Ich liege an dem kleinen Fluss, der sich in einem Park mitten durch die südafrikanische Millionenmetropole Johannesburg schlängelt. Ich bin erschöpft vom Stau, in dem ich während vier Stunden im Schneckentempo vorangekrochen war. Der Fluss trägt wie immer eine Schaumkrone aus Dreck, doch heute fliegen kleine Vögel übers Wasser, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Sie sind blau und schnell. Unmöglich, sie zu fotografieren. Ich versuche es dennoch, doch auf meinem Handy sehe ich nur blaue Wische. So starre ich in die Wolken, die sich langsam rosa färben.
Es ist später Nachmittag im Oktober 2017, einer Zeit, in der sich in Südafrika wieder der Frühling zeigt – mit blühenden Akazien und den gelben Webervögeln, die in dieser Zeit ihre fragilen Nester bauen. Über dem Flüsschen hängen bereits Dutzende von ihnen und baumeln im Wind wie übergroße Weihnachtskugeln. Aus dem linken Augenwinkel sehe ich aus der Froschperspektive eine gebückte Gestalt, die sich auf der Wiese langsam fortbewegt: meine Mutter. Sie sieht mich nicht. Sie hat bereits vergessen, dass ich es war, die sie zu dieser Wiese gefahren hatte, obwohl ich so erschöpft bin. Nun, das ist egal. Sie hat Alzheimer – und den nicht erst seit vorgestern, sondern seit sechs Jahren.
Ich drehe mich auf die Seite und beobachte meine Mutter und Laura, eine ihrer Betreuerinnen, eine junge Frau aus Mosambik, die mit unendlicher Geduld meine Mutter überzeugt, die Gehhilfe erst anzuheben, dann ein Stück weiter vorne wieder abzusenken und sich so Stück um Stück über das noch trockene Gras voranzuarbeiten. Regelmäßig halten die beiden an. Meine Mutter gestikuliert, sieht irgendetwas. Sie hat schon immer irgendetwas gesehen, doch seit dem Ausbruch ihrer Krankheit sieht sie auf einer Strecke von zehn Metern tausend Dinge.
Eine Wahrnehmungsexplosion, die den Fortbewegungsprozess extrem verlangsamt, aber auch deutlich macht, was es alles zu sehen gibt auf dieser Welt, die wir Nicht-Alzheimerkranken oft nur als Wisch, als einen ultrakurzen Moment wahrnehmen; als eine unscharfe Filmsequenz, die es auch noch gibt neben all dem, das wir im Alltag bewältigen müssen.
Meine Mutter scheint genug zu haben, sie zweigt Richtung Auto ab. Die beiden Frauen treten den Rückweg an. Ein letzter Blick hin zu den faszinierenden blauen Vögeln und ich erhebe mich. Etwas unwillig. Ich bin so müde, so ausgehöhlt, ich wäre am liebsten auch so ein Vogel, anstatt jetzt wieder ins Auto steigen zu müssen. Ich schlendere sehr langsam zurück. Meine Mutter und Laura sitzen mittlerweile auf einem Betonsockel. Als meine Mutter mich wahrnimmt, sehe ich Freude und Überraschung in ihrem Gesicht.
»Tina, komm, bist du auch hier? Schön, setz dich.«
»Ach Mami, ich bin so so müde.«
»Papa, Papa?«, ruft meine Mutter in die Wolken und über die Wiese.
»Deinem Vater geht es gut. Er ist in Amerika«, sage ich, während ich mich neben sie setze, wohl wissend, dass ihr Vater vor mehr als dreißig Jahren gestorben ist. Doch in meinen Augen spielt das keine Rolle.
»Ehrlich, in Amerika? Das ist gut zu wissen«, erwidert sie geistesabwesend, während sie ihr Taschentuch sucht.
»Ich bin so erschöpft, Mami«, sage ich noch einmal und lege mich, ohne zu fragen und zu meiner eigenen Überraschung, in ihren Schoß und umarme sie. Ganz fest. Sie lacht und brummelt was. Ich schließe die Augen und lausche ihrem Herzschlag durch ihre vom heißen Waschen geschrumpfte Strickjacke.
Auf meinen Haaren landet ein Schmetterling, kaum spürbar. Die Finger meiner Mutter. Langsam streicht sie über meine Haare und flüstert Worte in mein Ohr, die in der Welt des ABC keinen Sinn machen. Doch ich besitze den Code, ich kann sie entziffern.
Ich solle mir keine Sorgen machen, sie sei für mich da. Das will meine Mutter mir sagen. Doch das höre ich nicht, das spüre ich ganz direkt und so tief wie nie zuvor. Mir kommen die Tränen, vom Bauch her. Ich löse mich richtig auf, in Glück und in Erschöpfung und in den Tränen, die mir meine Mutter abwischt, mit dem Taschentuch, das sie schließlich in ihrem BH findet. Dort, wo sie es schon immer, seit Jahrzehnten, verstaute.
Wahrscheinlich ist meine Mutter schon immer für mich da gewesen, doch gespürt habe ich das in all den Jahrzehnten zuvor nur in flüchtigen Momenten. Ein halbes Jahrhundert musste vergehen, bis sie es von Herzen sagen und ich es von Herzen glauben kann.
In ihrem Schoß liegend, mich auflösend, fühle ich mich an diesem Spätnachmittag wahrlich als Kind, ja schon fast als ein Baby, trotz meiner 56 Jahre. Wie ich mich als Kind, damals, in der Schweiz der sechziger Jahre, tatsächlich gefühlt habe, weiß ich nicht mehr so richtig.
