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E-Book

Wie Gesundheit entsteht

Salutogenese: Schatzsuche statt Fehlerfahndung

AutorEckhard Schiffer
VerlagBeltz
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783407223548
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Was genau ist Gesundheit, wenn wir sie nicht nur als Abwesenheit von Krankheit betrachten? Eckhard Schiffer, Arzt und Psychotherapeut, hat sich in diesem Buch auf Schatzsuche nach solchen schöpferischen Kräften gemacht, die Gesundheit ermöglichen - und sie möglichst lange erhalten. Überraschende Antworten und Beispiele aus Literatur und Kunst sowie Rückgriffe auf das Konzept der »Salutogenese« haben dieses Buch zu einem bewährten Ratgeber gemacht, der vom Autor vollständig überarbeitet wurde. Zwei neue Kapitel widmen sich den Einflüssen der sozialen Umgebung auf die Gesundheit sowie neuesten Erkenntnissen zur Salutogenese.

Dr. Eckhard Schiffer war Chefarzt der Abteilung für Psychosomatische Medizin mit Familientherapeutischem Zentrum an einem Krankenhaus in Niedersachsen. Er ist analytisch orientierter Psychotherapeut und Autor mehrerer Ratgeber. Besondere Beachtung fand sein Buch »Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde. Anstiftung gegen Sucht und Selbstzerstörung bei Kindern und Jugendlichen«.

