In diesem Kapitel sollen zunächst verschiedene Aspekte musikalischer Entwicklung beleuchtet werden, um auf dieser Grundlage in Kapitel 3 methodische Überlegungen für einen Instrumentalunterricht mit Erwachsenen anstellen zu können.
2.1 Forschungssituation
Nach wie vor kann man die Entwicklungsforschung in der Psychologie, bei der die gesamte Lebensspanne untersucht wird, als ein junges Forschungsgebiet bezeichnen.
Heiner Gembrisstellt fest, dass es bezüglich der Entwicklung im Erwachsenenalter zwareine Vielzahl anForschungsarbeiten und Theorien gibt – auf die aufgrund ihrer Fülle an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann– diese aber recht problematisch sind, da sie u.a. Entwicklungsverläufe oder Phasen stark verallgemeinern. Dadurch wird der immer noch bestehende Forschungsbedarf bezüglich einer Konzeption des Erwachsenenalters deutlich (vgl. Gembris 2009, S. 365). Wie Martin Gellrich schreibt, ist „trotz der erheblichen Fortschritte, die sich auf dem Gebiet multivariater Forschungsmethoden in den letzten Jahren ergeben haben, das Problem noch nicht gelöst, wie die vielfältigen Faktoren, die die psychische Entwicklung im Erwachsenenalter bestimmen(…), untersuchungstechnisch voneinander getrennt und ihr relativer Einfluss bestimmt werden können“ (Gellrich 1989, S. 91). Dringend erforderlich sind außerdem Erkenntnisse über musikbezogene Entwicklungsprozesse, über das musikalische Lernen und Lernfähigkeiten bei Laien bzw. Amateurmusikern im Erwachsenenalter (vgl. Gembris 2009, S.53). Dabei bedarf es insbesondere valider Ergebnisse zur musikalischen Entwicklung Erwachsener, welche bis jetzt aufgrund fehlender Verlaufs- und Längsschnittuntersuchungen, nicht vorhanden sind (vgl. Hartogh 2005, S. 61f.).
Was dagegen vorliegt, sind etlichequalitative (biografische)Forschungsprojekte, oft in Form von Interviews oder Fragebögen, auf die in Kapitel 3 gesondert eingegangen wird.Eineweitere erwähnenswerte Methode zur Untersuchung musikalischer Fähigkeiten und musikalischen Lernens sind Musikalitätstest, bei denen es sich allerdings lediglich um ein nicht standardisiertes Konstrukt handelt und die außerdem ursprünglich nur für Kinder und Jugendliche konzipiert wurden. Sie sinddemnach eher kritisch zu bewerten, da musikalische Fähigkeiten und musikalisches Lernen bei Erwachsenen nicht zwangsläufig dasselbe beinhalten, was zu einem „sehr begrenzten Aussagewert“ dieser Tests führt(Gembris2009, S. 406).Abgesehen davon sollten musikalisches Lernen und musikalische Leistungen durch Entwicklungsziele oder-aufgaben definiert werden, über die bei Erwachsenen aberkeine klaren allgemeinen Vorstellungen existieren, da sie nur individuell oder gruppenspezifisch formuliert werden können(vgl. ebd.).
Im Folgenden stütze ich mich,wenn nicht anders gekennzeichnet,auf die Darstellung Heiner Gembris‘ der musikalischen Entwicklung im Erwachsenenalter (vgl. Gembris 2009). Dabei sollen nachstehende Ausführungen keineswegs verallgemeinert werden, sondern lediglich eine Tendenz erkennen lassen. So betont Gembris: „Musikalische Entwicklung und ihre Bedingungen lassen sich (…) für das Erwachsenenalter kaum allgemeingültig beschreiben, sondern sie bedürfen in hohem Maße der differentiellen Betrachtung“ (Gembris 2009, S.367).
2.2 Entwicklungsunterschiede musikalischer Lebensläufe
Bereits die Entwicklungsunterschiede musikalischer Lebensläufe im Kindes- und Jugendalter schaffen verschiedene Entwicklungsvoraussetzungen und -bedingungen für die zukünftige musikalische Entwicklung im Erwachsenenalter. Faktoren, die zu diesen Entwicklungsunterschieden führen, bestehen zu unterschiedlichen Anteilen aus Motivation und Begabung, quantitativ und qualitativ differenzierendenErfahrungen, insbesondere Lernerfahrungen,und musikalischen Aktivitäten, aber auch aus verschiedenen Umweltbedingungen und musikalischen Interessen.
Entwickeln sich in den ersten zehn Lebensjahren die musikalischen Fähigkeiten noch größtenteils in der gleichen Reihenfolge, wenn auch nicht mit den gleichen Resultaten, so kommt es schon in der Schulzeit durch Wahlmöglichkeiten bezüglich der Schulfächer, außerschulischen Möglichkeiten und sozialer Gruppenzugehörigkeit zu ausgeprägten Differenzierungs- und Spezialisierungsprozessen in der musikalischen Entwicklung, die sich dann mit dem Wegfall allgemeiner institutionalisierter Rahmenbedingungen des musikalischen Lernens mit Beginn des Erwachsenenalters bzw. mit Beginn der Berufsausbildung oderdes Studiumsnoch verstärken.
