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Wie frei sind wir noch?

Eine Streitschrift für den Liberalismus Intelligent Leben 1

AutorPhilipp Tingler
Verlagkein & aber
Erscheinungsjahr2013
ReiheIntelligent leben - Eine Essay-Reihe 
Seitenanzahl80 Seiten
ISBN9783036992327
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Was ist Freiheit? Inwiefern wird sie heute bedroht durch dogmatische Ideologien und die Albernheiten des Internetzeitalters? Ein Plädoyer für die Rückbesinnung auf die klassischen Tugenden des Liberalismus, gegen Fundamentalismus und für das autonome Handeln des Einzelnen.

Philipp Tingler studierte Wirtschaftswissenschaften und Philosophie an der Hochschule St. Gallen, der London School of Economics sowie der Universität Zürich und ist mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm bei Kein & Aber der Roman »Rate, wer zum Essen bleibt« (2019). Er ist Kritiker im SRF-Literaturclub und im Literarischen Quartett des ZDF sowie Juror beim ORF-Bachmannpreis und der SRF-Bestenliste. Neben Belletristik und Sachbüchern ist er ausserdem bekannt durch das SRF-Format Steiner&Tingler und seine Essays u.a. in der Neuen Zürcher Zeitung und im Autokulturmagazin ramp.

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Leseprobe

§2 Albernheit

Fest steht zweierlei. Wir müssen uns erstens mit dem Gedanken anfreunden, dass es in 25 Jahren vermutlich nicht mehr üblich sein wird, das Gesicht eines Menschen überhaupt als Indikator für sein Alter heranzuziehen, wie wir dies heute immer noch gewohnheitsmäßig tun. Und zweitens, dass das Verhaltensleitbild »Auftritt statt Substanz« als leitender Kodex in sämtliche Bereiche der Gesellschaft vordringen könnte. Dies jedenfalls scheint beispielsweise die Ansicht von Thomas Rietzschel zu sein, einstmals Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Autor des Buches Die Stunde der Dilettanten. Und auch wenn es per se ironisch sein mag, dass ein Journalist über Dilettantismus schreibt, so ist doch eine zentrale These von Rietzschel ganz interessant. Sie lautet: Die politische Führungsriege Europas – womit Herr Rietzschel, wie die meisten Deutschen, ganz offensichtlich Kontinentaleuropa meint – besteht zu einem Großteil aus Dilettanten.

Mit der Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft, so Rietzschel, mit ihrer bisweilen krisenüberschatteten, aber doch stetigen materiellen und konstitutionellen Festigung, habe sich das Interesse an zukunftsgestaltender, systematischer Politik zunehmend verloren. Während zugleich Strukturen entstanden, die es dem Einzelnen erlauben, sich mit eigennütziger Absicht für die Existenz des Politikers zu entscheiden. So wurde in der Sphäre des Politischen ein Typus herangezüchtet, den Rietzschel als »politische Knallcharge« bezeichnet, ein Typus, der vor allem Entertainer- und Selbstdarstellungsqualitäten statt Substanz und Kompetenz mitbringt, ein Nichts- oder Halbkönner mit dem Talent zum blendenden Auftritt. Silvio Berlusconi, Jörg Haider, Christian Wulff oder Vladimir Putin: Sie alle könnte man, folgt man dem Ansatz von Rietzschel, als Darsteller, nicht als Verfechter von Ideen bezeichnen. Wichtige Mittel dieser Täuschungskünstler sind Erzählungen und die Deutungsmacht für Zeichen. Ideen, so Rietzschel, würden von solchen Polit-Darstellern nur mehr eingesetzt wie die Versatzstücke einer Theaterdekoration: als Staffage und Kostüm, mit dem die Dilettanten nicht zuletzt sich selbst zum Narren hielten.

Von dieser Diagnose eines mutmaßlich allenthalben grassierenden Dilettantismus und seiner dissoziativen sozialen Symptome wie Oberflächlichkeit und Orientierungslosigkeit ist es nur ein kleiner Schritt zur Analyse der amerikanischen Autorin Susan Cain. Die vertritt in ihrem kürzlich erschienenen (und auch schon auf Deutsch vorliegenden) Buch Quiet: The Power of Introverts in a World that Can’t Stop Talking die These, dass die westliche Wettbewerbsgesellschaft, die auf dem griechisch-römischen Ideal des eloquenten Menschen beruhe, eine kulturelle Verzerrung in Richtung extrovertierter Persönlichkeiten in sich trage. Diese kulturelle Dominanz, die Cain »The Extrovert Ideal« nennt, also die allgegenwärtige Vorstellung, das ideale Selbst sei forsch, kontaktfreudig und tatendurstig, ist laut Cain das Fundament unseres Bildungssystems, unserer Geschäftskultur – und nicht zuletzt auch der medialen Besessenheit mit dem Konzept von »Celebrity«. Cain sieht hier eine kulturelle Überbetonung von »Persönlichkeit« anstelle von »Charakter« am Werk, die zur Folge hat, dass wir auf die Schätze der Introvertierten verzichten, jener leisen, sorgfältigen, kontemplativen Denker unter uns, die weniger äußere Stimulanzien für ihr Wohlbefinden brauchen, sondern eine innere Welt. Große Kulturleistungen wären von introvertierten Menschen erbracht worden, schreibt indes Frau Cain, die betont, dass zwischen Eloquenz und Intelligenz oder Kreativität keine Korrelation bestünde. Ohne stille Geduld, Forscherdrang, Konzentration und Empathie der Introvertierten könnten wir uns weder an van Goghs Sonnenblumen erfreuen noch an Einsteins Relativitätstheorie. Noch hätten wir die Digitale Revolution erlebt oder Harry Potter. Und sogar auf dem Gebiet von Hochfinanz, Politik und Aktivismus seien Meilensteine von Introvertierten gesetzt worden; Frau Cain nennt unter anderem Al Gore, Warren Buffett, Eleanor Roosevelt und Gandhi, die das, was sie erreicht hätten, nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Introvertiertheit zustande brachten. Ohh, wie wunderbar. Und, ughm, Moment mal … kein Harry Potter? Das klingt doch gar nicht so schlecht! Vielleicht ist ja das Problem, dass Susan Cain, bekennende Introvertierte, in ihrer Analyse manchmal genau jener narzisstischen Selbstbesessenheit anheimfällt, die sie den Extrovertierten attestiert. Und ein weiteres Problem in diesem Schwarz-Weiß-Weltbild dürfte darinnen liegen, dass nicht wenige Menschen das sind, was man »ambivertiert« nennt. Noch nie gehört? Wahrscheinlich, weil es einfach die Normalität beschreibt: Ein ambivertierter Mensch ist gerne mal vor der Tür und fühlt sich wohl in Gesellschaft, vermag aber genauso seine Zeit mit sich selbst und seinen Gedanken zu genießen. Das ist das eine. Und darüber hinaus möchte ich anmerken: Auch stille Wasser können flach sein. Oder trübe.