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Leseprobe

I  
Erinnerungen ans Vorlesen, an Zwieback und Lindenblütentee


»Spiel, Berührung, Zuwendung und Stimme drücken in unendlicher kultureller Vielfalt aus: ›Du bist uns wichtig.‹«
Aaron Antonovsky
Sie erinnern sich? Sich wohlig räkelnd im Bett liegen, aller Pflichten ledig einschließlich der Hausaufgaben. Von Mutter umsorgt. Zwieback (na ja!), Lindenblütentee mit Honig und zusätzlich etwas vorgelesen bekommen. Ganz schön gemütlich, so eine Grippe. Oder anders ausgedrückt: viele gesunde Kräfte in uns und um uns herum, die uns sicher sein lassen, der Krankheit nicht hilflos und allein ausgeliefert zu sein.
Aaron Antonovsky, 1923 in den USA geborener und 1994 in Israel verstorbener israelischer Medizinsoziologe, nennt diese Kräfte »generalisierte Widerstandsressourcen«, also »Hilfsquellen«. Diese gesund erhaltenden oder wieder gesund machenden Kräfte – in unserem Beispiel die liebevolle Fürsorge, die Geborgenheit, das Vorlesen, die Beweglichkeit in der Fantasie – unterscheidet Antonovsky von krank machenden (pathogenen) Faktoren. In unserem Fall zählten zu Letzteren Grippeviren und nasse Füße. Vorbeugung oder Prävention bestünde in einer Grippeimpfung und nässetauglichem Schuhwerk.
Antonovskys grundsätzliche Kritik am herkömmlichen medizinischen Denken geht dahin, dass es sich ausschließlich daran orientiert, wie krank machende (pathogene) Faktoren vermieden oder bekämpft werden können, an gesundheitsförderlichen (salutogenetischen) Kräften aber nicht interessiert ist. Wichtig sei jedoch, beides zu sehen: was krank macht (»pathogenetisches Modell«) und was gesund macht beziehungsweise gesund erhält (»salutogenetisches Modell«).1 Letzteres gehört im Grunde zum intuitiven Wissen der meisten Mütter und zunehmend vielleicht auch der Väter: Es ist für den Gesundungsprozess wichtig, sich umsorgt zu wissen, sich nicht allein zu fühlen und etwas vorgelesen zu bekommen. Entlang der vorgelesenen Geschichte bewegen wir uns dann in unserer Fantasie, gehen auf Reise, auch wenn unsere Beine noch zu schwach sind, längere Strecken zu gehen. Über die Reise in der Fantasie bewegen wir uns auf die Traumdämmerung zu, um nach Stunden zwar noch matt und verschwitzt, aber ein Stückchen näher an der Gesundheit zu erwachen. Später erinnern wir uns schließlich immer wieder daran, dass wir uns umsorgt wussten und vielleicht etwas vorgelesen bekamen. Und erst im zweiten Schritt denken wir an Zwieback, Lindenblütentee und das nicht geübte Diktat.
Antonovskys Modell (1993 und 1997) soll im Folgenden noch weiter erläutert werden. Denn zum einen kann es immer noch nicht als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, zum anderen ist es besonders geeignet, die Bedeutung von Spiel und Dialog für die Gesundheit deutlich werden zu lassen. Wie Spiel und Dialog hierfür beschaffen sein müssen und auf welchen Wegen sie Gesundheit fördern, steht im Zentrum dieses Buches.2
Antonovsky unterscheidet zwischen jeweils inneren und äußeren (soziokulturellen) gesundheitsfördernden Faktoren. Zu Ersteren zählten in unserem Beispiel die Fähigkeit, mit der vorgelesenen Geschichte vermöge einer lebendigen Fantasie auch etwas anfangen zu können, und die Sicherheit, dass die Mutter uns nicht vergisst, auch wenn sie das Zimmer verlässt und weder sichtbar noch hörbar ist. Zu Letzteren zählten eben die Versorgung durch die Mutter oder den Vater, der Lindenblütentee und der Zwieback, das frisch gemachte Bett, die Toilette nur einige Schritte weit weg und die Ruhe, wenn wir schlafen möchten.
Wenn wir uns das schreckliche Gegenteil dessen denken, nämlich zunächst das Fehlen äußerer salutogenetischer Kräfte, dann sehen wir ein Kind aus einem der vielen Krisengebiete unserer Welt bestenfalls auf einem Feldbett oder einer Pritsche liegend in einem großen Zelt mit vielen anderen Kranken. Ruhe gibt es neben den vielen anderen kranken Menschen kaum. Drei- oder höchstens viermal am Tag kommt jemand, um das Kind freundlich zu versorgen, aber diese Fürsorge muss gleich auch schon wieder mit den anderen Kranken nebenan geteilt werden. Die Ansprache ist nur kurz, und es gibt auch keine gemeinsamen Reisen in der Fantasie. Sind derartige Erfahrungen prägend in der bisherigen Lebensgeschichte des Kindes, dann fehlt als innere Ressource auch die Gewissheit, dass bald wieder jemand zu mir kommen und freundlich zu mir sein wird, mir etwas zu trinken gibt, wenn ich Durst habe, und mein zerwühltes Bett aufschüttelt.
Wir spüren sehr schnell: Ein solches Kind wird, wenn überhaupt, nicht so rasch wieder gesund.
Wenn Antonovsky zwischen »inneren« und »äußeren« Widerstandsressourcen unterscheidet, so ist ergänzend dazu anzumerken, dass einige wichtige, zunächst äußere Widerstandsressourcen im Laufe des Lebens verinnerlicht werden können. Damit werden wir von äußeren Widerstandsressourcen unabhängiger (aber – auf Dauer gesehen – wohl selten nur vollständig unabhängig).
