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E-Book

Sex machina

Zur Zukunft des Begehrens

AutorSophie Wennerscheid
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl241 Seiten
ISBN9783957577535
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Schon immer hat sich der Mensch nach der Überschreitung einer ?natürlichen? Sexualität gesehnt. Neu ist, dass mit der Schaffung virtueller Welten und der Fertigung von lebensechten Sexpuppen und humanoiden Robotern nun die Möglichkeit besteht, dieses Begehren auch real auszuleben. Bevor aber entschieden werden kann, ob das die bisherige Begehrensordnung revolutioniert oder bestehende Geschlechterverhältnisse zementiert, muss die grundsätzliche Frage gestellt werden, was es heißt, eine Maschine zu begehren. Anhand zahlreicher Beispiele aus Film, Fernsehen, Kunst und Literatur, zeigt Sex Machina, wie unterschiedlich Begehren und Beziehungen zwischen Menschen und Maschinen imaginiert und organisiert werden können. Gleichzeitig ist es ein Plädoyer für einen entspannten Umgang mit Technik, der diese nicht als funktionale Vervollkommnung, sondern als Eigenart von Sexualitat und Begehren einordnet.

Sophie Wennerscheid, 1973 geboren, ist Kulturwissenschaftlerin mit einem besonderen Interesse für Literatur, Kunst und Film aus Skandinavien. Nach Forschungs- und Lehraufenthalten in Berlin, Freiburg, Uppsala und Kopenhagen arbeitet sie derzeit als Professorin für Skandinavistik an der Universität Gent in Belgien, lebt aber vorwiegend in Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Bücher und Aufsätze u.a. zu Søren Kierkegaard, Karen Blixen oder Lars von Trier, in deren Werken es um die Frage nach der Undurchdringbarkeit der eigenen Existenz geht.

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Leseprobe

VOM NATURZWANG
BEFREIT


Cupido auf neuen Wegen. Assistierte Reproduktion


Als Sigmund Freud 1898 in seiner Schrift »Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen« darüber nachdachte, inwiefern neurotische Störungen vermieden werden könnten, die auftraten, weil Sexualität notwendig an Fortpflanzung gebunden war, setzte er auf die Möglichkeit einer zuverlässigen Verhütung. Diese sollte helfen, sexuell frustrierende Praktiken wie den Coitus interruptus unnötig zu machen. Dass ein solcher Vorschlag etwas Skandalöses an sich hatte, scheint ihm dabei deutlich vor Augen gestanden zu haben. Kühn und vorsichtigkonjunktivisch zugleich formuliert er:

[…] theoretisch wäre es einer der größten Triumphe der Menschheit, eine der fühlbarsten Befreiungen vom Naturzwange, dem unser Geschlecht unterworfen ist, wenn es gelänge, den verantwortlichen Akt der Kinderzeugung zu einer willkürlichen und beabsichtigten Handlung zu erheben, und ihn von der Verquickung mit der notwendigen Befriedigung eines natürlichen Bedürfnisses loszulösen.1

Doch erst rund 60 Jahre später, mit der Einführung der Antibabypille in den 1960er-Jahren erfüllte sich, was Freud kaum auszuformulieren wagte. Seitdem lässt sich Sexualität entkoppelt von Fortpflanzung denken und praktizieren. Knapp zwanzig Jahre später, Ende der 1970er-Jahre, kam es zu einer weiteren grundsätzlichen Trennung von Sexualität und Reproduktion. Nun konnten Samen- und Eizellen außerhalb des menschlichen Körpers, nämlich in vitro, im Glas, vereinigt werden, um so menschliches Leben zu zeugen. Mit der Geburt des ersten sogenannten Retortenbabys im Sommer 1978 hatte sich diese Methode als medizinisch praktikabel erwiesen, auch wenn es noch einige Zeit dauern sollte, bis sie gesellschaftlich akzeptiert war. Neue technische Verfahren der Reproduktion wie etwa aktuell das reproduktive Klonen stellen diese Akzeptanz jedoch stets aufs Neue auf die Probe. Was von einigen als Fortschritt begrüßt wird, wird von anderen als unzulässiger und gefährlicher Eingriff des Menschen in vermeintlich natürliche Abläufe strikt zurückgewiesen. Auch der Umstand, dass »der heterosexuelle Geschlechtsverkehr für den Erhalt der menschlichen Gattung zunehmend überflüssig geworden ist«2, wird vielen Menschen zu einer Bedrohung bislang stabil erscheinender Koordinaten, ja zur Bedrohung für die menschliche Sexualität überhaupt. So fragte Jean Baudrillard angesichts neuer Entwicklungen in der Biotechnologie Ende der 1990er-Jahre erbost: »[W]as wird eigentlich aus dem von seinem eigenen Klon ausrangierten und im Grunde nutzlos gewordenen Menschen? Was wird aus der technisch arbeitslosen Sexualität?«3