Selbst wenn musikalische Interessen und Motivationen vorhanden sind, be- und verhindern häufig Zeitmangel, berufliche und später familiäre Verpflichtungen und Engagements, aber auch fehlende musikalische Herausforderungen, musikalische Aktivitäten und stehen somit einer musikalischen Weiterentwicklung im Weg.
Bei den Personen, die trotz all dieser äußeren Umstände frühere musikalische Aktivitäten fortsetzen, spielen vor allem die eigene Motivation und die Verfügbarkeit von Freizeit eine große Rolle. Eine ausgeglicheneberufliche und familiäre Belastung, aber auch die Unterstützung durch Partner und Freunde, sowie die sonstige soziale und kulturelle Umgebung sind ebenso zu berücksichtigen. Dabei wählen diese Personen oft ein musikalisch orientiertes Umfeld aus, was wiederum zu neuen Impulsen bezüglich der Weiterbildung musikalischer Interessen führen kann.
Ansonsten ist nicht selten zu beobachten, dass Personen das aktive Musizieren, welches sie einst aus beruflichen oder familiären Gründen aufgaben, wieder aufnehmen, wenn ihre Kinder ausziehen oder die berufliche Anforderungen zur Routine geworden sind.
Aufgrund großer Unterschiede in den Lebensläufen und somit bezüglich der Verläufe musikalischer Entwicklung von Laien ist der psychologische Aspekt der musikalischen Entwicklung im Erwachsenenalter der differentiellen Entwicklungspsychologie zuzuordnen. Musikalische Entwicklungsprozesse und ihre Determinanten müssen deshalb hinsichtlich einzelner Personengruppen untersucht und beschrieben werden, wobei man außerdem zwischen dem präferierten Musikgenre und der Art der musikalischen Betätigung (im Ensemble, alleine, mit oder ohne Unterricht) unterscheiden sollte (vgl. Gembris 2009).
2.3 Leitsätze musikalischer Entwicklungder Lebensspanne
Gembris(2008a) überträgt einigetheoretische Leitsätze aus der Entwicklungspsychologie bezüglich der Lebensspanne auf die musikalische Entwicklung(vgl. Baltes 1990, S.4). Er sieht sieals Ansatzpunkte zurweiteren Erforschung musikalischer Entwicklung, die im Folgendennäher erläutert werden sollen:
LebenslangeEntwicklung
Mittlerweile herrscht in der musikalischen Entwicklungspsychologie Konsens darüber, dass „musikalische Entwicklung ein lebenslanger Prozess ist und musikalisches Lernen potenziell zu jedem Zeitpunkt im Leben stattfinden kann“(Gembris 2008a, S.13).Faktisch können musikalische Lernprozesse beispielsweise das Kennenlernen neuer Musikstücke, Musikstile und -genres, aber auch die Veränderung des Musikgeschmacks beinhalten (vgl. ebd.). Hinzuzufügen ist dem Kennenlernen, also Hören und evtl. Verstehen neuer Musikstücke etc., die Aneignung neuen Materials. Hierzu zählen die Fähigkeit der Reproduktion, der Improvisation, aber auch der Komposition.
Weiter betont Gembris, dass auch der Nicht-Gebrauch dieser Fähigkeiten zu den Entwicklungsprozessen gehört. Je nach Alter, Gesundheitszustand oder auch finanziellem Verhältnis, geht es bei der Frage nach dem musikalischen Lerninhalt eher um das Erleben von Musik, der Bedeutung für jeden Einzelnen oder um performative Fähigkeiten (vgl. ebd.).
Wechselspiel von Stabilität, Gewinnen und Verlusten
Die Psychologie der Lebenszeitperspektive formuliert einen Entwicklungsbegriff, „der Entwicklung als ein Wechselspiel von Stabilität, Gewinnen und Verlusten betrachtet“(Gembris 2008a, S.13).Dabei überwiegen in jungen Jahren generell die Entwicklungsgewinne (im Sinne von Verbesserungen, Steigerungen) gegenüber den Verlusten (Einbußen, Beschränkungen oder auch Reduktionen). Im Alter dagegen überwiegt meist der Verlust von Fähigkeiten und Kapazitäten (vgl. ebd.). Ein Beispiel hierfür wäre Arthritis beim Geiger.
Multidirektionalität
Multidirektionalität in Bezug auf musikalische Entwicklung bedeutet, dass Entwicklungsprozesse gleichzeitig „in verschiedenen musikalischen Bereichen und auf unterschiedlichen Ebenen“ stattfinden können (Gembris 2008a, S.13). Gembris schließt hier sowohl Aspekte wie emotionales Erleben, kognitive Verarbeitung und instrumentale bzw. vokale Fähigkeiten, als auch musikalische Urteile und Präferenzen, musikbezogene Erfahrungen und Motivationenmit ein (vgl.Gembris 2009). Diese könnten noch...