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Sie behandelten uns wie Tiere

Ich wurde vom IS versklavt und misshandelt - und habe dennoch überlebt

AutorCélia Mercier
Verlagmvg Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl300 Seiten
ISBN9783961210558
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
ugust 2014, die Jesidin Sara steckt gerade mitten in den Vorbereitungen zu ihrer Hochzeit, als IS-Soldaten ihr Dorf im Irak überfallen. Sie ermorden alle Männer und nehmen die Frauen und Kinder mit. Die jungen Mädchen werden allesamt von ihren Müttern getrennt und von den islamistischen Terroristen als Sexsklaven missbraucht. Sara hat bei dem Angriff drei ihrer Brüder und ihren Vater verloren. Gemeinsam mit ihren Schwestern ist sie gefangen genommen. Gewalt wird zum Teil ihres Lebens. Nach Wochen des Leidens und der Angst gelingt ihr schließlich die Flucht nach Kurdistan und später nach Frankreich. Was aus ihrer Familie geworden ist, weiß sie bis heute nicht. Sie behandelten uns wie Tiere erzählt die Geschichte dieser mutigen Frau, die sich heute ganz offen gegen den IS stellt. In aller Öffentlichkeit, in Zeitungen und im Fernsehen klagt sie den IS an und nimmt jede Gelegenheit wahr, für eine Welt ohne Terrorismus zu kämpfen.

Vor dem furchtbaren Angriff auf ihr Dorf steckte Sara mitten in ihren Hochzeitsvorbereitungen. Heute erzählt sie ihre Geschichte mithilfe der Journalistin Célia Mercier, damit sie gehört wird und die Grausamkeiten des IS bekannt werden.

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Leseprobe

Am Anfang …


Am 10. Juni 2014 fiel die irakische Stadt Mossul in die Hände des Islamischen Staats. Die öffentlichen Lautsprecher brüllten: »Islamischer Staat, Daulat Islamiya!« Tausende Kämpfer der Organisation waren, unterstützt von anderen Dschihadistengruppen, in Mossul eingefallen, der mit zwei Millionen Einwohnern zweitgrößten Stadt des Landes. Wie versteinert saßen wir vor dem Fernseher. Wir konnten es nicht glauben. Mein Vater meinte, die irakische Armee hätte uns verraten und einfach die Flucht ergriffen. Jetzt mussten wir uns auf das Schlimmste gefasst machen. Der Daesch bestand aus Sunniten, die die irakische Regierung als proschiitisch ablehnten. Sein Ziel war die Errichtung eines Kalifats. Es hieß, die Kämpfer des Daesch rekrutierten sich aus Saddam Husseins ehemaligen Truppen und aus Dschihadisten. Die Christen Mossuls verließen die Stadt in heller Panik. 500.000 Einwohner flüchteten Hals über Kopf, alles hinter sich lassend.

*

Wir lebten unweit von Mossul und machten uns große Sorgen. Unser Dorf Kocho liegt in der Provinz Ninive, an der Grenze zum autonomen Kurdistan, unweit der fruchtbaren Tigris-Ebene. Dort kam ich im Haus der Familie zur Welt, an einem Frühlingstag. Damals gingen die Frauen zum Gebären noch nicht ins Krankenhaus. Die Frauen mussten ganz schön was aushalten, eine Schwangerschaft folgte der nächsten. Viele Frauen hatten zehn, zwölf, vierzehn Kinder. Zwischen den Schwangerschaften bildete sich der Bauch gar nicht mehr zurück, sodass insbesondere ältere Frauen aussahen, als wären sie ständig hochschwanger. Meine Tante Kedschal, die kleine Schwester meines Vaters, und eine Hebamme standen meiner Mutter bei der Geburt bei. Meine Tante dachte sich auch meinen Vornamen aus. Sie sagte meinem Vater: »Sara gefällt mir sehr gut, der Name passt prima zu diesem kleinen Püppchen. Ach, ist die süß!« Zur Feier meiner Geburt verteilte meine Familie Schokolade und andere Süßigkeiten im Dorf. Und am siebten Tag opferte meine Mutter ein Huhn, um Gott zu danken. Im gleichen Jahr feierten wir meine Taufe, in Lalisch, einem heiligen Ort der Jesiden. Neben der Weißen Quelle goss mir ein Priester Wasser über die Stirn und machte mich so zum Mitglied unserer Glaubensgemeinschaft.

