In diesem Kapitel soll deutlich werden, dass in unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit und der damit verbundenen unterschiedlichen Klientel Professionalität verschieden verstanden werden kann. Exemplarisch hierfür sollen Besonderheiten in der Sozialpädagogischen Arbeit mit an der Borderline-Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60.31) erkrankten Personen in Bezug auf professionelle Distanz und Nähe in diesem Kontext beschrieben werden. Zunächst soll die Krankheit Borderline-Persönlichkeitsstörung vorgestellt werden. Anschließend folgt die Durchleuchtung der Beziehungsfähigkeit von Borderline-Persönlichkeiten als Kernproblem im Umgang mit Nähe und Distanz.
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist die häufigste Persönlichkeitsstörung im klinischen Umfeld.[50]
Diese Form der Persönlichkeitsstörung kann zu großem persönlichen Leiden und zu Beeinträchtigungen im sozialen und beruflichen Kontext sowie zu Beeinträchtigungen, die soziale Rolle zu erfüllen, führen. Die Beeinträchtigungen ziehen häufig selbstschadende Handlungen nach sich und können zum vollendeten Suizid führen. Symptomatisch für die Borderline-Persönlichkeitsstörung steht ein durchgängiges Muster von Instabilität in interpersonellen Beziehungen, im Selbstbild, der Affekte sowie ein durchgängiges Muster mangelhafter Impulskontrolle.[51] Dadurch sind beispielsweise ständige Wechsel von Liebespartnern begründet.
Mindestens fünf der folgenden neun Kriterien müssen laut dem DSM-IV, dem Klassifikationssystem der American Psychiatric Association (deutsch: Amerikanische psychiatrische Gesellschaft), erfüllt sein, damit die Borderline-Persönlichkeitsstörung als psychische Erkrankung diagnostiziert werden kann:
1. „verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden
2. ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist
3. Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung
4. Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen (Geldausgeben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, Essattacken)
5. wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungen
6. affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (zum Beispiel hochgradige Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst […])
7. chronische Gefühle von Leere
8. unangemessene heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren […]
9. vorübergehende, durch Belastung ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome“[52]
Die Bindungsfähigkeit der betroffenen Menschen ist intensiv beeinträchtigt. Betroffene reagieren häufig mit vorhersehbar inadäquatem Verhalten auf eine Trennung. Dies sind verzweifelte Versuche, das Verlassenwerden zu verhindern, auch wenn dieses Verlassen nur in der subjektiven Wahrnehmung als solches existiert. Diese Ängste äußern sich meist durch eine unangemessene Wutreaktion, durch ungerechtfertigtes Anklagen des Gegenübers oder durch Impulshandlungen, wie Selbstverletzungen.[53] Für Außenstehende gestaltet sich der Umgang mit diesem Verhalten als sehr anspruchsvoll.
Beziehungen verlaufen meist instabil, intensiv und stürmisch, während sich die Meinung über andere Menschen plötzlich dramatisch ändern kann. Die Borderline-Persönlichkeit kann im einen Moment von der Idealisierung des Gegenübers in dessen Entwertung im nächsten Moment geraten.[54]
Das instabile Selbstbild zeigt sich darin, dass die Person sich selbst als böse oder schlecht wahrnimmt und äußert sich in Impulsivhandlungen, wie leichtsinnige Geldverschwendung oder ungeschützte Sexualität.[55] Diese Handlungen dienen lediglich der Verletzung des Selbst.
Häufig ist die Tendenz erkennbar, dass sich erkrankte Menschen kurz vor dem Erreichen des Ziels selbst blockieren, um mit einem Erfolg nicht konfrontiert zu werden.[56] So stagnieren sie in ihrer Rolle und müssen diese nicht neu definieren, was für sie dem leichtesten Weg entspricht.
In der kindlichen Vorgeschichte sind bei Menschen mit der Diagnose Borderline überproportional häufig körperlicher und sexueller Missbrauch, Vernachlässigung sowie früher Verlust oder Trennung der Eltern zu finden.[57] Diese negativen Beziehungserfahrungen spiegeln sich im späteren Leben häufig in Bindungsstörungen wider. Negative Verhaltensmuster, die sich die Betroffenen in frühester Kindheit zu ihrem Selbstschutz angeeignet haben, bleiben häufig mehrere Jahrzehnte beibehalten, da sie sich einmal als hilfreich herausgestellt haben.
