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E-Book

Zigeuner

Begegnungen mit einem ungeliebten Volk

AutorRolf Bauerdick
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783641079505
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Erhellend und eindrucksvoll: Einblicke in eine fremde Welt
Vorbehalte und Berührungsängste, die nicht zuletzt ein Erbe des Nationalsozialismus sind, verstellen in Deutschland den Blick auf das Thema Zigeuner. Rolf Bauerdick taucht ein in die Kultur der größten europäischen Minderheit. Auf über einhundert Reisen in elf Länder begegnete er Menschen, die sich mit selbstverständlicher Unbefangenheit als »Zigeuner« bezeichnen. Mit erzählerischer Kraft und kritischem Wohlwollen schöpft Bauerdick aus der Fülle seiner Erfahrungen und schildert den Alltag der Zigeuner, ohne ihre massive Diskriminierung zu beschönigen und sie von ihrer Eigenverantwortlichkeit zu entbinden. Er geht den Ursachen einer dramatischen Verelendung und der Zunahme ethnischer Konflikte auf den Grund, frei von dem Vorurteil, dass die einen immer Opfer, die anderen immer die Täter sind.

Rolf Bauerdick, Jahrgang 1957, lebt im Münsterland. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft und Theologie wurde er Journalist. Er hat Reportagereisen in rund sechzig Länder unternommen; seine Text- und Bildreportagen erscheinen in europäischen Tageszeitungen und Magazinen u.a. in Stern, Brigitte, Spiegel, GEO, Playboy und wurden vielfach preisgekrönt, u.a. mit dem Natali-Award (für Menschenrechtsjournalismus) der Europäischen Union und beim Hansel-Mieth-Preis. »Wie die Madonna auf den Mond kam«, sein viel beachtetes Debüt, erschien 2009, wurde in zwölf Sprachen übersetzt und 2012 mit dem Europäischen Buchpreis in der Kategorie »Roman« ausgezeichnet.

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Leseprobe

VORWORT

»Ihr glaubt jeden Blödsinn, den man euch erzählt«

Vor einigen Jahren fuhr ich mit den Ethnologen Elena Maruschiakova und Vesselin Popov in den Osten Bulgariens. Das Ehepaar zählt zu den angesehensten Zigeunerforschern Europas und hatte erfahren, dass in einer entlegenen Hügellandschaft mit dem sinnigen Namen Lügenfeld eine Roma-Sippe campierte. Es waren Halbnomaden, Familien, die im Winter in der Industriestadt Harmanli wohnten und im Sommer mit Pferden, Eseln und Zelten über Land zogen, um seltene Harthölzer zu schneiden. Die Äste exportierte ein Aufkäufer nach Arabien, wo aus dem Holz edle Messerschäfte gefertigt wurden. Als die Männer abends mit vollgepackten Lasttieren hungrig in das Lager zurückkehrten, rührten die Frauen bereits in den Pötten über dem offenen Feuer. Beiläufig fragte ich den Sippenchef, was es zu essen gebe.

»Was wir finden«, antwortete Stojan Stajkov, ein überaus freundlicher Mensch. »Kaninchen sind gut, aber am besten schmecken Schlangen. Wir fangen sie zwischen den Sträuchern, ziehen ihnen die Haut ab und rösten sie über dem Holzfeuer.«

Ich notierte: »Holzschneider grillen Schlangen.«

»Was hat euer Reporter aufgeschrieben?«, fragte Stojan meine grinsenden Freunde.

»Dass ihr Schlangen esst.«

Die Männer bogen sich vor Lachen, die Frauen fassten sich entsetzt an den Kopf, Kinder kreischten. Ich schaute reichlich dümmlich drein, als Elena erklärte: »Kein Roma käme im Traum darauf, eine Schlange zu essen. Schlangen sind ein Tabu.«

»Ihr Schreiberlinge seid nette Leute«, klopfte mir Stojan auf die Schulter. »Ihr glaubt jeden Blödsinn, den man euch erzählt.«

Ich fürchte, der gute Stojan hat recht.

