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Zwei Esel auf dem Jakobsweg

Wie ein Engländer sein Herz an Spanien verlor

AutorTim Moore
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783492953177
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Was passiert, wenn ein Engländer, ausgestattet mit einer großen Portion britischen Humors, sein Herz und die Zügel in die Hand nimmt und sich mit einem französischen Esel auf heiliges spanisches Terrain begibt? Genau, der Esel ist störrisch, der Weg nach Santiago de Compostela lang, und Tim Moore findet in seinem Pilgerführer aus dem 12. Jahrhundert auch nicht immer die passenden Tipps. Dafür findet er etwas anderes: den Weg in sein eigenes Herz.

Tim Moore, geboren 1964 in Chippin Norton, fand nach dem Studium einen Job als Journalist und hatte über Themen zu schreiben, von denen er nicht die geringste Ahnung hatte. Als er sich eher zufällig zu einer Reise in die Arktis einschiffte, begann seine Karriere als Reiseschriftsteller und gefragter Reisejournalist für Daily Telegraph, Observer, Sunday Times. Er lebt mit seiner Frau und einer ganzen Menge Kinder im Westen von London. Auf Deutsch liegen von ihm 'Alpenpässe und Anchovis' und 'Zwei Esel auf dem Jakobsweg' vor.

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Leseprobe

Eins


Von Saint-Jean-Pied-de-Port auf der französischen Seite der Pyrenäen bis nach Santiago de Compostela an der Nordwestküste Galiciens in Spanien sind es rund achthundert Kilometer. Bis etwa zum letzten Viertel des vergangenen Jahrtausends legten Abermillionen von Menschen diese Strecke zurück, zum Teil, um sich die Beine in einer der reizvollsten Landschaften Europas zu vertreten, zum Teil, damit ihnen ihre Sünden vergeben wurden und sie sich ein schönes Leben nach dem Tod sicherten. Ihr Ziel war die Kathedrale, in der die sterblichen Überreste des Apostels Jakob ruhten, des heiligen Schutzpatrons von Spanien.

Jakob, der vierte Apostel Jesu, bot sich eher weniger für einen tausendjährigen Personenkult an: Er war so aufbrausend, dass die anderen Fischer ihn und seinen ähnlich unbeherrschten Bruder Johannes »Söhne des Donners« nannten. Außerdem war er so stur und anmaßend, dass er wahrhaftig verlangte, im Paradies zur Rechten von Gottes Sohn zu sitzen. Als er von seinem Herrn als Missionar nach Westen geschickt wurde, erwiesen sich diese Charaktereigenschaften als ungünstig, und als Jakob in der linken Spitze des Römischen Reichs, in Nordwestspanien, angekommen war, hatte er nicht mehr als gerade sieben Jünger um sich versammelt. Sein freches Mundwerk gereichte ihm auch nach seiner Rückkehr ins Heilige Land nicht zum Vorteil: Anno Domini 44 wurde er als erster Apostel auf Befehl von Herodes Agrippa geköpft.

Aber ein Märtyrer ist ein Märtyrer, und so schmuggelte man Jakobs Leiche aus Jerusalem hinaus und brachte sie per Schiff nach Galicien, dem Endpunkt seines erfolglosen prophetischen Kreuzzugs. Wenn ich Ihnen jetzt sage, dass diese Reise auf einem unbemannten Boot aus massivem Marmor stattfand, ahnen Sie vielleicht, dass wir uns jetzt vom Festland der Fakten vorsichtig auf die wogende See der Mythen und Legenden begeben.

Als Jakobs solides Leichengefährt am Strand angespült wird – einem Strand, übersät von Muscheln, die das Symbol des heiligen Jakob werden sollen –, erwartet ihn schon das göttlich vorgewarnte Heer der Jünger, möglicherweise alle sieben. Sie betten seine Leiche sofort in einen großen Steinsarkophag, der dann von einem Ochsengespann zu einem Hügel gezogen wird. Dieser interessiert uns hier nur insofern, als er vierzig Kilometer von der Küste entfernt liegt – eine wahre Ochsentour.