Obwohl unsere Region umkämpft und ziemlich lebensfeindlich ist, kommen, wie zum Trotz, in unserer Gemeinschaft weiter Kinder zur Welt. Die Tragödie des kurdischen Volkes besteht darin, dass es kein eigenes Staatsgebiet besitzt. Unsere Nation wurde von den Europäern auseinandergerissen, zwischen dem Irak, der Türkei, Iran, Syrien usw. aufgeteilt. Folglich ist unsere Geschichte vom Widerstand geprägt: Widerstand gegen die Unterdrückung durch autoritäre Regimes, die unsere Kultur am liebsten ausgelöscht hätten. 1970 versprach uns Saddam Hussein ein autonomes Kurdistan im Nordirak. Doch er hielt sein Versprechen nicht, stattdessen verfolgte er uns nach Kräften. Und ich gehöre innerhalb des kurdischsprachigen Gebiets im Norden des Irak wiederum einer Minderheit an: Ich bin Jesidin.

*

Hier, im Norden des fruchtbaren Halbmonds Mesopotamiens, der Wiege der Zivilisation, hier, wo die Schrift erfunden wurde, glauben wir an eine der ältesten Religionen der Welt. Jesiden gab es lange vor Juden, Christen oder Muslimen. Unser Kalender geht 6.765 Jahre zurück. Unser weltliches Oberhaupt ist der »Mir« (Prinz), unser spirituelles Oberhaupt Baba Schaich. Eine eigene Kaste beschäftigt sich ausschließlich mit religiösen Angelegenheiten: die »Scheiche«. Sie vermitteln zudem bei Konflikten zwischen Familien. Auch die »Pire« kümmern sich um Glaubensstätten, Heiligtümer und den Erhalt der Gotteshäuser. Sie sind unsere Priester. Die Scheiche und die Pire stehen an der Spitze der Hierarchie. Wir, die »Murid« (Laienkaste), stellen den Großteil des Volks. Wir folgen den Scheichs, unseren spirituellen Anführern. Wir verehren Elemente der Natur: Sonne, Mond, Feuer und Luft. Am heiligsten ist uns die Sonne, Symbol für das göttliche Licht, das alles erleuchtet. In ihre Richtung wenden wir uns beim Beten. Auch die Sindschar-Berge sind uns heilig, sie sind unsere Mutter, sie beschützen uns. Im Frühling sind sie wunderschön, ein Meer von Blättern und Blüten. Die Luft duftet, am Himmel steht die Sonne – in dieser bezaubernden Landschaft vergisst jeder seine Sorgen. Überall blüht der Klatschmohn, und unser Herz singt.

Ich interessiere mich sehr für Religion und bin sehr gläubig. Nach dem Tod meines Großvaters, ich war noch ganz klein, gab mir Mama eine Perle aus weißem Lalisch-Ton, das Symbol unseres Glaubens. Der Tod meines Opas bekümmerte mich sehr, ich umklammerte die Perle in meiner Hand und weinte. Unser Priester erklärte mir, dass der Leib zwar verfalle, die Seele aber in einem anderen Körper weiterreise. War man böse, wird man als Tier wiedergeboren. Hat man aber gut und gerecht gelebt, wird man als Mensch wiedergeboren, bis die Seele am Ende geläutert ist.

In meiner Religion ruft man Gott, »Xwede«, vor jeder Mahlzeit und zum Beistand in schwierigen Situationen an. Man ruft auch Scheich Adi an, einen Mensch gewordenen Engel und großen jesidischen Heiligen. Allerdings bete ich selten. Mama sagte, solange man anderen nichts Böses zufügt, brauche man nicht zu beten. Beten diene nur dazu, Sünden zu büßen.

Wir haben sehr viele eigene Rituale, unser freier Tag ist der Mittwoch. Mein Lieblingsfest findet Mitte April statt: der Rote Mittwoch, unser Neujahr. An diesem Tag feiern wir die Erschaffung der Welt, den ersten Lichtstrahl der Sonne am Himmel. Einen Tag zuvor pflücken die Kinder wilden Klatschmohn in den Wiesen. Daraus bereiten sie am Morgen eine Paste aus Blütenblättern, Eierschalen und Erde. Diese Paste streichen wir auf die Frontgiebel unserer Häuser. Die Frauen kochen harte Eier, die danach kunstvoll in allen Farben bemalt werden und den Planeten Erde symbolisieren. Danach ziehen die Kinder von Haus zu Haus, wünschen allen Nachbarn ein gutes neues Jahr und bekommen bemalte Eier geschenkt. Die ganze Familie frühstückt zusammen auf einer Wiese und wirft die Eierschalen zu Boden, um die Erde zu segnen. Hinterher gehen wir zum Friedhof und ehren unsere Toten.