Die Zigeuner bezeichnen alle Nichtzigeuner als Gadsche, ein Begriff, der auch Dummkopf, Bauer oder Feind bedeuten kann. Trotzdem habe ich es als Gadscho stets als Glück empfunden, Menschen wie Stojan Stajkov zu begegnen. Und es gibt unter den Roma viele Stojans. Humorvolle, gastfreundliche, schlitzohrige, rundum liebenswerte Menschen. Der serbische Regisseur Emir Kusturica hat ihnen in seinen lebensprallen Filmen ein Denkmal gesetzt. Das Kinobild des freiheitswilden Zigeuners ist natürlich ein Klischee. Aber eines, das bisweilen die Wahrheit streift. Lange Jahre verkörperten die Zigeuner für mich das Fremde schlechthin, das anarchische, ungezähmt Andere, den Ort einer diffusen, gewiss auch romantisierenden Sehnsucht. Noch immer beruhigt mich die Gewissheit, dass eine Tagesreise entfernt, in slowakischen, ungarischen oder rumänischen Dörfern jene Stojan Stajkovs leben, denen der Habitus frostiger Distanziertheit und biederer Korrektheit fremd ist.

1990 fuhr ich erstmals nach Rumänien, um den Exodus der Siebenbürger Sachsen zu dokumentieren. Nach dem Ende der Schreckensherrschaft Ceau?escus konnten die Deutschen dem Reich der Schatten nicht schnell genug entfliehen und verscherbelten ihre Anwesen zu Spottpreisen. In viele Sachsenhöfe zogen Roma ein. Im Frühjahr darauf waren die Häuser ruiniert. Die neuen Bewohner hatten ihre Heime im wahrsten Wortsinn verheizt, zuerst die Klohäuschen, dann Türen, Fußböden und Dachbalken. Und weil bei Häusern ohne Dach auch die Dachrinnen überflüssig sind, wurde das Metall beim Schrotthandel versetzt. Die letzten verbliebenen Sachsen waren darüber keineswegs entsetzt. Sie meinten nur: »So sind sie halt, die Zigeuner.« Der Satz war kein Ausdruck von Rassismus, sondern der Fassungslosigkeit geschuldet, zu welch sonderbarem Verhalten der Mensch fähig ist. Oft habe ich vor jenem Graben gestanden, der einen Gadsche von den Roma trennt. Die Koordinaten unserer Wahrnehmung und Welterklärung schienen mir verschoben, als tickten da Uhren zeitversetzt in asynchronem Takt.

Als Fotograf der Reportage »Die Zukunft der Zigeuner« besuchte ich mit dem Spiegel-Redakteur Hans-Ulrich Stoldt slowakische Roma-Siedlungen am Fuß der Hohen Tatra. In einer Kolonie oberhalb des Dorfes Stráne pod Tatrami sagte der Woiwode Ernest Badzora: »Wir würden auch gern so leben wie die Gadsche, aber wir werden ausgeschlossen. Nicht einmal der Bus fährt noch hoch in unsere Siedlung.« Nein, nein, erklärten die Leute im Dorf, der Busfahrer weigere sich, in die Kolonie zu fahren, seit er bedroht und bestohlen wurde. »Die Weißen wollen uns nicht unten in ihrem Dorf haben«, argwöhnte Badzora. »Deshalb haben sie die Miete für Familienfeiern in dem öffentlichen Gemeindesaal auf 6000 Kronen erhöht. Soviel können wir nicht bezahlen.« Nein, nein, meinte der slowakische Bürgermeister Pitonák. »Die Hälfte des Geldes ist eine Kaution. Die gibt es zurück, wenn alles heil geblieben ist. Denn beim letzten Mal haben die Roma Fenster, Stühle und Tische demoliert und die Glühbirnen gestohlen.«

Wer hin und wieder Rumänien bereist, dem springt links und rechts der Überlandstraßen ins Auge, dass eine beträchtliche Zahl von Roma in den letzten Jahren zu Reichtum und Ansehen gekommen ist. Nur habe ich mich immer gewundert, weshalb viele schmucke Häuser, prächtige Villen, ja selbst protzigste Paläste unfertig ausschauten. Wie Rohbauten. Irgendwann fragte ich den Kupferschmied Victor Calderar, dessen Familie in einem üppigen, aber nackten Ziegelsteinbau am Ortsrand von Brateiu lebt, nach dem Grund. »Ist dein Haus fertig, bist du tot.« Was für ein Ausspruch! Ein Satz zum Mitschreiben! Mir schien er ein Ausdruck von Weisheit und Weitsicht. Bis mir mein rumänischer Begleiter, der Priester Lucian Mosneag, den profanen Hintergrund der ziganen Klugheit erklärte. »Ist dein Haus fertig, verlangt der Staat hohe Steuern.«

So sind sie nun mal. Hunderte Male habe ich diesen Satz gehört, und ebenso viele Male habe ich die Lebensweise der Roma gerechtfertigt: als Ausdruck des jahrhundertealten Erbes von Feindschaft und Ablehnung, Vernichtung und Hass; als Konsequenz von Versklavung und Leibeigenschaft; als Folge der Ohnmacht gegenüber Ausbeutern und Abschiebern und all den kühl kalkulierenden Populisten, die für ihre verkorkste Politik die Miserablen dieser Erde als Sündenböcke missbrauchen. Alles richtig, alles korrekt. Nur alles wenig hilfreich. Denn es gibt auch eine andere Wahrheit. Nach ungezählten Begegnungen in über zwanzig Jahren erinnere ich kaum einen Rom, der für die Wurzel seiner Misere ein Stück Verantwortung bei sich selber gesucht, geschweige denn gefunden hätte.

