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E-Book

Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse

Therapeutic Aspects of Psychoanalysis

AutorErich Fromm
VerlagEdition Erich Fromm
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl106 Seiten
ISBN9783959120944
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Erich Fromm hat kaum etwas zur sogenannten therapeutischen 'Technik' publiziert. Umso wertvoller ist der nachgelassene Band 'Von der Kunst des Zuhörens', der - aus dem Mitschnitt eines Vortrags und eines Seminars entstanden - zahlreiche Fragen der psychotherapeutischen Praxis erörtert. Die Beiträge dieses Buches geben nicht nur unmittelbar Auskunft über den praktizierenden Psychoanalytiker Fromm (wozu vor allem seine detaillierten Bemerkungen zu einem Fallbericht beitragen), sondern auch über die modernen Charakterneurosen und die speziellen Erfordernisse bei ihrer Behandlung. Für Fromm ist die Kunst des Therapierens eine Kunst des Zuhörens und eine Frage des Bezogenseins. Eine solche therapeutische 'Technik' lässt sich nicht mit Hilfe von störungsspezifischen Behandlungsmanualen erlernen; vielmehr ist sie das Ergebnis eines sehr direkten, urteilsfreien Bezogenseins auf einen anderen Menschen und auf sich selbst. Patienten werden von Fromm nicht als ein fremdes, 'gestörtes' Gegenüber gesehen; vielmehr ist die Beziehung von einer tief reichenden Solidarität bestimmt. Dies setzt voraus, dass der Analytiker und die Analytikerin mit sich selbst umzugehen gelernt haben und noch immer - durch tägliche Selbstanalyse - zu lernen bereit sind. Aus dem Inhalt •Wirkfaktoren der psychoanalytischen Behandlung •Voraussetzungen der psychoanalytischen Therapie •Die prägende Kraft von Gesellschaft und Kultur •Die therapeutische Beziehung im psychoanalytischen Prozess •Die Bearbeitung des Widerstands •Übertragung, Gegenübertragung und reale Beziehung •Besondere Methoden bei der Therapie der modernen Charakterneurosen •Sich selbst analysieren •Psychoanalytische 'Technik' oder die Kunst des Zuhörens

Erich Fromm, Psychoanalytiker, Sozialpsychologe und Autor zahlreicher aufsehenerregender Werke, wurde 1900 in Frankfurt am Main geboren. Der promovierte Soziologe und praktizierende Psychoanalytiker widmete sich zeitlebens der Frage, was Menschen ähnlich denken, fühlen und handeln lässt. Er verband soziologisches und psychologisches Denken. Anfang der Dreißiger Jahre war er mit seinen Theorien zum autoritären Charakter der wichtigste Ideengeber der sogenannten 'Frankfurter Schule' um Max Horkheimer. 1934 emigrierte Fromm in die USA. Dort hatte er verschiedene Professuren inne und wurde 1941 mit seinem Buch 'Die Furcht vor der Freiheit' weltbekannt. Von 1950 bis 1973 lebte und lehrte er in Mexiko, von wo aus er nicht nur das Buch 'Die Kunst des Liebens' schrieb, sondern auch das Buch 'Wege aus einer kranken Gesellschaft'. Immer stärker nahm der humanistische Denker Fromm auf die Politik der Vereinigten Staaten Einfluss und engagierte sich in der Friedensbewegung. Die letzten sieben Jahre seines Lebens verbrachte er in Locarno in der Schweiz. Dort entstand das Buch 'Haben oder Sein'. In ihm resümierte Fromm seine Erkenntnisse über die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Am 18. März 1980 ist Fromm in Locarno gestorben.

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Leseprobe

1. Zum Selbstverständnis und zum Menschenbild der Psychoanalyse


a) Welches Ziel hat die Psychoanalyse?

Die Frage, mit der ich beginnen möchte[1], ist zugleich auch die Grundfrage für alles weitere: Welches Ziel hat die Psychoanalyse? Dies ist eine einfache Frage, und es gibt auch eine einfache Antwort: Die Psychoanalyse zielt darauf, sich selbst zu erkennen. Selbsterkenntnis ist ein sehr altes menschliches Bedürfnis. Von den Griechen über das Mittelalter bis zur Gegenwart lässt sich die Vorstellung nachweisen, dass die Selbsterkenntnis die Grundlage der Erkenntnis der Welt ist – oder um es mit einer drastischen Formulierung von Meister Eckhart auszudrücken: „Es gibt nur einen einzigen Weg, Gott zu erkennen: sich selbst zu erkennen.“ Selbsterkenntnis ist eine der ältesten Sehnsüchte der Menschen. Sie ist eine Sehnsucht oder eine Zielsetzung, die ihre Wurzeln sehr wohl in objektiven Gegebenheiten hat.

