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E-Book

Mythos Vorbeugung

Warum Gesundheit sich nicht verordnen lässt und Ungleichheit krank macht

AutorMatthias Martin Becker
VerlagPromedia Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783853718223
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Gesund muss man bleiben. So lautet der Tenor nicht nur von Medizinern und Therapeuten, sondern auch der politischen Meinungsführer und Wirtschaftstreibenden. Mit Fettsteuern, verpflichtenden Untersuchungen sowie Rauch- und Alkoholverboten wird dieser Feldzug geführt, mit Vergünstigungen bei Krankenversicherungen und andauernden öffentlichen Appellen zu Fitness und regelmäßigem Sport, und vor allem mit der sogenannten Früherkennung, die gefährliche Krankheiten schon im Anfangsstadium aufspüren soll. Eine 'präventive Wende' hat eingesetzt. So gut dieser Slogan auch klingt - er stimmt nicht. Weder kann man mit Gewalt gesund bleiben, noch ist Vorbeugung tatsächlich so erfolgreich, wie weithin behauptet.

Matthias Martin Becker, Jahrgang 1971, Medizinjournalist und Publizist, lebt in Berlin und arbeitet unter anderem für den Deutschlandfunk, den Freitag und konkret. 2010 erschien von ihm das Buch: 'Datenschatten - Auf dem Weg in die Überwachungsgesellschaft?'

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Leseprobe

1. Hilfe naht!


Die gesundheitliche Vorbeugung und ihr Objekt


Es gibt kein größeres Geheimnis als das Elend.
Oscar Wilde, Der glückliche Prinz

Mama hat abgesagt. Hat selber keine Zeit, meint sie. »Ist schließlich dein Kind«, sagt sie, »ich hab auch was zu tun.« Sonja ist wütend, weil sie die Hilfe ihrer Mutter braucht. Weil sie ihr dankbar sein muss. »Okay!«, hat sie gesagt und einfach aufgelegt. Damit Mama merkt, dass es überhaupt nicht in Ordnung ist. Dass sie nicht mal mehr Zeit für ein Abschiedswort hat.

Wie soll sie das schaffen? Um 16 Uhr muss sie ihr Kind aus der Schule abholen, aber der Spätdienst fängt um 18 Uhr an. Mit dem Bus braucht sie mindestens 20 Minuten, aber einkaufen muss sie auch noch, weil im Kühlschrank nur noch zwei Eier, eine halbvolle Flasche Cola und Marmelade sind. Sonja steckt eine Zigarette zwischen die Lippen und zieht ihr Telefon aus der Hosentasche. Es gibt nur einen Ausweg; eine Kollegin muss für sie einspringen, ihre Schicht übernehmen.

Sonja, 35 Jahre alt. Geschieden. Eine Tochter, Rosa, acht Jahre alt.

Hat lange blonde Haare, auf die sie sehr stolz ist.

Sonja. 1 Meter 70 groß, wiegt 80 Kilo. Blutdruck meistens zwischen 145 bis 160/100 bis 95. Nicht besonders gut.

Nimmt gerade keine Medikamente. Trinkt manchmal ein, zwei Gläser Wein, wenn das Kind im Bett ist, meistens aber Bier. 15-20 Zigaretten am Tag.

Frühere Operationen: Einmal das Bein gebrochen, einmal Blinddarm. Letzten Winter ein übler Infekt, mit einem Antibiotikum behandelt. Vom Arzt für eine Woche morgens und abends verordnet, nach fünf Tagen von Sonja abgesetzt.

In letzter Zeit manchmal Unterleibsschmerzen, Verdauungsbeschwerden. Schläft schlecht.

Sonja arbeitet als Verkäuferin in einer großen Tankstelle, angestellt über eine Leiharbeitsfirma. Wenn sie nicht arbeitet, bekommt sie kein Geld. Der Chef hat gesagt, sie könne bald eine feste Stelle kriegen, aber dann nicht wieder davon gesprochen. Sonja macht sich Sorgen, wegen des Geldes. Wegen Rosa, weil das Mädchen nicht richtig mitkommt in der Schule. Immer gleich losheult, wenn irgendwas schief geht.