Unstrittig ist, dass die Roma nach dem Untergang des Sozialismus von den Gesetzen des freien Marktes ins soziale Elend katapultiert wurden. Bulgarische Schmiede und Verzinner haben keine Chance gegen billige Blechtöpfe aus China. Die ersten Arbeiter, die bei der Privatisierung ungarischer Paprika-Kolchosen entlassen wurden, waren die Zigeuner. Verhängnisvoll jedoch ist, dass viele keine Alternative zur staatlichen Alimentierung sehen, in Apathie erstarren und ihren Opferstatus verfestigen. Dabei zieht die Entwurzelung ihrer Familien einen fatalen Kreislauf aus Verelendung und Ghettoisierung, aus Gewalt und Gegengewalt nach sich, ein Prozess, der komplizierter ist, als dass die Mehrheitsgesellschaft immer nur die Täter stellt und die Minderheit immer nur die Opfer.

Verdrängt wird, dass die Zigeuner weit weniger von den Gadsche als von den Angehörigen des eigenen Volkes ausgebeutet werden. Sie selbst leiden am meisten unter Kindesmissbrauch, Frauenhandel und Zuhälterei, unter Kreditwucher, Erpressung und Bandendiebstahl. Die Kriminalität wird zusehends von verantwortungsbewussten Meinungsführern der Roma angeprangert, nicht jedoch von der moralischen Avantgarde der Gadsche. Sie missbraucht die Zigeuner als Objekt einer bloß imaginären Fürsorge, während sie die verschleißende Arbeit in den Armutsquartieren anderen überlässt. Erzieherinnen, Kindergärtnerinnen und Lehrer verzweifeln daran, dass Eltern ihre Kinder als Analphabeten aufwachsen lassen, zwölfjährige Töchter gegen Brautgeld verlobt werden, um mit fünfzehn zu heiraten und mit zwanzig vierfache Mutter zu sein. Westeuropäische Intellektuelle attestieren den Roma jederzeit, als Opfer der Gesellschaft um ein eigenverantwortliches Leben betrogen zu sein. Aber sie schweigen allesamt, wenn bulgarische Zigeuner Hunderte junger Frauen auf den Dortmunder Straßenstrich schicken und skrupellose Verbrecher in Mailand oder Marseille, ja selbst im frommen Lourdes nachts in Hinterhöfen verwahrlosten und apathischen Kindern das Bettelgeld abknöpfen.

Ich erinnere mich an eine Begegnung mit einer Studienrätin, die nach eigenem Bekunden alles »über die Sintis und Romas« gelesen hatte. Entrüstet belehrte sie mich während einer Fotoausstellung im westfälischen Münster, dass Wilma Lakatos, die auf einem meiner Bilder ein Baby stillt, »nie und nimmer« eine Romni sein könne. Denn eine Roma-Mutter würde niemals vor einem Fotografen ihre Brust entblößen. Ich würde diese Lehrerin nicht erwähnen, wäre sie nicht repräsentativ für ein intellektuelles Klima, in dem sich politisch korrekte Meinungen hartnäckig gegen jedes Erfahrungswissen behaupten wollen. Ende der neunziger Jahre suchte ich eine promovierte Soziologin an einer deutschen Universität auf, die sich mit ihren Publikationen über die Zigeuner eine hohe wissenschaftliche Reputation erworben hatte. Ich zeigte ihr einige Fotografien, darunter ein Porträt eines ungarischen Rom mit seinem Pferd. Dass Gáspár György sich als Schrottsammler mehr schlecht als recht durchs Leben schlug, interessierte die Forscherin nicht. Hingegen begeisterte sie sich für das geflochtene Zaumzeug des Kutschtieres. Die Knüpfarbeit nötigte ihr geradezu euphorischen Respekt vor dem handwerklichen Geschick der Zigeuner ab, ja sie glaubte sogar, das kunstfertige Pferdehalfter einem bestimmten Roma-Stamm...

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