Etwa acht bis zehn Prozent der Erkrankten begehen vollendeten Suizid. Dies erfolgt häufig im Zusammenhang mit affektiven Störungen oder Störungen durch psychotrope Substanzen. Eine weitere Konsequenz dieser Erkrankung können körperliche Behinderungen infolge von selbstverletzenden Handlungen oder Suizidversuchen sein.[58]
Etwa ein Drittel der Patienten wird im Laufe ihres Lebens wieder gesund und ihnen gelingt es, ihre Identität zu stärken sowie selbstschädigende Handlungen, Wut und stürmische Beziehungen durch neu erlernte Verhaltensweisen zu ersetzen.
Da Borderline-Persönlichkeiten besonders im Bereich der sozialen Beziehungen beeinträchtigt sind, ist es für Professionelle wichtig, einige spezielle Aspekte im Umgang mit diesen Menschen zu beachten, um ein Gleichgewicht von Nähe und Distanz herzustellen.
Ein ‚Therapievertrag‘, wie er häufig im klinischen Setting genannt wird, kann durch die Festlegung der Rollen (von Professionellem, Professioneller und Klient, Klientin), der Verantwortlichkeiten wie auch der Ziele dem, der Betroffenen die nötige Struktur geben, die ihm, ihr in der Vergangenheit fehlte.[59] Umgekehrt erhalten Sozialarbeitende die Möglichkeit, ihre Arbeit auf diese Inhalte auszurichten und die Betroffenen bei Fehlverhalten mit diesem formalen Vertrag zu konfrontieren.
Ein weiterer Aspekt ist die regelmäßige Kommunikation über den Klienten, die Klientin im Team, um ein Spalten des Teams zu vermeiden.[60] Unter der Spaltproblematik wird verstanden, dass ein Klient, eine Klientin bei unterschiedlichen Mitarbeitenden oder Klienten, Klientinnen andere Teile der Mitarbeiterschaft oder der Klientel abwertet und so das Mitarbeiterteam oder die Klientel versucht zu spalten. Das intrigante, manipulative Verhalten gehört grundlegenden Symptomatik von ‚Borderline‘.
Von großer Bedeutung stellt sich auch das Setzen von Grenzen und das Aufstellen von Regeln heraus, auf deren Einhaltung bestanden werden sollte, da Borderline-Persönlichkeiten häufig versuchen werden, die Grenzen zu überschreiten auch wenn sie ihnen zunächst zustimmen. Des Weiteren gilt es, das eigene Verhalten zu reflektieren. Professionelle sollten sich bei Grenzüberschreitungen die Frage stellen: ‚Ist die Grenzüberschreitung auf das Verhalten des Patienten, der Patientin oder auf mein Verhalten zurückzuführen?‘[61] Außerdem sollten in der Arbeit mit an Borderline erkrankten Menschen besonders die Übertragungsphänomene richtig gedeutet und die Gegenübertragungsphänomene (siehe 4.1.) kontrolliert werden. Hierbei sollten sich Sozialarbeitende regelmäßig hinterfragen, ob es im Umgang mit der entsprechenden Person Abweichungen zum üblichen Umgang mit der Klientel gibt.[62]
Die Diagnose ‚Borderline‘ ist auch bei Professionellen häufig negativ besetzt. Daher gilt es, eine Stigmatisierung zu vermeiden, um nicht bereits vor Beginn des Arbeitsbündnisses Vorbehalte zu hegen.[63] Zudem sollten professionell Tätige einen realistischen Umgang mit Idealisierung und Entwertung beachten. Sie sollten sich verdeutlichen, dass diese Symptome lediglich Reinszenierungen früherer Beziehungserfahrungen darstellen.[64] Dieses Verhalten sollte demnach nicht auf die eigene Person zurückgeführt werden. Begleitend zu diesen wichtigen Merkmalen im Umgang mit Borderline-Persönlichkeiten gelten Supervision sowie Fort- und Weiterbildungen als sinnvolle Ergänzungen.[65]
Zusammenfassend sollten Professionelle insbesondere in der Arbeit mit Borderline-Klienten und Borderline-Klientinnen folgende Handlungsempfehlungen berücksichtigen:
‚Therapievertrag‘
Kommunikation im Team
Grenzen setzen
eigenes Verhalten reflektieren
Übertragungs- /...