Wie kann jemand die Welt erkennen, wie vermag jemand zu leben und richtig zu reagieren, wenn uns das Instrument zum Handeln und zur Entscheidung nicht bekannt ist? Wir sind der Führer dieses „Ichs“, das es irgendwie fertigbringt, dass wir in der Welt leben, Entscheidungen fällen, Prioritäten setzen und uns zu Werten bekennen. Wenn dieses Ich, dieses Subjekt, das entscheidet und handelt, uns nicht genügend bekannt ist, bedeutet dies, dass all unsere Handlungen und Entscheidungen halbblind oder nur in einem halbwachen Zustand erfolgen. Es gilt, in Betracht zu ziehen, dass der Mensch im Unterschied zum Tier keine solchen Instinkte hat, die ihm sagen, wie er zu handeln hat, so dass das Tier auch gar nichts außer dem, was ihm die Instinkte sagen, wissen muss. Allerdings gilt diese Feststellung nur mit der Einschränkung, dass auch im Tierreich die Tiere etwas lernen müssen, und zwar selbst die auf niedrigem Evolutionsniveau. Instinkte funktionieren nicht ohne wenigstens ein Minimum an Lernen. Dieser Aspekt ändert aber nichts daran, dass die Tiere im Großen und Ganzen nicht viel „wissen“ müssen. Das Tier muss sehr wohl einige Erfahrungen gesammelt haben, die durch die Erinnerung vermittelt werden.

Der Mensch hingegen muss Erkenntnis haben, um entscheiden zu können. Seine Instinkte sagen ihm nicht, wie er sich entscheiden soll. Sie sagen ihm nur, dass er essen, trinken, sich verteidigen und schlafen muss, und nach Möglichkeit auch, dass er Kinder [XII-262] hervorbringen soll, wobei der Trick der Natur darin besteht, dass sie den Menschen mit einem bestimmten Vergnügen oder einer Lust auf sexuelle Befriedigung ausgestattet hat. Doch das sexuelle Verlangen ist bei weitem kein so starkes instinktives Verlangen wie die anderen Triebe und Impulse. Das Verlangen, sich selbst zu kennen, ist deshalb nicht nur unter einer spirituellen, religiösen, moralischen oder menschlichen Perspektive eine Bedingung des Menschen, sondern auch bei biologischer Betrachtungsweise.

Das Optimum an Lebensfähigkeit hängt vom Grad der Kenntnis über uns selbst ab. Diese Kenntnis ist das Instrument, mit dem wir uns in der Welt orientieren und unsere Entscheidungen treffen. Offensichtlich ist es so: Je besser wir uns selbst bekannt sind, desto richtiger sind unsere Entscheidungen, die wir treffen. Und je weniger wir uns kennen, desto unklarer müssen unsere Entscheidungen ausfallen.

Die Psychoanalyse eignet sich nicht nur zur Therapie, sondern ist auch ein Instrument, sich selber zu verstehen, das heißt, sich selber zu befreien. Als Hilfsmittel bei der Kunst des Lebens hat die Psychoanalyse unter persönlichen und praktischen Gesichtspunkten meiner Meinung nach sogar die wichtigste Bedeutung.

Der Hauptwert der Psychoanalyse liegt darin, dass sie zu einer spirituellen Veränderung der Persönlichkeit verhelfen kann, und weniger darin, Symptome zu heilen. Solange es keine bessere und kürzere Methode gibt, Symptome zu heilen, hat die Psychoanalyse auch hier ihre Bedeutung; ihre tatsächliche historische Bedeutung liegt in Richtung jener Erkenntnis, die man auch im buddhistischen Denken findet: Es geht der Psychoanalyse um eine bestimmte Art des Gewahrwerdens seiner selbst, um „Achtsamkeit“, wie sie in der buddhistischen Praxis eine zentrale Rolle spielt, mit dem Ziel, einen besseren Zustand des Seins zu erreichen und sinnvoller leben zu können als der durchschnittliche Mensch.

Die Psychoanalyse behauptet, dass Selbsterkenntnis eine heilende Wirkung hat. Diesen Anspruch erhob bereits das Evangelium: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ [Jo 8,32] Warum soll die Kenntnis des eigenen Unbewussten, also eine umfassende Selbsterkenntnis, dazu verhelfen, einen Menschen von seinen Symptomen zu befreien, ja ihn sogar glücklich machen?

b) Sigmund Freuds therapeutische Zielsetzung und ihre Kritik

Ich möchte zuerst auf die therapeutische Zielsetzung der klassischen, der Freudschen Psychoanalyse, zu sprechen kommen. Freud sah das therapeutische Ziel darin, den Menschen arbeitsfähig und sexuell genussfähig zu machen, so dass er sich der Sexualität erfreuen kann und fähig ist, sexuell zu funktionieren. Um es mit anderen Worten zu sagen, das Ziel ist, zu arbeiten und sich fortzupflanzen. Dies sind zugleich die zwei großen Forderungen, die die Gesellschaft an jeden Einzelnen stellt. Die Gesellschaft muss den Menschen Gründe liefern und sie indoktrinieren, warum sie arbeiten und Kinder hervorbringen sollen. Wir tun dies schlecht und recht aus vielerlei Gründen. Der Staat tut im allgemeinen nichts besonderes, um die Menschen dazu anzuhalten; braucht der Staat aber mehr Kinder, als derzeit hervorgebracht werden, dann wird er alle möglichen Anstrengungen dazu unternehmen. [XII-263]