Cupido auf neuen Wegen

Sollten Baudrillard und andere kulturpessimistische Kritiker*innen Recht haben mit ihrer Diagnose, dass die sexuelle Leidenschaft aufgrund neuer Bio-, Nano-, Gen- und Informationstechnologien immer geringer wird? Kommt es tatsächlich zu einer grundlegenden Entfremdung von unserem Körper? Wird der Geschlechtsverkehr durch Datenverkehr abgelöst? Technikskeptiker*innen neigen dazu, diese Fragen vorschnell mit Ja zu beantworten und führen als Reaktion auf die vermeintliche Entfremdung häufig den ›natürlichen Körper‹ und die ›natürliche Sexualität‹ ins Feld. Einer solchen Renaturalisierungstendenz soll hier nicht gefolgt werden. Stattdessen gilt es in den Blick zu nehmen, was sich im Bereich der Reproduktion überhaupt verändert hat, wie darüber diskutiert wird und wie ausgehend von diesen Veränderungen und Diskussionen Körper und körperliches Begehren neu gedacht werden können. Als Sinnbild dafür, dass durch Technik bewirkte Veränderungen nicht notwendig zu einem Verlust sexuellen Begehrens führen, kann die Cupido-Figur des Comiczeichners und Illustrators David Parkins dienen: Parkins stellt Cupido als verschmitzten Putten dar, der mit Pfeil und Bogen nicht auf das Herz des Menschen zielt, um so eine heftige Leidenschaft für einen anderen Menschen zu entfachen, sondern der seinen Pfeil in Form einer Injektionsnadel auf eine Eizelle richtet. Vielleicht bedeutet dieser Akt ja nicht, dass es kein heftiges erotisches Begehren nach einem anderen Menschen mehr geben wird, sondern vielmehr, dass Cupido mit all seiner Liebeskraft es schafft, dass die heterosexuelle Matrix als vermeintlich natürliche Basis aller Begehrensakte weiter ausgehebelt wird? Zumindest bietet die assistierte Reproduktion hier Möglichkeiten für nicht-normkonforme Beziehungs- und Familienkonstellationen, wie es sie so vorher nicht gegeben hat.

