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E-Book

Neuropsychiatrische Aspekte der Multimorbidität

AutorTilman Wetterling
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl235 Seiten
ISBN9783170371101
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Das Thema Multimorbidität gewinnt zunehmend an Aufmerksamkeit, denn das gleichzeitige Bestehen mehrerer Erkrankungen führt zu großen medizinischen und sozialpolitischen Herausforderungen. Während dies vornehmlich als ein Problem des höheren Lebensalters angesehen wird, betrifft es im Bereich der Neuropsychiatrie auch viele Menschen im erwerbsfähigen Alter. Bislang sind neuropsychiatrische Aspekte hierbei wenig betrachtet worden. Es gibt bisher kein anerkanntes Konzept für Multimorbidität. In diesem Buch wird ein neu entwickeltes Modell zu deren Einteilung, das neuropsychiatrische und Suchterkrankungen berücksichtigt, vorgeschlagen und erörtert. Die bei einer Multimorbidität oft zahlreichen Funktionsstörungen führen zu einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität und einer erhöhten Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Die bei der Komplexität der Symptomatik häufig erforderliche Polypharmazie und andere therapeutische Möglichkeiten werden eingehend betrachtet.

Professor Dr. Tilman Wetterling ist Neurologe und Psychiater. Er arbeitet als Chefarzt an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Vivantes Klinikums Kaulsdorf in Berlin und lehrt an der Charité, Berlin.

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Leseprobe

2          Definition von Krankheit


 

 

 

Die Frage, was unter Krankheit zu verstehen ist, ist nicht einfach zu beantworten. Denn das, was als krank bezeichnet, ist abhängig von dem zugrunde gelegten Konzept von Gesundheit bzw. Krankheit. In der Menschheitsgeschichte sind verschiedene Konzepte von Krankheit entwickelt worden (Hess & Herrn, 2015). Die Weltgesundheitsbehörde hat keine Definition für Krankheit, sondern nur eine für Gesundheit (WHO, 1946). Danach ist Gesundheit »ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.« (»Health is a state of complete physical, mental and social wellbeing and not merely the absence of disease or infirmity.«)

Ein Definitionsversuch von juristischer Seite (BGH, 21.3.1958 – 2 Str 393/57): »Krankheit ist jede auch nur geringfügige oder auch nur vorübergehende Störung der normalen Beschaffenheit oder Tätigkeit des Körpers, die beseitigt oder gelindert werden sollte.«

Nach einer Definition des Gemeinsamen Bundesausschusses (www.g-ba.de) zu dem § 62 Abs.1 SGB V ist eine Krankheit ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand, der Behandlungsbedürftigkeit zur Folge hat.

In diesen Definitionen werden drei Aspekte herausgestellt, auf die noch näher einzugehen ist:

•  Strukturelle Veränderungen der Beschaffenheit des Körpers

•  Funktionseinschränkungen körperlicher Tätigkeiten

•  Behandlungsbedürftigkeit

Die beiden ersten Aspekte liegen auch dem Konzept der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health (WHO, 2005; deutsch: www.dimdi.de1)) zugrunde, wobei auch die mentalen Funktionseinschränkungen explizit erwähnt werden. In diesem Buch wird in vielen Punkten auf das ICF-Konzept Bezug genommen ( Kap. 2.4).

Grundsätzlich sind bei der Betrachtung des »krank«-seins verschiedene Sichtweisen zu unterscheiden (im Englischen gibt es dafür unterschiedliche Begriffe (Heinz, 2015)):

•  die des Betroffenen (engl. illness)

•  die des Arztes bzw. der medizinischen Wissenschaft (engl. disease)

•  die der Gesellschaft (engl. sickness)

Je nach Betrachtungsweise (Individuum, Gesellschaft, Kranken-/Sozialkassen etc.) können verschiedene Formen von Krankheit unterschieden werden. Auf die entsprechenden Aspekte von Multimorbidität wird in späteren Kapiteln eingegangen ( Kap. 3.2, Kap. 79).

Schwierig ist insbesondere eine Festlegung des Schweregrades der subjektiven Beschwerden oder einer Funktionseinschränkung, ab dem ein Krankheitswert besteht bzw. ab dem von einer Krankheit gesprochen werden kann. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Norm bzw. dem Normalzustand. Dieser ist interpersonell allenfalls statistisch zu bestimmen. Er unterliegt aber auch intrapersonellen Schwankungen. Die Norm, an der die Begriffe Krankheit und Gesundheit zu messen sind, kann eine gewisse Schwankungsbreite aufweisen. »Norm« kann nur Durchschnitt innerhalb einer gewissen Variationsbreite bedeuten (BGH, 21.3.1958 – 2 Str 393/57 und BVerwG, 16.02.1971 – BVerwG I C 25.66). Eine Norm ist aber gerade bei älteren Menschen schwer zu definieren und daher umstritten. Die Frage nach der Norm stellt sich auch für die verschiedenen Betrachtungsweisen von Krankheit.

2.1       Sicht des Betroffenen


Aus Sicht des Betroffenen kann der Zustand des Fehlens von Gesundheit (entsprechend der WHO-Definition als vollkommenes körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden) schon Krankheit bedeuten. Bei dieser Sichtweise wäre wahrscheinlich eine sehr hohe Zahl an Menschen krank. In der deutschen Sprache gibt es den Begriff Unwohlsein. Dieser bezeichnet einen Zustand, in dem der Betreffende sich noch nicht richtig krank fühlt. Hier wird deutlich, dass gesund und krank nur die Extreme zwischen vollkommenem Wohlbefinden einerseits und schwerer bis kompletter Einschränkung der körperlichen und geistigen Funktionen andererseits darstellen. Es ergibt sich also die Frage, ob und ggf. wie der Schweregrad der Beeinträchtigungen bestimmt werden kann.