Freuds Definition von psychischer Gesundheit ist in Wirklichkeit eine gesellschaftliche Definition. Sie zielt auf eine Normalität im gesellschaftlichen Sinne ab. Es geht darum, dass der Mensch der gesellschaftlichen Norm gemäß funktioniert; dementsprechend ist auch die Definition des Symptoms eine gesellschaftliche: Ein Symptom liegt dann vor, wenn es für den Einzelnen schwierig ist, der gesellschaftlichen Norm gemäß zu funktionieren. Deshalb wird der Konsum von Drogen als schweres Symptom angesehen, das zwanghafte Rauchen dagegen nicht, obwohl es vom Psychologischen her das gleiche Phänomen ist. Gesellschaftlich gesehen gibt es einen großen Unterschied, denn wenn jemand bestimmte Drogen nimmt, dann hindern diese ihn in vielen Situationen daran, gesellschaftlich angemessen zu funktionieren. Jemand kann sich zu Tode rauchen – wen kümmert es? Stirbt er an Lungenkrebs, dann ist dies kein gesellschaftliches Problem. Die Menschen sterben so oder so. Und wenn jemand mit fünfzig Jahren an Lungenkrebs stirbt, dann ist er gesellschaftlich gesehen auch nicht mehr wichtig. Immerhin hat er die gewünschte Zahl von Kindern gehabt, hat seine Arbeitskraft der Gesellschaft zur Verfügung gestellt und sein Bestes getan. Sein Rauchen und der Lungenkrebs sind uninteressant, weil sie die genannten gesellschaftlichen Funktionen nicht stören.

Wir erklären etwas zu einem Symptom, wenn es der gesellschaftlichen Funktion des Menschen abträglich ist. Weil dies so ist, gilt der Mensch als gesund, der unfähig ist, etwas von seinem eigenen Erleben zu spüren, und stattdessen alles immer nur ganz „realistisch“ sieht. In Wirklichkeit ist er genauso krank wie der Psychotiker, der unfähig ist, die äußere Wirklichkeit als etwas wahrzunehmen, mit dem er umgehen kann und das er gestalten kann, der stattdessen aber alles in sich wahrnimmt, was für den sogenannten normalen Menschen unzugänglich ist: Gefühle, selbst die äußerst feinen Gefühlsregungen, und das innere Erleben.

Freuds Definition von seelisch-geistiger Gesundheit ist im wesentlichen eine gesellschaftliche. Dies ist keine Kritik an Freud im engeren Sinne, denn Freud war so sehr ein Kind seiner Zeit, dass er seine Gesellschaft nie infragestellte. Die einzige Ausnahme betraf die Sexualität; hier war ihm das sexuelle Tabu zu streng, weshalb er es gemildert sehen wollte. Freud selbst war ein sehr prüder Mensch, und er wäre außerordentlich geschockt, wenn er sehen würde, zu welchem sexuellen Verhalten angeblich seine Lehren geführt haben. In Wirklichkeit hat Freud wenig mit dieser Entwicklung zu tun, denn das gegenwärtige Sexualverhalten ist Teil eines allgemeinen Konsumverhaltens.

Wie begründet Freud das beschriebene Ziel der Psychoanalyse? Die Freudsche Auffassung von dem, was in der Therapie geschieht, lässt sich im Kern von seiner Trauma-Theorie her so skizzieren: Freud nimmt ein traumatisches Ereignis in der frühen Kindheit an, das verdrängt wurde und, eben weil es verdrängt wurde, noch immer am Werk ist. Der sogenannte „Wiederholungszwang“ bindet den Menschen an dieses frühe Ereignis, und zwar nicht nur auf Grund seines Beharrungsvermögens und weil das traumatische Ereignis von damals noch immer seine Wirkung zeigt, sondern weil der Wiederholungszwang den Menschen dazu anhält, das gleiche Verhalten je neu zu wiederholen. Wird dieses Verhalten zu Bewusstsein und seine Energie in Erfahrung gebracht, und zwar nicht nur intellektuell, sondern, wie Freud bald erkannte, affektiv [XII-264] erlebt (was er „durcharbeiten“ nannte), dann hat dies die Wirkung, die Macht des Traumas zu brechen, so dass der Mensch von seinem verdrängten Einfluss befreit ist.

Ich habe schwerwiegende Zweifel an der Richtigkeit dieser Theorie. Als erstes möchte ich ein persönliches Erlebnis aus der Zeit mitteilen, als ich in Ausbildung am Psychoanalytischen Institut in Berlin war [1928 bis 1930].[2] Dort gab es einmal unter den Professoren eine lange Diskussion, an denen die Lehranalysanden gewöhnlich teilnahmen, wie oft es eigentlich...

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