Die innere Ressource der »Sicherheit zu wissen, dass die Mutter nach mir schaut« setzt also konkrete Erfahrungen eben dieser Art mit einer Mutter voraus. Mit einer vorgelesenen Geschichte etwas anfangen zu können setzt eine lebendige Fantasie und gute Erfahrungen mit dem Zuhören voraus. Und wenn ich noch etwas älter bin, dann schmökere ich auch gerne selber. Zugleich bin ich nicht mehr ständig darauf angewiesen, dass mir jemand etwas erzählt. Allerdings: Wieweit diese Schritte heute noch möglich sind, bleibt unklar angesichts der permanenten Erzähler in Kinder- wie auch Krankenzimmern – sprich Radio, DVD oder Fernsehen. Fatal ist, dass uns diese permanenten Erzähler gar nicht mehr problematisch vorkommen, da sie nämlich selten eine Pause machen, und zwar für die eigenen Gedanken des Zuhörers, und selbst auch nicht zuhören können. Es entsteht keine dialogische Beziehung mehr. Dabei erweist sich nur diese als dauerhafte gesundheitsförderliche Ressource im Unterschied zur bloßen Ablenkung oder Betäubung.
Erstaunlich ist, wie deutlich sich das Dialogbedürfnis gerade in unserer Gegenwart zeigt, nämlich im Gebrauch von Mobiltelefonen. Allerdings ist dabei gar nicht selten zu beobachten, wie zum Beispiel ein junges Paar in einer Eisdiele sitzt, sich aber kaum noch in die Augen schaut, sondern ständig auf das jeweils eigene Handy. Es scheint kaum eine Sättigung im Gebrauch dieses Instrumentes zu geben. Das mag vielleicht daran liegen, dass das Tonsignal für eine SMS, eine Facebook-Mitteilung oder ein Gespräch vermittelt: »Da denkt jemand an mich.« Die jeweiligen Dialogpartner werden dabei jedoch über die Ferne kaum verinnerlicht. Denn hierfür wären zunächst einige Gespräche von Angesicht zu Angesicht erforderlich – und zwar in greifbarer Nähe der Gesprächspartner zueinander. Nur so spürt man den Dialogpartner als un-mittelbares Gegenüber. Dieses kann einen dann irgendwann aus dem eigenen Inneren heraus anschauen, auch wenn es persönlich nicht anwesend ist. Schaut man allerdings vorwiegend auf sein Display oder alternativ gemeinsam mit anderen in Parallelausrichtung der Blicke auf einen Bildschirm, dann nehmen wir unser dialogisches Gegenüber nicht ausreichend wahr, um es zu verinnerlichen. Auf diese Weise kann es also auch nicht verinnerlicht werden. Wir benötigten daher mehr Aufmerksamkeitssignale für Blickdialoge – meinetwegen auch in Form von Klingeltönen. Eine salutogenetische Wendung könnte die ostfriesische Begrüßungsweise vermitteln: »Ick se di, dat freit mi!« (Auch wenn sich in den Folgezeilen ein Trinkspruch anschließt.)
Zum gelingenden Dialog gehören der Wechsel zwischen Erzählen und Zuhören sowie das gemeinsame Nachsinnen. Letzteres vollzieht sich oftmals nur in Bruchteilen von Sekunden an den Wechselpunkten von Reden und Zuhören, ist aber für die Qualität des Dialoges von entscheidender Bedeutung. Deutlicher wird dies insbesondere bei Gutenachtgeschichten. Was passiert, nachdem die Geschichte erzählt worden ist?
Auch wenn das Kind als Antwort auf die Geschichte nur wenig sagt – zum Beispiel: »Schön, lies weiter« oder »Das war doof« – oder nur kichert, vielleicht auch seufzt und traumdämmerig in sein Kissen schnuffelt, verweist all dies auf eine intensive Kommunikation, nämlich Mit-Teilung eines gemeinsamen Fantasie- und Stimmungsraumes. Da beide Dialogpartner gemeinsam dieselbe Geschichte hören, haben sie oftmals auch einander gleichende Bilder und dazugehörende ähnliche Stimmungen. Sie sind dann in Überein-Stimmung. Das heißt, sie sind sich nahe. (Die Bedeutung dessen für die gesundheitsförderlichen Ressourcen wird insbesondere in Kapitel XVIII zur Sprache kommen.)
Wenn wir krank sind, gilt – auch für Erwachsene –, dass wir mehr oder minder regressiv gestimmt sind. Damit ist gemeint, dass wir uns alle wieder etwas mehr als Kinder fühlen, umsorgt, gepflegt und angesprochen werden möchten. Letzteres gilt auch, wenn die Kräfte für eine »erwachsene« Antwort nicht reichen und wir nur seufzen und uns ins Kissen kuscheln. Wir sind dann darauf angewiesen, dass unser Dialogpartner wie eine gute Mutter erspüren kann, wie viel an Ansprache uns im Augenblick guttut. Auch für tief bewusstlose Patienten gilt, dass eine dialogische Ansprache das Wiedererwachen fördert. Die Antwort des Patienten besteht dann zum Beispiel in Reaktionen wie einer veränderten Atmung oder Körperhaltung.
Fehlt eine solche salutogenetisch bedeutsame Ansprache als äußere Ressource, dann ist oft nach der Klinikentlassung von Patienten der Satz zu hören: »Im Krankenhaus bin ich erst richtig krank geworden.«
Die Bedeutung des Dialoges für die ärztliche...
Blick ins Buch

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