Menschen, die sich ein Kind wünschen, aber aus verschiedenen Gründen kein Kind zeugen können oder wollen, etwa weil sie unfruchtbar sind, weil sie das Risiko einer Erbkrankheit ausschließen wollen, sie alleinstehend sind oder in einer homosexuellen Beziehung leben, haben heutzutage verschiedene medizinische Möglichkeiten, ihr Wunschkind doch zu bekommen beziehungsweise etwas dafür zu tun, dass sie es zu einem späteren Zeitpunkt bekommen können. Sie können sich, grob gerechnet, für ein paar Hundert Euro einer Hormonbehandlung unterziehen, um die eigene Fruchtbarkeit zu steigern, sie können für 3 000 Euro eine sogenannte Fertilitätsreserve anlegen, sie können 4 000 Euro bezahlen, um eine In-vitro-Fertilisation (IVF) durchführen zu lassen oder sie bezahlen bis zu 10 000 Euro für eine intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI), bei der ausgewählte Samenzellen direkt in das Zytoplasma einer Eizelle eingespritzt werden. Die beiden letztgenannten Verfahren lassen sich dabei in Form einer homologen oder einer heterologen Insemination durchführen, also entweder mit eigenen oder fremden Samen- oder Eizellen, wobei die Eizellspende in Deutschland bislang nicht zulässig ist. Wenn man verheiratet und die Frau nicht älter als 39 Jahre alt ist, dann übernimmt in Deutschland die gesetzliche Krankenkasse einen Teil der Kosten für IVF und ICSI. In anderen Ländern, in Belgien zum Beispiel, reicht die Unterstützung des Staates deutlich weiter. Fremde Eizellen können hier ohne Weiteres gekauft werden und auch die Untersuchung des in vitro erzeugten Embryos auf mögliche Gendefekte hin, die sogenannte Präimplantationsdiagnostik (PID), ist selbstverständlicher Teil des Reproduktionsprozesses.

Eine weitere Möglichkeit der assistierten Reproduktion besteht darin, einer Frau, die nicht selbst über eine (gesunde) Gebärmutter verfügt, eine andere Gebärmutter einzupflanzen und ihr danach eine in vitro befruchtete Eizelle einzusetzen. Oder eine in vitro befruchtete Eizelle wird in den Körper einer anderen Frau eingesetzt, die das Kind dann als sogenannte Leihmutter austrägt und nach der Geburt an die genetische Mutter beziehungsweise gegebenenfalls an die zuvor bestimmten Eltern übergibt (in dem Fall etwa, dass es sich bei den Eltern um ein schwules Paar handelt, bei dem die Eizelle einer Frau, die nicht die Leihmutter ist, mit der Samenzelle einer der beiden Männer befruchtet wurde). Zwar regelt das in Deutschland seit 1990 geltende Embryonenschutzgesetz, dass diese Art von Leih- oder Tragemutterschaft in Deutschland ebenso wenig erlaubt ist wie die Spende beziehungsweise der Verkauf und Kauf von Eizellen, doch ist das anderswo, in Spanien, Belgien oder der Ukraine etwa, eine gängige Praxis, die als solche auch von Frauen und Männern aus Deutschland in Anspruch genommen wird.

Die unterschiedliche rechtliche Handhabung der verschiedenen Reproduktionstechniken zeigt, dass um ihre Legitimität nach wie vor gerungen wird. Konkrete ethische Bedenken und grundsätzliche Vorbehalte gegenüber dem medizinisch Machbaren sind insofern Teil des Reproduktionsdiskurses. Deutlich wurde das zum Beispiel an der kontroversen Rede, die die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff im März 2014 in Dresden gehaltenen hat. Unter dem Titel »Von der Machbarkeit« prangerte sie dort die ihrer Meinung nach bedrohlichen Auswüchse der Reproduktionsmedizin als Machenschaften von »Frau Doktor und Herr Doktor Frankenstein«4 an. Mit dem Verweis auf Frankensteins Schöpfungswahn richtet sich Lewitscharoff gegen Menschen, die sich ihrer Ansicht nach nicht mit dem abfinden, was die Natur oder Gott dem Menschen als sein Leben und Sterben gegeben habe, sondern in den Lauf der Dinge eingreifen und sich damit zum Herrn über das Schicksal machen. Als ihr »zutiefst zuwider« beschreibt Lewitscharoff jede Handlung, bei der der Mensch selbst Hand an sich lege. Die Aversion der Autorin kommt zum Ende der Rede hin besonders deutlich zum Ausdruck, wenn sie die gegenwärtige Reproduktionsmedizin mit der Züchtungsideologie des Nationalsozialismus vergleicht und die auf »abartigen Wegen« gezeugten Menschen als »zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas« diffamiert.

Andere Menschen derart empathielos zu dehumanisieren, während man meint, sich selbst glücklich schätzen zu dürfen, weil man ein natürlich gezeugter und deshalb echter und ganzer Mensch ist, hat...

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