Trotz dieser faszinierenden Geschichte gerät Jakobs letzte Ruhestätte rasch in Vergessenheit, und zwar so vollständig, dass es siebenhundertfünfzig Jahre dauert, bis sie wiedergefunden wird. Mittlerweile sind die Römer den Westgoten gewichen, die ihrerseits die spanischen Zügel in die Hände der Mauren gelegt haben. Die versetzen Europa durch ihr rasches Vordringen in Angst und Schrecken: zu Anfang des achten Jahrhunderts wird Spanien fast vollständig von den Muslimen beherrscht. Allerdings nur fast, denn in ihrer Ungeduld, nach Frankreich zu gelangen, haben sie ein paar christliche Ansiedlungen in den nördlichen Bergen übersehen. Man könnte Parallelen zum gallischen Dorf von Asterix ziehen, das die Römer auch nie einnehmen konnten, und läge damit gar nicht so falsch.

Die kampfbereiten christlichen Guerillas formieren sich nämlich, unterstützt von Karl dem Großen, der die Pyrenäen überquert, um die maurischen Heiden nach Afrika zurückzudrängen. Es erweist sich jedoch als schwierig, eine einheitliche Front in Nordspanien, dem Brückenkopf für die Rückeroberung durch die Christen, zu bilden. Man benötigt dringend etwas oder jemanden, um die verschiedenen antiislamischen Bewegungen zu einigen und den gerechten Zorn der christlichen Welt zu schüren. Wenn wir doch nur … Was ist los, du alter Eremit? Du hast Sterne über einer Höhle in den Hügeln funkeln sehen? Du bist hineingegangen und hast diese Knochen ausgegraben? Hier, Bischof Theodomir, lass das Skelett mal überprüfen! Tatsächlich? Na, das ist doch ein Ergebnis. Und die anderen beiden? Hey, Leute: Wir haben gerade Santiago gefunden. Und die anderen Skelette sind wahrscheinlich seine Jünger.

Es erinnert alles ein bisschen an Das Leben des Brian. Wie durch Zufall fügen sich die einzelnen Teile zum Gesamtbild. Campus stellae, das Sternenfeld, aus dem sich letztendlich der Name ergab: Santiago de Compostela. Die Knochen des heiligen Jakob, eines echten Apostels, gehören zu den wertvollsten Reliquien des Christentums – und hinzu kommt noch, dass der demütige Pilger Jakob, der Urvater aller Pilger auf dem Jakobsweg, der Legende nach zugleich auch Santiago Matamoros ist, Jakob der Maurentöter. Man erblickte den heiligen Jakob regelmäßig am Himmel auf seinem weißen Schlachtross, wenn die Heiden mal wieder in die Flucht geschlagen wurden – nicht weniger als sechzigtausend Tote werden ihm in der (wahrscheinlich fiktiven) Schlacht von Clavijo im Jahr 844 zugeschrieben. Er war also einerseits das Maskottchen für die harmoniesüchtigen Christen, die ihren Nächsten lieben wollten, und ein unersättlicher Psychopath für die, die sie lieber enthauptet sahen.

Diese Bandbreite an Fans machte Santiago de Compostela zu einer der beliebtesten christlichen Pilgerstätten. Der damalige König Alfonso ließ an der Stelle eine Kirche und ein Kloster erbauen, um die eine Stadt herumwuchs. Die ersten Pilger werden Ende des neunten Jahrhunderts erwähnt, und Mitte des zehnten Jahrhunderts erfreute sich der Camino de Santiago bereits großer Beliebtheit. Als im zwölften Jahrhundert der christliche Fundamentalismus auf dem Höhepunkt und die Kreuzzüge in vollem Gang waren, kamen jedes Jahr schätzungsweise zwischen zweihundertfünfzigtausend und einer Million Pilger nach Santiago. In einem Heiligen Jahr, wenn der Jakobstag, der 25. Juli, auf einen Sonntag fiel, waren es sogar noch mehr. (Nach päpstlichem Erlass erhielten Pilger in einem Heiligen Jahr vollständigen Ablass für alle Sünden. Und mit dem Pilger-Hattrick – Santiago, Rom, Jerusalem – konnte man so viele Sündenmeilen sammeln, dass man für die Zukunft sogar Missetaten gut hatte.)