Am Ende des Winters, im März, feiern wir auch das kurdische Neujahr Newroz. Die Menschen strömen ins Gebirge und picknicken im Gras. In den Straßen tanzt man zu den Rhythmen traditioneller kurdischer Musik, man grillt im Freien und entzündet Freudenfeuer. Auch auf das Ida-Ezi-Fest freue ich mich immer. Ezi ist ein heiliger Name Gottes. Vor dem Fest gibt es eine dreitägige Fastenzeit. Das Fasten beginnt um fünf Uhr morgens, wenn es noch dunkel ist, und währt bis zum Sonnenuntergang. Angehörige der Priesterkaste fasten bis zu zwölf Tage lang, allerdings unterbrochen von Festen. Das Fastenbrechen wird im großen Kreis begangen, man lädt Nachbarn ein, die Schokolade und andere Süßigkeiten mitbringen. Die Menschen wünschen einander schöne Festtage und dekorieren ihre Häuser.

Unser Oberpriester erzählte uns von der Erschaffung der Welt. Er hat unsere zwei heiligen Bücher studiert, das Buch der Offenbarung und die Schwarze Schrift. Er gehört der Kaste der Pire an, er ist weise und hoch angesehen. Seine Worte faszinierten mich immer. Am Anfang schuf Gott, Xwede, die weiße Perle und einen Vogel. Er legte ihm die Perle auf den Rücken, wo sie 40.000 Jahre blieb. Dann blies Gott auf die Perle und sie zersprang in unzählige Stücke. Das größte Stück wurde zur Sonne, die anderen verwandelten sich in Sterne und Wolken. Als sie sich abregneten, entstand das Meer. Gott schuf sieben Engel und gab ihnen ein Boot, damit sie das Meer in alle Richtungen befahren könnten. Die Erde entstand, als er Lalisch, unsere heilige Stätte, ins Meer warf. Die sieben Engel gingen am Ufer Lalischs an Land. Unserem Glauben zufolge waren die ersten Nachkommen Adams schon Jesiden. Einen der sieben Engel, Melek Taus, verehren wir als wichtigen Mitschöpfer der Welt; sein Symbol ist der Pfau. Im Anfang sprach Gott zu Melek Taus: »Ich bin der einzige Gott und du verneigst dich vor niemandem außer mir.« Dann schuf er Adam, hauchte ihm eine Seele ein und befahl den Engeln, vor dem Menschen niederzuknien. Alle gehorchten, außer dem Engel in Pfauengestalt. Er protestierte: »Herr, du hast uns angewiesen, niemanden außer dir anzubeten! Warum sollte ich vor Adam auf die Knie gehen?« Beeindruckt von Melek Taus’ Loyalität erhob Gott ihn zum obersten der sieben Engel.

Der Islam erzählt eine ähnliche Geschichte, nur dass der Engel, der sich vor Adam niederzuknien weigert, aus dem Paradies verbannt wird und zum Teufel wird. Doch unser Pfauen-Engel ist nicht der Teufel. Wir beten nicht das Böse an, wir tun niemandem etwas zuleide. Wir glauben, dass Gott alles erschuf und jeder glauben darf, was er will. Gut und Böse stecken in jedem von uns, und wir allein sind dafür verantwortlich, dass das Gute obsiegt. Drei Dinge zählen für uns mehr als alles andere: Wahrheit, Wissen und Verdienst.

Scheich Adi, ein Sufi-Mystiker, wurde im 12. Jahrhundert an unserem heiligen Ort Lalisch begraben. Er kam aus der Bekaa-Ebene im Libanon, studierte in Bagdad und ging dann in die Berge Kurdistans, um in Abgeschiedenheit zu meditieren. Wir halten den Heiligen für eine Reinkarnation von Melek Taus, der zu uns herunterkam, um uns Menschen durch schwierige Zeiten zu führen. Er reformierte unsere Religion; nach seinem Tod wurde sein Mausoleum zum Pilgerziel.

Ich erinnere mich noch gut an meine erste Wallfahrt nach Lalisch. Ich war 19 Jahre alt. Einer meiner Onkel nahm mich und meine Schwester Schamal mit dem Auto mit. Sechs Stunden lang fuhren wir durch grandiose Landschaften. Ich freute mich schon sehr darauf, die heilige Stätte zu erkunden, an der ich als Baby...

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