Die häufigsten Störungen des Wohlbefindens sind Schmerzen, v. a. Rücken- und Kopfschmerzen sowie Schlafstörungen. Diese sind auch häufig Anlass, einen Arzt aufzusuchen. Die Bestimmung des Schweregrades von Schmerzen bzw. der Schlafqualität gestaltet sich sehr schwierig. Häufig werden hierzu sogenannte visuelle Analogskalen verwendet. Auf diesen kann der Betroffene z. B. den Ausprägungsgrad seiner Schmerzen angeben. Hierbei handelt es sich aber um ein rein subjektives Maß. Zur Verdeutlichung der Problematik: Zahnärzte kennen sowohl Patienten, die wegen der damit verbundenen Schmerzen eine Zahnextraktion gern in Vollnarkose vornehmen lassen möchten als auch einige wenige, die jede Art von Betäubung ablehnen. Dies zeigt, dass die Schmerzwahrnehmung und der Umgang mit Schmerzen, also die Schmerzverarbeitung, extrem unterschiedlich sein können. Diese Betrachtungen zeigen, dass es unmöglich ist, eine allgemein gültige Norm für Schmerzen festzulegen.

Weiter ist zu berücksichtigen, dass akute Schmerzen (z. B. bei Verletzungen) anders wahrgenommen und vor allem anders verarbeitet werden als chronische, bei denen es sehr häufig zu einer psychischen Reaktion (Dysphorie, Depression etc.) kommt ( Kap. 8.2). Diese Unterschiede lassen sich auch dann noch nachweisen, wenn die angegebenen Schweregrade der Schmerzen vergleichbar sind. Dies zeigt, dass vielfältige Einflüsse (Dauer, Situation etc.) eine große Rolle bei der subjektiven Schmerzwahrnehmung und v. a. bei der kognitiven Verarbeitung der Schmerzen spielen. Letztendlich ist aber die Schmerzverarbeitung entscheidend dafür, welchen Stellenwert die Schmerzen für den Betroffenen haben, d. h. wie groß die durch die verursachte Abweichung vom vollkommenen Wohlbefinden ist.

Diese Beispiele zeigen, dass das Zusammenspiel mehrerer Funktionen, insbesondere

•  der Wahrnehmung der Veränderung sowie

•  deren kognitive und psychische Verarbeitung

erst das subjektive Ausmaß der Beeinträchtigung des Wohlbefindens ergibt ( Kap. 8). Daher sind diese Funktionen mit in die Betrachtung von strukturellen Veränderungen des Körpers und Funktionseinschränkungen einzubeziehen. Diese Aspekte kommen auch in der WHO-Definition von Lebensqualität zum Ausdruck (WHO, 1997): »Lebensqualität ist die subjektive Wahrnehmung einer Person über ihre Stellung im Leben in Relation zur Kultur und den Wertsystemen, in denen sie lebt und in Bezug auf ihre Ziele, Erwartungen, Standards und Anliegen.« Lebensqualität ist nach dieser Definition ein anderer Aspekt von Wohlbefinden. Auch hierfür sind die Normen subjektiv und intraindividuell nicht konstant.

Aus der Sicht des Patienten ist neben dem Ausprägungsgrad der strukturellen Veränderungen des Körpers und dem Schweregrad der Funktionseinschränkungen auch die verbleibende Lebensqualität von Bedeutung für den Grad der Abweichung vom subjektiven Wohlbefinden. Die erheblichen interindividuellen Unterschiede hinsichtlich der Wahrnehmung des Schweregrades der Abweichung vom Wohlbefinden bzw. des Gefühls, krank zu sein, zeigen sich auch in der Inanspruchnahme von Heilmaßnahmen (Arztkonsultationen etc.) und in der Mitwirkung bei Heilmaßnahmen (z. B. regelmäßige Medikamenteneinnahme oder Kontrolluntersuchungen). Das Inanspruchnahmeverhalten weist große Unterschiede auf: von Ablehnung von medizinischen Maßnahmen trotz schwerer Erkrankung ( Kap. 9) bis zum fast täglichen Doctor shopping oder Selbstmedikation ( Kap. 7.6). Ziel medizinischer Maßnahmen muss es aus Sicht des Patienten sein, den Zustand des »Krankseins« möglichst schnell zu beenden. Dies ist aber bei einer Multimorbidität allenfalls eingeschränkt möglich.

2.2       Sicht des Arztes/der medizinischen Wissenschaft


Aus Sicht des Arztes, der von seinem Berufsethos her die Aufgabe hat, den Menschen bei Erkrankungen zu helfen, haben Kopfschmerzen allein nicht unbedingt Krankheitswert. Sie sind eher ein Anzeichen (= Symptom) für eine Normabweichung, deren Ursache (= Ätiologie) es zu klären gilt, z. B. familiärer oder beruflicher Stress, Migräne, Meningitis, Subarachnoidalblutung oder Hirntumor. Der Arzt hat demnach die Aufgabe, von dem Patienten genauere Angaben zu den Beschwerden (wie z. B. Zeitpunkt des Auftretens, Lokalisation, Intensität wechselnd oder dauerhaft, weitere Symptome wie Sehstörungen, Schwindel, Brechreiz etc.) zu erfragen....

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