Warum haben wir eigentlich Angst?
Eine Reise durch Hirn und Unterbewusstsein
AUCH WENN WIR UNS HIER primär damit beschäftigen, Ängste loszulassen, ist es doch wichtig, sich vor Augen zu führen: Das Gefühl der Angst gehört zur Grundausstattung des Menschen.
Anders gesagt: Die Angst ist Ihre Freundin und hat die Funktion, Ihr Überleben zu sichern. Vollständige Angstfreiheit ist kein wünschenswerter Zustand. Schön wäre hingegen, etwas mehr Einfluss auf sie nehmen zu können. Das kann über die Ratio geschehen, weil Angst eine Dramaqueen ist, die auch in objektiv ungefährlichen Situationen Gefühle und körperliche Reaktionen auslöst, als seien Leib und Leben in Gefahr. Dann hilft es, sich bewusst zu machen, was gerade real ist.
Dabei bleiben wir aber nicht stehen. Häufiger Auslöser sind nämlich unbewusste Konditionierungen: Die aktuelle Situation erinnert dann an unverarbeitete schmerzvolle Erfahrungen aus der Vergangenheit, und wir erleben plötzlich die gleichen intensiven Emotionen wie damals. Die Angst möchte uns nur warnen und dafür sorgen, dass wir das Richtige tun. Wir aber fühlen uns wie gelähmt … Glücklicherweise eröffnet eine neugierige Ursachenforschung Wege aus der Angst. Gehen wir also den tieferen Zusammenhängen nach – auf unserem Weg zu entspannter Gelassenheit.
Die Angst des emotionalen Gehirns
Während das bewusste Denken in einem entwicklungsgeschichtlich jungen Teil des Gehirns stattfindet, der Großhirnrinde, hat die Angst ihren Ursprung in einem sehr viel älteren Gehirnteil, dem limbischen System. Man nennt es auch das emotionale Gehirn. Die Informationsverarbeitung darin läuft weitaus schneller ab als in der Großhirnrinde. Genau dies kann uns in heiklen Situationen, in denen es auf blitzschnelle Reaktionen ankommt, das Leben retten. Denn unser Angstzentrum, die Amygdala, löst in Gefahrensituationen den Reflex Kampf oder Flucht aus, ohne dass wir erst lange nachdenken müssten.
Körperlich spürbar
Da das emotionale Gehirn auch für Körperfunktionen wie Atmung, Herzschlag, Blutdruck, Verdauung und Immunsystem zuständig ist, reagieren wir bei Angst mit körperlichen Symptomen. Wenn Sie eine Rede halten sollen und spüren, dass Ihr Herz heftig klopft, ist hierfür Ihr emotionales Gehirn verantwortlich. Dummerweise lässt es sich nur begrenzt beeinflussen.
Zumindest ein Teil unserer Gefühle ist also unkontrollierbar.
Allzu menschlich
Es ist entlastend und wohltuend, sich mit seinen Ängsten und anderen Gefühlsturbulenzen selbst anzunehmen und damit Frieden zu schließen. Wir alle haben Ängste und andere belastende Gedanken oder Gefühle. Leugnen oder verurteilen wir diesen Teil unserer selbst, verschwindet er nicht – wir produzieren damit lediglich weitere Probleme: Druck durch Selbstkritik und Selbstverurteilung. Sie werden deshalb bei der Arbeit mit diesem Buch merken, um wie vieles leichter es sich bereits anfühlt, wenn Sie sich Ihre Ängste anschauen und sich erst einmal zugestehen.
Was ist wirklich gefährlich?
Wie schön wäre es, würde unser Angstzentrum nur dann aktiv werden, wenn eine reale Gefahr vor uns steht, beispielsweise ein wildes Tier. Dies aber würde erforderlich machen, dass die Amygdala bewusst denkt und unterscheiden kann, was eine echte Bedrohung ist und was nicht. Just dazu ist sie jedoch nicht in der Lage – das kann nur die Großhirnrinde. Das Angstzentrum kann nicht einmal unterscheiden, ob es sich bei der Bedrohung um etwas Reales, einen Fernsehfilm oder eine Vorstellung handelt. Sie schlägt gleichermaßen Alarm und will uns retten.
Ein Beispiel: Sie stellen sich vor, wie Sie vor einem Saal voller Menschen stehen, um eine Rede zu halten. Wenn Sie unter Redeangst leiden, wird schon die bloße Vorstellung des Szenarios bei Ihnen weiche Knie, einen Kloß im Hals oder Gedanken wie »Ich werde etwas stammeln, und alle werden mich auslachen« hervorrufen.
Ganz so als stünden Sie bereits vor dem Publikum. Denn Ihr Mandelkern, wie die Amygdala auch heißt, kann Fantasie und Realität nicht unterscheiden.