Irgendwie kriegt Sonja an diesem Tag doch alles hin. Sie erwischt den Bus zur Schule, holt ihre Tochter ab und organisiert auf dem Weg schnell einen Besuch bei Rosas bester Freundin. Die ist damit sehr zufrieden. »Ich hol sie nachher wieder ab!«, ruft Sonja noch schnell, rennt wieder zum Bus und kommt nur ein klein bisschen zu spät zum Spätdienst. Abends geht sie ein bisschen früher, hoffentlich merkt es keiner. Als sie ihre Tochter um 20 Uhr 30 wieder abholt, ist die Stimmung schlecht: Die beiden Schulfreundinnen haben sich nicht verstanden, die Mutter ist vom Besuch genervt. Es dauert furchtbar lange, bis sie zuhause sind und Rosa endlich bettfertig ist. Kurz noch waschen, den Schlafanzug. Rosa ist müde und trödelt, macht alles mögliche, nur nicht, was sie machen soll. »Es soll endlich Ruhe sein, bitte, bitte«, denkt Sonja. Das Kind soll schlafen.

Aber das Kind schläft nicht. Statt zu schlafen, singt das Kind, »Happy Birth­day« und »Alle Vögel sind schon da«, dann beides gleichzeitig. Sonja vergisst sich und brüllt, Rosa heult und die Nachbarn hämmern gegen die dünne Wand. »Magst du eine Milch? Komm, ich mach dir eine warme Milch!«, sagt Sonja, als sie sich wieder im Griff hat, und ihre Tochter nickt, das Gesicht tränennass.

Irgendwann schläft Rosa ein. Sonja holt sich eine Flasche Bier aus der Küche, sieht fern und raucht. Erst nach 24 Uhr schläft sie auf dem Sofa ein. Nach fünf Stunden wacht sie auf, weil es im Wohnzimmer hell wird. Sie legt sich zu ihrer Tochter, um noch ein wenig schlafen. Bevor der nächste Tag beginnt.

Unverlangte Ratschläge


»Das gesamte berufliche Dasein steht unter dem Stern des Zufälligen und Willkürlichen«, heißt es bei Pierre Bourdieu.1 Sonja schwimmt gegen den Strom. Sie kommt nicht voran. Mit größter Anstrengung bleibt sie auf der Stelle: Sie behält ihren Job und erledigt das Nötigste, kümmert sich um ihre Tochter. Doch keine Angst: Hilfe naht! Das Heer der herbeieilenden professionellen Helfer ist so groß, dass eine Staubwolke in der Ferne ihr Kommen ankündigt. Es eilen herbei: Jobcoaches, Fallmanager, Ernährungsberater. Therapeuten, Sozialarbeiter, Ärzte und andere Mediziner. Kommunalpolitiker, Sozialplaner, Stadtteilmütter. Allesamt Experten, allesamt hilfsbereit. Was sagen sie zu Sonja?

»Fünfmal am Tag Obst und Gemüse«, sagen sie. »Achten Sie auf die Ernährung Ihrer Kinder.« Alle möglichen Rezepte haben sie parat. Sonja bekommt Ratschläge, wie sie Stress vermeiden kann: »Gönnen Sie sich kleine, schöne Erlebnisse. Lassen Sie den Tag ruhig angehen.« Und Sport, Sport ist immer gut! »Bewegung bringt Sie wieder ins Gleichgewicht.«2 Die Gesundheitsexperten warnen und mahnen: Nicht rauchen. Alkohol höchstens in Maßen. Wenig Fett, wenig Salz, wenig Zucker! Sie erklären Sonja, warum es wichtig ist, dass sie sich Zeit für ihre Tochter nimmt – aber sie verraten ihr nicht, wie sie ihre Miete bezahlen soll.

