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E-Book

Lob des Irrtums

Warum es ohne Fehler keinen Fortschritt gibt

AutorJürgen Schaefer
VerlagC. Bertelsmann
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641125707
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Warum wir gewinnen, wenn wir uns irren
Unsere Entscheidungen sind gesteuert von Emotionen und Denkfaulheit. Wir denken schlampig, fehlerhaft und irrational, aber dafür kreativ und effizient. Doch unser Selbstbild ist das pure Gegenteil: Wir sehen uns gern am Ende der Irrtumsepoche und scheuen Fehler wie der Teufel das Weihwasser. Jürgen Schaefer hält uns den Spiegel menschlicher Fehlerintoleranz vor, folgt deren Ursachen und Konsequenzen. Mit den Erkenntnissen der Fehlerforschung erläutert er das faszinierende Versuch-und-Irrtum-Spiel der Evolution, die Experimentierlust alles Lebendigen. Denn ohne Fehler entsteht keine Vielfalt, ohne Fehltritt kein Gleichgewicht, ohne erlebten Irrtum kein Mut für Neues. Schaefer erzählt von berühmten Irrtümern, von überlebensgefährlicher Sucht nach Perfektion und vom Potenzial einer fehlerfreundlichen Umgebung. Damit wird Scheitern in Natur, Gesellschaft, Wirtschaft und Biografie als Basis des Erfolgs sichtbar.

Jürgen Schaefer, geboren 1965, hat als Journalist lange in New York und Havanna gelebt. Heute bereist er als Redakteur der Zeitschrift GEO vor allem Südamerika und die USA. 2011 erschien sein erstes Buch 'Genie oder Spinner'.

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Leseprobe

Einleitung

Wie wir lernen, unsere Fehler zu lieben

Warum sind es immer die peinlichsten Momente in unserem Leben, die wir nicht vergessen können?

Eugene Richards gehört zu den bedeutendsten Fotografen der Gegenwart, er gilt als schwieriger Interviewpartner. Er ist, wie die meisten Künstler, besonders sensibel, wenn es um die Wahrnehmung seiner Arbeit geht. Vor allem, hatten mich Richards Kollegen gewarnt, kann er es nicht leiden, mit dem vielleicht noch bekannteren Fotografen Eugene Smith verwechselt zu werden, der den gleichen, seltenen Vornamen trug.

Eugene Smith – FALSCH!

Eugene Richards – RICHTIG!

Sollte zu schaffen sein, oder?

Allerdings war ich auf dem Weg zum Interview spät dran, und die New Yorker U-Bahn kroch von Baustelle zu Baustelle durch Brooklyn. Als klar war, dass ich es nicht pünktlich schaffen würde, griff ich zum Mobiltelefon. Sagte mir noch einmal im Stillen, »Eugene Richards«, sah aus dem Fenster der U-Bahn. Als der Anruf beim Gegenüber durchklingelte, fiel mein abwesender Blick auf das Schild der Station, in der die Bahn gerade eingefahren war, es war – ausgerechnet! – die Smith Street. In diesem Moment meldete sich mein Interviewpartner, und es passierte, was passieren musste.

»Verzeihung, Mr. Smith, ich werde ein paar Minuten später da sein«, hörte ich mich sagen. Und wäre am liebsten sofort umgekehrt.

Ein harmloser Fehler, sicher, und Eugene Richards verzieh ihn großzügig. Doch es ist – wie so oft – ein interessanter Fehler, weil er offenlegt, wie wir versuchen, unser Leben zu kontrollieren, und wie und warum wir dabei immer wieder scheitern. Der amerikanische Psychologe Daniel M. Wegner nennt diese Art Missgeschick einen »ironischen Fehler«. Die Ironie liegt darin, dass uns nicht nur einfach ein Lapsus unterläuft, sondern dass wir am Ende genau das tun, was wir unbedingt vermeiden wollten.

Der Grund dafür liegt in der Art und Weise, wie unser Arbeitsgedächtnis funktioniert. Im Arbeitsgedächtnis spielt sich unsere psychologische Gegenwart ab, das Hier und Jetzt: Dort verarbeiten wir Eindrücke, wägen Handlungsalternativen ab. Im Arbeitsgedächtnis entscheiden wir, was wir als Nächstes tun werden, und beobachten uns zugleich selbst. Diese Überwachung läuft normalerweise im Hintergrund mit; sie sorgt zum Beispiel dafür, dass wir NICHT »Mr. Smith« sagen, wenn wir es nicht sollen.

