zitiert, mitunter auch als eine Geschichtsdarstellung, die der Korrektur bedarf. Hans-Georg Gadamer, Manfred Frank oder Peter Szondi etwa erzählen die Entwicklung der Hermeneutik anders. Seit Dilthey aber sind hermeneutische Theorien unter anderem daran zu erkennen, dass sie ihren Ansatz im Rückblick auf ihre eigene Geschichte entwickeln. Die Hermeneutik bezieht sich nicht nur auf historische Gegenstände, sie begreift sich selbst als historische Lehre des Verstehens.

Hermeneutik leitet sich vom griechischen Verb hermēneúein her – »übersetzen«, »auslegen«, »interpretieren« – und kann sich auf völlig unterschiedliche Textsorten beziehen. In der Antike und im Mittelalter diente sie vor allem der Auslegung juristischer oder biblischer Schriften, erst Ende des achtzehnten Jahrhunderts dehnt sie ihre Anwendungsbereiche auf historische Dokumente und literarische Texte aus. Aber nicht nur der Gegenstand hermeneutischer Interpretationen ändert sich, sondern die Theorie als solche ändert sich grundlegend. Von der philologischen Lehre der Interpretation und Auslegung von Texten ist die Hermeneutik als philosophische Theorie des Verstehens strikt zu unterscheiden. Beide Formen der Hermeneutik, Philologie und Philosophie, haben ihre je eigenen Entwicklungsgeschichten, die immer wieder aufeinandertreffen, sich verschränken und überschneiden, gerade darum aber der Unterscheidung bedürfen. Wilhelm Dilthey etwa bezieht sich zwar häufig auf die Philologie, seine eigenen Schriften sind aber der philosophischen Hermeneutik zuzurechnen. Obwohl er die Literaturwissenschaften nachhaltig geprägt hat, ist eine konkrete methodische Anleitung zur Interpretation von Texten bei ihm nicht zu finden – und auch nicht zu erwarten. Die Literatur ist für Dilthey weniger Gegenstand hermeneutischer Lektüren als vielmehr Modell einer allgemeinen Verstehenslehre. Ein Schlüsselbegriff seiner Theorie ist das psychologische »Nacherleben«, das »Nachfühlen fremder«, und das heißt bei ihm: vergangener »Seelenzustände«. Philologie und Geschichte sollen das »Nachverständnis des Singulären zur Objektivität« erheben. Wie genau aber dieses Ziel zu erreichen ist, so wird sich zeigen, erklärt Dilthey nicht in methodischer Hinsicht, sondern im Sinne einer allgemeinen Theorie des Verstehens.

Für Dilthey hat das Nacherleben eine Art therapeutische Funktion. Seine eigene Gegenwart nimmt er als krisenhafte Epoche wahr, der »moderne Mensch« lebe in einer entfremdeten Zeit, weil ihm der Bezug zur Geschichte und damit zu all jenen Dingen fehle, die er selbst hervorgebracht hat. In der von den Naturwissenschaften dominierten Moderne soll die Hermeneutik eine Perspektive eröffnen, aus der diese Entfremdung von der Geschichte und die Distanz zu sich selbst überwunden werden kann. In Diltheys Idealbild ist Geschichte daher in einem ganz wörtlichen Sinne erfüllend. Das »historische Bewußtsein« ermögliche es »dem modernen Menschen, die ganze Vergangenheit der Menschheit in sich gegenwärtig zu haben: über alle Schranken der eignen Zeit blickt er hinaus in die vergangenen Kulturen; deren Kraft nimmt er in sich auf und genießt ihren Zauber nach: ein großer Zuwachs von Glück entspringt ihm hieraus.« (Dilthey 1900/ 1957, 317) Wie ein olympischer Betrachter überschaut der Historiker die Geschichtslandschaft, er hat eine Art panoramatischen Blick auf die Vergangenheit, ist damit aber auch über seine eigene Zeit erhaben.

Beschreibungen wie diese sind charakteristisch für Diltheys Argumentationsstil. Die vielleicht auffälligste Denkfigur seiner Texte ist ein dialektisches Widerspiel von innen und außen: Der Blick hinaus ist erhebend für das Innere, die historischen Dokumente wiederum sind »Individuationen«, ein Ausdruck also, der Einblicke in fremde Seelen gewährt. Als »wissenschaftliche Erkenntnis der Einzelperson« ist Diltheys Hermeneutik zwar auf Schriftstücke und Denkmäler angewiesen, aber die historischen Überlieferungen sind auch ein Hindernis, will man sich in die fremden Individuen einfühlen. Die »Seelenzustände« sind keine Vorstellungen, die man direkt zu Papier bringen könnte. Ein unmittelbarer Zugang zum anderen Individuum ist Dilthey zufolge daher kaum möglich. »Fremdes Dasein« sei nur in Form von »Gebärden, Lauten und Handlungen von außen gegeben«, gerade darum aber müsse der Interpret »durch den Vorgang der Nachbildung« auf das »Innere« schließen: »Alles: Stoff, Struktur, individuellste Züge dieser Ergänzung müssen wir aus der Lebendigkeit übertragen.« Im Vergleich zu Denkmälern und Kunstwerken seien es vor allem Schriftstücke, die »Reste menschlichen Daseins« (319) so bewahren, dass sie der Interpret nacherleben kann.