Zu einer Zeit, als es in Europa noch weniger als fünfundsechzig Millionen Einwohner gab und die durchschnittliche Lebenserwartung bei fünfunddreißig Jahren lag, ergeben sich faszinierende demografische Folgerungen: Nach einer Berechnung (ja, zugegeben, es ist meine eigene) stattete zwischen einem Fünftel und einem Drittel der mittelalterlichen Bevölkerung irgendwann einmal dem heiligen Jakob einen persönlichen Besuch ab. Als der Camino zum ersten europäischen Kulturweg erklärt wurde, stellte der Europarat fest: »Die Pilgerreise nach Compostela wird als die größte Massenbewegung des Mittelalters angesehen.«

Als Google meine Neugier geweckt hatte, wandte ich mich der Fachliteratur zu. Am Anfang hatte ich noch das Monty-Python-Bild von Pilgern als willenlosen, masochistischen Fanatikern im Kopf, zumal es schwierig war, ihre Motive auf einen Nenner zu bringen, wenn man einmal davon absieht, dass sie alle der Hölle entkommen wollten. Die Kranken – die an grässlichen mittelalterlichen Gebrechen litten – wurden von der Hoffnung auf wundersame Heilung angezogen, ebenso wie die Umnachteten. Thomas Becket zum Beispiel empfahl die Pilgerreise einer Frau, die fürchtete, vom Satan besessen zu sein. Die Neugierigen kamen, um etwas zu lernen und um Abenteuer zu erleben. Die Bösen kamen, um das einladend hilflose Heer der Touristen zu berauben, entweder gewaltsam oder arglistig; und wenn sie erwischt wurden, kamen sie erneut, da man Verbrechern anstelle einer weniger reizvollen Bestrafung die Möglichkeit bot, nach Santiago zu pilgern. (Gewöhnlich wurden sie aufgeknüpft, und ihr Kadaver verrottete an der Straße – im Mittelalter blieb einem der Galgen nur erspart, wenn man ein weniger offensichtliches Verbrechen begangen hatte, wie zum Beispiel eine Ehebrecherin aus Surrey, die 1325 vor die Wahl gestellt wurde, entweder nach Santiago zu pilgern oder »sechsmal mit Ruten um verschiedene Kirchen geprügelt zu werden«.)

Manche Pilger wurden von ihrem Dorf geschickt, um bei Pestilenz oder Hungersnot die Rettung des Himmels zu erflehen, oder sie mussten als Vertretung für ihre faulen Herren die Wanderschaft antreten. Der Sündenerlass galt nämlich für den Namen, der auf der Compostela stand, dem Zertifikat, das am Ende der Reise ausgestellt wurde. In Santiago trafen sich die Guten, die Bösen und die Gemeinen.

Und sie kamen aus den entlegensten Ecken der bekannten Welt. Gottesfürchtige, verwegene Pilger machten sich nicht nur aus Frankreich, Italien, Großbritannien und Deutschland auf den Weg, sondern sie kamen auch aus Griechenland, Polen und Ungarn. Einer der frühesten Berichte erzählt von der Pilgerreise eines Wikingers im Jahr 970. Ein armenischer Eremit berichtete 983 von seinem Besuch in Compostela. Aus den Trampelpfaden wurden Hauptstraßen, die sich von Nordeuropa durch Westfrankreich an Saint-Jean-Pied-de-Port vorbei über die Pyrenäen erstreckten; nach und nach kamen andere Wege vom Mittelmeer her hinzu, und so zog sich der Camino Frances, der französische Weg, immer weiter nach Westen, auf den Spuren der Römer.

Und alle Pilger hinterließen eine Fährte aus Gold, wenn sie in den Gasthöfen übernachteten und aßen, wenn sie die Messe besuchten und eine Münze auf den Kollektenteller legten. Auch bekannte Persönlichkeiten, von Franz von Assisi bis hin zu El Cid, pilgerten nach Santiago, und vor allem Monarchen kamen so reichlich, dass der Weg bald als Camino Real, königlicher Weg, bezeichnet wurde. Prinz Sigurd von Norwegen, Ludwig IX. von Frankreich, Ferdinand und Isabella von Spanien, sie alle wollten den Kampf gegen den Antikatholizismus unterstützen. (Edward I. von England schickte...

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