Allerdings hat das Arbeitsgedächtnis nur eine begrenzte Kapazität, und es ist sehr anfällig für Stress. Wenn wir es überlasten – entweder, indem wir es unter Zeitdruck setzen, oder indem wir mehrere Dinge gleichzeitig tun, oder indem wir versuchen, Anspannung oder Angst zu unterdrücken –, kann es zu einem Handlungskurzschluss kommen. Dann wird das, was wir aktiv versuchen zu unterdrücken, plötzlich eine Handlungsanweisung. Ironisch daran ist, dass genau der Versuch, eine Handlung zu verhindern, diese Handlung erst im Arbeitsgedächtnis verankert – und so den Lapsus verursacht. In meinem Fall hatte dazu noch das Stationsschild der U-Bahn mit der Aufschrift »SMITH ST« als unbewusster Auslöser beigetragen.

Ironische Fehler passieren in allen Lebensbereichen und können peinliche Situationen heraufbeschwören – etwa, wenn wir bei einer ernsten Auseinandersetzung mit einem Kunden oder einem Vorgesetzten grundlos anfangen zu lächeln. Derartige Reaktionen lassen sich gezielt provozieren: Menschen, die sich auf keinen Fall rassistisch oder sexistisch äußern wollen, tun genau das, wenn sie unter Zeitdruck gesetzt werden. Gerade die Tatsache, dass sie sich ansonsten so gut im Griff haben, verschärft die Gefahr, unter Druck einzubrechen.

Ironische Fehler gibt es auch im Sport. Forscher an der Universität Bangor in Großbritannien haben festgestellt, dass Athleten viel häufiger als gedacht genau das passiert, was sie unbedingt vermeiden wollten: Sprinter produzieren Fehlstarts und werden disqualifiziert, wie der Zehnkämpfer Jürgen Hingsen bei den Olympischen Spielen in Seoul. Golfer putten zu kurz, obwohl sie sich an die goldene Regel »Niemals zu kurz!« halten wollten. Und Fußball-Elfmeterschützen schießen in den Himmel, obwohl sie genau davor die meiste Angst hatten. Die Erklärung dafür ist einfach, wenn man das Prinzip der ironischen Fehler zugrunde legt: Im Wettkampf stehen die Sportler unter einem extremen mentalen Stress. Sie haben jahrelang für diesen Moment trainiert, und konzentrieren sich nun mit aller Macht darauf, nur nicht jenen Lapsus zu begehen, der all die Arbeit zunichte macht.

Ironische Fehler besitzen noch eine zweite, sozusagen inverse Ironie: Sie lassen sich nur dadurch verhindern, indem wir sie zulassen. Denn nur dadurch, dass wir Angst davor haben, diese Fehler zu begehen, bekommen sie die Macht, unser Arbeitsgedächtnis zu besetzen und dort unsere Absicht zu torpedieren. Je mehr kognitive Ressourcen wir darauf verwenden, den Fehler zu verhindern, und je mehr wir uns darauf konzentrieren – umso höher der Stress für unser Arbeitsgedächtnis und umso größer ist die Gefahr, dass uns dies nicht gelingt.

Ironische Fehler entstehen, wenn wir von uns Fehlerlosigkeit erwarten, eine Eigenschaft, die uns Menschen nicht gegeben ist. Sie entstehen, wenn wir keinen Spielraum haben. Doch das ist eine Umgebung, in der wir Menschen nicht gedeihen. Deswegen müssen wir lernen, unsere Fehler zu akzeptieren.

Von dieser Art der Fehlergelassenheit handelt dieses Buch.

Fehlergelassenheit ist keine Eigenschaft, die wir uns verordnen können; sie ist das Ergebnis eines Lernprozesses. Der erste Schritt auf diesem Weg ist das Erkennen der eigenen Fehlbarkeit und der Gründe dafür: Wir irren, weil wir nur einen Bruchteil der Welt um uns herum wahrnehmen und weil wir aus dieser bruchstückhaften Information unlogische Entscheidungen treffen.