Die Gesundheitsexperten reden Sonja zu wie einem kranken Gaul: Sie soll das Richtige tun und das Falsche bleiben lassen, »Risikofaktoren meiden«. Trotzdem raucht sie. Auf dem Nachhauseweg fischt sie noch schnell eine Fertigpizza aus der Tiefkühltruhe im Supermarkt und einen leckeren Schokopudding. Sie trinkt abends drei, vier Bier und schläft vor dem Fernseher ein. Und statt in den Sportverein zu gehen, sitzt ihre Tochter Rosa den ganzen Samstagvormittag vorm Fernseher. Angesichts dieses störrischen Verhaltens wird der Ton schärfer: »Als Gesundheitsminister kann ich nur die Rahmenbedingungen schaffen, die es Ihnen leichter machen, gesundheitliche Prävention zu leben. Den ersten Schritt aber müssen Sie selbst machen«, mahnte der ehemalige bundesdeutsche Gesundheitsminister Daniel Bahr 2013 in einer Broschüre zur Krankheitsvorbeugung. Weniger später debattierte der deutsche Bundestag über ein Gesetz, das die Prävention stärken sollte. »Jeder Einzelne trägt die Verantwortung für die Chancen und Risiken seines Lebens«, hieß es ganz grundsätzlich im Gesetzestext. »Diese Eigenverantwortung gilt es zu stärken.« Die gesundheitspolitische Stoßrichtung erklärte der Minister so: »Eine Solidargemeinschaft funktioniert nur, wenn der Einzelne tut, was er tun kann, um gesund zu bleiben.«

Und tut Sonja wirklich, was sie kann, um gesund zu bleiben? Fehlt es ihr am Willen? Vielleicht sollte sie viel grundsätzlichere Maßnahmen ergreifen und eine Psychotherapie machen, das Übel sozusagen an der Wurzel packen.3 »Übernehmen Sie Verantwortung!«, fordert die Europäische Föderation der Psychologenverbände (EFPA) zum Weltgesundheitstag. »In Zeiten gefährdeter Finanzierung der Gesundheitssysteme durch aufwendige medizinische Maßnahmen ist es wichtig, mehr auf kosteneffektive Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit zu schauen, wozu insbesondere unser eigenes Verhalten zählt.«

Vorbeugen statt behandeln


Seitdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 1986 die sogenannte Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung veröffentlichte, gilt es als gesundheitspolitischer Königsweg, Krankheiten zu vermeiden. »Vorbeugen ist besser als heilen!«, lautet die Parole. Erreicht werden soll das durch »ein Versorgungssystem, das auf die stärkere Förderung von Gesundheit ausgerichtet ist und weit über die medizinisch-kurativen Betreuungsleistungen hinausgeht«.

Die Idee klingt überzeugend: Die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung sinken, weil die Menschen erst gar nicht krank werden. Bereits entstandene Störungen werden früh erkannt und behandelt, zum Beispiel mit flächendeckenden »Vorsorgeuntersuchungen«. Prävention kommt von dem lateinischen Ausdruck für »zuvorkommen«: Die präventive Medizin will die pathologischen, krankhaften Entwicklungen aufhalten, durch eine gesunde Lebensweise und ein rechtzeitiges ärztliches Eingreifen. Im Zentrum ihrer Bemühungen stehen die alten und neuen »Volkskrankheiten« – Herzkreislaufstörungen, Diabetes, Krebs, mittlerweile auch psychische Krankheiten wie Depression. Sie gelten als »lebensstilbedingt« und daher »vermeidbar« – wenn, ja, wenn sich die Bevölkerung nur richtig verhielte!

Die »präventive Wende« der Gesundheitssysteme ist ein internationales Phänomen. Teilweise hat sie handfeste Folgen für die Versorgung, oft beschränkt sie sich noch auf politische Rhetorik. Immer aber geht ein Dauerfeuer wohlmeinender Ratschläge und mahnender Worte auf die Bevölkerung nieder: Ernährt euch besser! Finger weg von Zigaretten und Alkohol! Rein in die Fitnessstudios! Weil »Krankheitsvermeidung« als neues Ziel gilt, wachsen Renommee und Einfluss von Gesundheitsexperten, auch außerhalb der medizinischen Versorgung. Vermeintlich wissenschaftliche, biomedizinische Argumente erhalten auch bei sozialpolitischen Entscheidungen mehr Gewicht. Schließlich ist so ziemlich alles »gesundheitsrelevant«, was Menschen mit sich selbst und anderen tun.

Gesundheitswissenschaftler unterscheiden zwischen Vorbeugung durch Verhaltensänderungen und der Vorbeugung durch geänderte Verhältnisse. Um Verhaltensprävention handelt es sich beispielsweise, wenn eine öffentliche Kampagne die Bevölkerung auf die schädliche Wirkung einer salzreichen Ernährung hinweist, weil diese den Blutdruck steigern kann. Um Verhältnisprävention handelt es sich dagegen, wenn der Lebensmittelindustrie Salz-Höchstwerte für ihre Produkte vorgeschrieben werden. Beide Ansätze...

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