Freilich, auch diesen Hinweis will ich anbringen, freilich findet sich die oberflächliche Befassung mit Äußerlichkeiten ebenfalls im scheinbar entgegengesetzten Lager, in jenem Lager, das sich selbst als »Protest« und »Opposition« versteht. Attac- oder Occupy-Demonstranten und sogenannte Wutbürger benehmen sich nicht weniger operettenhaft, wenn sie beispielsweise vor dem Schloss Bellevue in Berlin gegenüber einem ungeliebten Präsidenten eine Geste aus dem arabischen Verachtungsrepertoire nachahmen und ihre – zumeist natürlich fürchterlich aussehenden – Schuhe in die Luft recken. Oder wenn sie sich hinter einer Maske verstecken, einer Larve mit Musketierbart, die Guy Fawkes vorstellen soll, einen mittelalterlichen katholischen Terroristen, der am 5. November 1605 das britische Parlament in die Luft sprengen wollte. Was offenbar genügt, um ihn zu einem Rollenvorbild für all jene zu machen, die sich irgendwie für antiautoritär und rebellisch halten – so wie das gesichtslose Hacker-Kollektiv namens Anonymous, zum Beispiel. Offenbar gehören also ein relativ enger Kosmos stilistischer Versatzstücke und feste Ansprüche an Aussehen und Habitus auch zur narrativen Struktur eines sich selbst als »Gegenkultur« vermarktenden und in Szene setzenden Milieus. Mittlerweile kann die sogenannte Internet-Gemeinde, die wohl nicht zum kleinsten Teil aus ungefestigten, sozialphobischen Asperger-Mittzwanzigern besteht, die sich »Xxtron« oder »Gamer« nennen und für die Anonymität ein Programm ersetzt, ihre Fawkes-Masken längst bei Amazon oder im Elektronik-Großhandel erwerben und dann derart larviert auf den Straßen und Plätzen vor den Banken ihre Iglu-Zelte aufbauen, gegen Politik und Kapital und Hochfinanz – und in der Regel ohne eigenen Plan und Gegenvorschlag. Das nennt man dann Schwarmintelligenz. Oder, zutreffender: »gut gemeint und schlecht durchdacht«. So charakterisierte James Tobin, Erdenker der sogenannten Tobin-Steuer, die Positionen von Attac und anderen Globalisierungskritikern.

Interessanterweise zielte Thomas Rietzschel in seiner Verurteilung des Dilettantismus nicht auf die im deutschsprachigen Raum relativ junge Erscheinung der sogenannten Piratenpartei – vermutlich weil deren Exponenten ihr Halbwissen gar nicht verschleiern, sondern mehr oder weniger kokett andauernd zu Protokoll geben. Was offenbar reicht oder reichte, damit zahlreiche Beobachter in Deutschland hier eine »sympathische Unprofessionalität« und ein »postideologisches Profil« am Werke sahen und darob begeistert waren. Nur wenige dachten weniger romantisch und erkannten: Die Piraten machen das Verfahren – ein konfuses basisdemokratisches Transparenzideal – versuchsweise zum Programm. Und den Schwarm zum Souverän. Der Schwarm ist aber nicht souverän. In der Regel ist der Schwarm ziemlich blöd. Schwarmintelligenz ist eine Organisationsform niederer Lebewesen, beim Menschen kommen im Schwarm nicht selten die unschönsten Eigenschaften raus, womit gerade die Deutschen Erfahrungen haben. Insofern ist die Piratenpartei ein bildreiches Beispiel für die Grenzen der dichotomen Betrachtungsweise von Susan Cain: Wenn jemand nicht handlungsorientiert ist, heißt dies nämlich nicht automatisch im Umkehrschluss, dass er damit tiefgründig, kontemplativ und intellektuell wäre; er kann einfach nur phlegmatisch, gehemmt und naiv sein. Das hielt die deutsche Piratenpartei in dümmlicher Anmaßung nicht davon ab, sich selbst schon als »stärkste liberale Partei Deutschlands« zu bezeichnen, obschon die Piraten natürlich in ihren wenigen programmatischen Ansätzen einerseits paternalistisch-wohlfahrtsstaatlich orientiert sind bis zum Gehtnichtmehr, und andererseits mit der angestrebten Abschaffung des geistigen Eigentums vollkommen freiheitsfeindlich daherkommen. Die Piratenpartei hat mit Bürgerrechten nichts zu tun, sie verfolgt im...

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