Geht es um meine Kindheit, sehe ich nicht viel. Ob das normal ist oder nicht, weiß ich nicht. Ich trage nur Erinnerungsfetzen in mir und der Rest setzt sich aus Fotos zusammen, die von mir gemacht wurden. Auf diesen lache ich eher selten. Von mir als Baby, zusammen mit meiner Mutter, habe ich erst kürzlich ein Foto gesehen – in einer Schachtel in der Wohnung meiner Mutter. Wir sehen glücklich aus. Aber wo und wann dieser Moment stattgefunden hat, werde ich wohl nie herausfinden können. Dort, wo meine Erinnerung beginnt, wo meine emotionalen Momente begraben sind, ist meine Mutter bereits eine Randfigur, die nur ab und zu im Bild erscheint.
Das ist kein Wunder, sie ist es auch gewesen. Meine Mutter stammt aus Zürich, aus einer katholischen Familie. Fünf Kinder – drei Knaben, zwei Mädchen –, ein Vater, der viel arbeitet und eine Mutter, die meistens krank ist. Die Knaben werden gefördert, die Mädchen nicht. Alle sind auf irgendwelchen Internaten. Meine Mutter auf einem katholischen. Offensichtlich, das habe ich erst kürzlich erzählt bekommen, hat sie ihrer eigenen Mutter den Schmuck gestohlen, wenn man das denn so sagen kann, und ihn im großen Haus in Zürich versteckt. Meine Mutter wird daraufhin von einem Psychologen untersucht und mit Verdacht auf Kleptomanie nach Hause geschickt.
Sie ist schon als Teenager außergewöhnlich hübsch, was die Angst bei ihren Eltern enorm erhöht, dass ihre Tochter am Ende noch als Flittchen enden könnte. Meine Mutter wiederum sucht nach einem Weg, wie sie diesem Gefängnis aus Krankheit, Religion, Verkrampfung entkommen kann – so jedenfalls erklärt sie mir Jahre später, warum sie überhaupt meinen Vater geheiratet hat.
Den lernt sie, für damalige Zeiten schon fast revolutionär, über eine Zeitungsannonce kennen. Mein Vater, ein gut aussehender Mann aus St. Gallen, der an Bergrennen teilnimmt und aus einer vermögenden Familie stammt, scheint ein guter Fang zu sein. Das ist meine Interpretation – meine Mutter hat sich dazu nie näher geäußert.
Die Hochzeit findet statt, sie ist für interessierte Nachkommen in einem Album festgehalten, das ich erst im Oktober 2017 in der genau gleichen Schachtel finde, in der ich auch auf das Bild von uns Kindern und meiner Mutter gestoßen bin.
Ich studiere die Fotos lange. Ich sehe niemanden, der lacht. Aber das ist bei Hochzeiten häufig der Fall. Meine Mutter überstrahlt alle mit ihrer Schönheit und einem eleganten Kleid aus glänzendem Taft. Eine Aufnahme zeigt ihren Vater, wie er sie mit strenger Miene zum Traualtar führt.
Nach dem Empfang mit den begüterten Verwandten in St. Gallen beziehen meine Eltern eine schicke Wohnung, und meine Mutter gebärt, wie es sich gehört, zwei Kinder, während mein Vater weiterhin Bergrennen fährt und in einen Jahr sogar Schweizer Meister wird.
Diese Wohnung existiert für mich nur auf Fotos. Dort sehe ich zwei Babys, mich und meinen zwei Jahre jüngeren Bruder sowie einen Pudel, den meine Mutter gegen den Willen meines Vaters gekauft hat. Ich hätte mich als Baby durch außergewöhnliche Essmanieren ausgezeichnet, hat mir meine Mutter Jahre später einmal gesagt. Auf Fotos ist dies jedoch nirgendwo dokumentiert.
Meine erste eigene Erinnerung ist mit einer anderen Wohnung in St. Gallen verbunden. Meine Mutter ist nicht mehr anwesend. Mein Vater hat sie durch eine andere Frau und durch ein Kindermädchen ersetzt. Ich sehe mich unter meinem Bett liegen, es ist dunkel. Ich habe Angst. Angst vor dem bösem Mann. Der Vorhang flattert, Schatten schleichen über die Wände und diese neue, andere Frau versucht mir zu erklären, dass der böse Mann nicht existiert. Sie ist sehr logisch, hochintelligent, aber spröde und farblos.
Etwas später eröffnet mein Vater uns, dass er sich von unserer Mutter getrennt habe und gedenke, diese neue Frau zu heiraten. Es gibt wieder eine Heirat, diesmal sind auch wir dabei. Aber das habe, glaube ich, so sehr in die hinterste Ecke meiner inneren Besenkammer verdrängt, dass kein Bild aufkommen will.
Nun kann man sich fragen, warum wir überhaupt bei unserem Vater gelebt haben, damals in den sechziger Jahren. Diese Frage stelle ich mir als Kind und auch als Jugendliche nicht, die Dinge geschehen ohne mein Dazutun. Entscheidungen werden getroffen und ich werde wie eine Figur auf dem Schachbrett meines eigenen Lebens herumgeschoben, aber selten so, dass das Resultat für mich von Vorteil ist.
Jahrzehnte später habe ich diese Frage meiner Mutter gestellt. Sie tut, als ob sie mich nicht verstehen oder sich nicht erinnern würde. Doch ist mein journalistischer Geist bereits geschärft, so schnell würde ich nicht aufgeben. Vor allem, nachdem mir ihre Scheidungsanwältin erklärte, dass wir die ersten Kinder in der Schweiz seien, die dem Vater zugesprochen worden sind. Die ersten!
Die Anwältin wollte mir zuerst nichts dazu sagen, doch wir waren eng befreundet, sodass ihr die Wahrheit oder eine Version davon schließlich doch...