Irren ist so menschlich, dass wir Menschen den Irrtum zur Kunstform erhoben haben. Davon handeln die ersten beiden Kapitel in diesem Buch. Die psychologische Forschung kennt mehr als zwei Dutzend Denkfallen und Wahrnehmungsverzerrungen: Wir sehen in Gebirgen auf dem Planeten Mars die Skulptur eines menschlichen Gesichts (Apophänie) und rätseln über Außerirdische, die diese Plastik wohl geschaffen haben – weil es uns schwerfällt zu akzeptieren, dass fast alles um uns herum aus purem Zufall geschieht. Deswegen glauben wir auch beim Würfeln, dass nach hundert Würfen ohne »Sechs« die Wahrscheinlichkeit für diese Zahl höher liegen müsse (Spielerfehlschluss), und schütteln den Würfelbecher ein wenig länger, um das gewünschte Ergebnis herbeizuführen (Kontrollillusion). Die Verfügbarkeitsheuristik führt dazu, dass wir uns mehr vor Flugzeugabstürzen fürchten als vor der Sepsis, weil wir Bilder von Flugzeugabstürzen gesehen haben, aber vermutlich noch nie eine ernste Blutvergiftung. (Durch Sepsis starben in Deutschland im Jahr 2012 rund 80000 Menschen, bei Flugzeugabstürzen: null.)

Wir halten unsere Erinnerungen für Blitzlichtaufnahmen: scharf, präzise, unveränderlich. Dabei sind es eher Skulpturen aus weichem Wachs, die wir jedesmal, wenn wir sie hochholen, neu überformen. Wir reden uns und anderen ein, dass wir ein Ereignis genau so vorhergesagt haben (den Untergang der DDR etwa oder den sicheren Wahlsieg von Präsident Obama in den USA), auch wenn wir in Wahrheit zuvor das genaue Gegenteil prognostiziert hatten. Wir lassen uns jede denkbare und undenkbare Erinnerung einreden: dass wir im Kaufhaus verloren gingen, dass wir als Kind missbraucht wurden, dass wir im satanischen Rausch Kleinkinder getötet haben – alles Beispiele aus der Realität, die nie passiert waren, an die sich Menschen aber glasklar »erinnern« konnten.

Diese löchrige Wahrnehmung und die wachsweiche Erinnerung daran sind das Material, auf das wir unsere Entscheidungen gründen – als vernunftbegabte Menschen, sicher. Und doch: Wenn Richter würfeln und eine hohe Zahl würfeln, bestrafen sie hinterher einen Täter härter (Ankerheuristik). Wenn wir mit Aktien handeln, kaufen wir aus völlig unlogischen Gründen lieber Papiere heimischer Firmen; und wenn eine Aktie an Wert verliert, halten wir viel zu lange daran fest (Verlustaversion).

Lässt uns all das an uns zweifeln? Nein, weil wir die Unlogik nicht wahrnehmen. Im Gegenteil, je weniger wir von einer Sache wissen, umso eher halten wir uns für sie befähigt (Dunning-Kruger-Effekt) – etwa, unser Leben in einer Biographie zusammenzufassen (irgendwann schreibe ich ein Buch darüber!) oder ein politisches Amt zu begleiten oder (natürlich!) die deutsche Fußball-Nationalmannschaft zu trainieren. Ohnehin glauben die meisten von uns, sie seien überdurchschnittlich gut (Vermessenheitsverzerrung). Zum Beispiel überdurchschnittlich gute Autofahrer (90 Prozent aller Schweden), überdurchschnittlich intelligent (70 Prozent aller Oberstufenschüler) oder überdurchschnittlich gute Forscher (94 Prozent aller Universitätsprofessoren) – wo doch, aus Gründen der Statistik, immer nur 50 Prozent besser sein können als der Durchschnitt.

Diese Mischung aus Selbstüberschätzung und fehlender Klarsicht ist der Boden, auf dem der Irrtum gedeiht. Der Irrtum an sich ist harmlos, weil er aus sich heraus keine Folgen hat. Die Menschheit lebte Jahrtausende im Glauben, die Sonne bewege sich am Himmel, ohne dass deshalb jemand Schaden genommen hätte.

Heute ist die Wissenschaft weiter und tappt doch in die Irrtumsfalle der Gegenwart: Seit Anbeginn des menschlichen Forscherstrebens versuchen wir, der Welt um uns herum Sinn zu geben,...

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