Wie in diesen knappen Erläuterungen bereits deutlich wird, basiert Diltheys Hermeneutik auf einem einfachen Repräsentationsmodell. Die Zeichen korrespondieren mit Seeleninhalten, ihre Bedeutung ist demnach nicht von der Sprache und ihren Regeln abhängig, sondern vor allem von der individuellen Ausdruckskraft. In einer »von Lüge erfüllten menschlichen Gesellschaft« ist Dilthey zufolge einzig das »Werk eines großen Dichters oder Entdeckers, eines religiösen Genius oder eines echten Philosophen« immer wahr. (320) Einzig das Genie sei in der Lage, sein Seelenleben auf wahrhaftige Weise zur Sprache zu bringen. Und weil sich das Genie mit seinem schöpferischen Vermögen gewissermaßen unabhängig macht vom gewöhnlichen Sprachgebrauch, bedürfe es auf der anderen Seite einer »genialen Virtuosität des Philologen«, um diese individuelle Ausdruckskraft verstehen und darstellen zu können. Ein guter Interpret, der ein Werk nachzuerleben vermag, ist folglich kaum weniger begabt als der geniale Autor.

Besonders anschaulich wird diese Verbrüderung von Genie und virtuosem Philologen, wenn Dilthey selbst das »Werk eines großen Dichters« interpretiert. Über Goethe und das dichterische Phantasieren schreibt Dilthey 1906, dass der Mittelpunkt einer jeden Literaturgeschichte die »Phantasie des Dichters« sei. (Dilthey 1906/ 2005, 113) Als exemplarischer Autor bringe Goethe »dichterische Vorgänge« auf eine Weise zum Ausdruck, wie es dem »biederen Durchschnittsmenschen« (121) nicht möglich wäre. Einzigartig sei Goethe vor allem, weil er von sich selbst abzusehen vermag: »wir müssen uns das Genie […] gänzlich den Tatsachen hingegeben denken, gewahr werdend, beobachtend, sein Selbst ganz vergessend und verwandelnd und das, was es erfaßt.« (132) Genies gehen entweder in der äußeren Erfahrung auf, so Dilthey, oder sie erleben ihr inneres Selbst auf besondere Weise, in jedem Fall aber zeichnet es sie aus, dass sie einen Ausdruck finden, der über ein bloß subjektives Empfinden hinausweist. Goethes Fantasie ist das Medium für etwas Allgemein-Menschliches.

Darüber hinaus aber ist Goethe auch ein Modell für die hermeneutische Theorie. Seine »Schöpfungen«, die Autobiografie Dichtung und Wahrheit insbesondere, veranschaulichen eine Form des Verstehens, an der sich die Hermeneutik orientieren kann. Im Lebenslauf ordnet Goethe seine Erlebnisse, er gibt ihnen eine Bedeutung und setzt sich in Beziehung zum historischen Kontext. Goethe versteht sich selbst im Zusammenhang mit seiner Zeit, er vermittelt individuell Erlebtes mit dem historisch Allgemeinen. Als Autobiograf ist er Subjekt und Objekt in einem, Dichter und Interpret. Und genau dies ist die Grundstruktur des Verstehens in den Geisteswissenschaften: Ihre Objekte sind zwar subjektive Äußerungen, deren Bedeutung aber zeigt sich im Hinblick auf ein Ganzes. Diltheys Goethe-Porträt ist demnach ein Gegenbild zur Moderne. Im Zusammenhang von Einzelnem und Ganzem sind alle Dissonanzen und Widersprüche aufgehoben, das Verstehen stellt einen Übereinklang von Individuellem und Allgemeinem her – so das Ideal Diltheys, das er bei Goethe verwirklicht sieht.

Auf die Herausforderungen seiner eigenen Zeit reagiert Dilthey mit einem ausgeprägten Harmonisierungsbedürfnis. Und dies zeigt sich auch in der Grundstruktur seiner Argumentation: Dem genialen Dichter entspricht ein nicht minder virtuoser Philologe, Goethe ist einerseits Gegenstand seiner Interpretation und zugleich ihr Modell, der Historiker schaut hinaus in eine Landschaft, die er im Inneren nacherlebt – mit diesen Beschreibungsmustern ersetzt Dilthey die theoretische Begründung seiner Hermeneutik. Auch das »Verstehen« basiert nicht auf einer Erkenntnistheorie, sondern auf der Logik einer einfachen Umkehrung. Das schöpferische Genie verleiht seinem Inneren einen Ausdruck, der virtuose Philologe schließt vom Ausdruck aufs Seelenleben. Autor und Interpret sind auf kongeniale Weise miteinander verbunden, weil sich das Verstehen...

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