Erschreckend real
Ähnliches haben Sie sicherlich schon oft bei Kinobesuchen oder beim Fernsehen erlebt: Sie schauen sich einen Film mit für die Helden bedrohlichen Szenen an. Wird der Film wirklich fesselnd, zieht er Sie in seinen Bann und damit hinein in die Assoziation mit den Helden. Und plötzlich erleben Sie alle Ängste inklusive der körperlichen Reaktionen der Filmfiguren.
Die Ratio ist in den Hintergrund getreten und Ihr Mandelkern hat die Kontrolle übernommen. Dies tut das emotionale Hirn ohnehin gern, und im Kampf zwischen bewusstem Verstand und Gefühl siegt meist Letzteres. Logisch und sinnvoll, wenn man bedenkt, dass das emotionale Gehirn für unser Überleben mit verantwortlich ist.
Angst als Überlebenshelfer
Wir leben in Mitteleuropa in einem Umfeld, in dem wir weder von Krieg, wilden Tieren oder Naturkatastrophen noch vom Hungertod bedroht werden. Man könnte meinen, eigentlich gäbe es keinen realen Grund für Überlebensängste.
Moderne Ängste
Aber schauen wir unseren Alltag genauer an, ist er voll von Auslösern für Urängste: In den Medien sehen wir Berichte über Seuchen wie die Vogelgrippe, möglicherweise erhalten wir oder Menschen aus unserem Umfeld den Befund einer lebensbedrohlichen Krankheit, auf der Autobahn gefährden uns dicht auffahrende Drängler, und ein drohender Arbeitsplatzverlust oder eine katastrophale Auftragslage bei Selbstständigen lösen Existenzängste aus. Mit all diesen Bedrohungen und den extremen Gefühlen, die sie auslösen können, gilt es umzugehen.
Angst als Freund
Angst kann auch ein guter, hilfreicher Freund sein, wenn es nicht um Ihr physisches Überleben, sondern lediglich um eine heikle Situation geht. Die Angst ist dann jemand, der Sie vor einer Fehlentscheidung warnt oder verhindert, dass Sie in einer schwierigen Situation blauäugig agieren. Oder sie ist die Stimme Ihrer Intuition, die Sie vor einem Risiko warnt, das die Ratio nicht erkannt hat. Ihre Intuition kann viel mehr wahrnehmen als Ihr bewusster Verstand. Wenn es beispielsweise im Gespräch mit einem Fremden in seiner Mimik oder Gestik subtile Anzeichen dafür gibt, dass er es nicht ehrlich meint, kann Ihr scheinbar irrationales Gefühl von Angst vor näherem Kontakt der Hinweis darauf sein.
Entscheidend ist, in Angstmomenten das Emotionszentrum ausreichend zu beruhigen, damit der bewusste Verstand die Kontrolle übernehmen, den Grad der Gefährdung einschätzen und über sinnvolle Maßnahmen entscheiden kann. Auch dies werden Sie im dritten Kapitel lernen. Es wird Sie in die Lage versetzen, Ihre Ängste weit genug aufzulösen, um wieder handlungsfähig zu sein, statt sich gelähmt oder blockiert zu fühlen. Damit verschwindet auch die Angst vor der Angst.
Vielfältiger Ratgeber
Wenn es komplexe Herausforderungen sind, die beunruhigend auf Sie wirken, will Ihre Angst Ihnen vielleicht auch nur sagen: »Schau dir das Ganze etwas genauer an und mach dich schlau!« Sie stehen möglicherweise vor einer umfangreichen beruflichen Aufgabe, einer privaten Veränderung oder haben gerade erfahren, dass Sie unter einer bestimmten Krankheit leiden.
Erst einmal ist das alles äußerst besorgniserregend, denn Sie tappen im Dunkeln. Deshalb ist das Hilfreichste jetzt Informationsbeschaffung. Je mehr Sie über das wissen, was da auf Sie zukommt, desto klarer wird das Bild und desto eher beherrschbar wird die Situation. Sie haben es plötzlich nicht mehr mit einem schemenhaften Gegner zu tun, sondern sehen deutlich, worum es geht und welche Möglichkeiten Sie haben, um die Situation bestmöglich zu gestalten.
Anders gesagt: Die Angst hat Sie motiviert, für Klarheit zu sorgen und damit die Position des Opfers zu verlassen – Sie gehen in die Rolle des bewussten Schicksalsgestalters. Ein Grund mehr für Sie, Ihren Ängsten mit Neugier und Offenheit zu begegnen, sie zu durchleuchten, sie zu erforschen und damit auch alle Geschenke anzunehmen, die die Ängste für Sie bereithalten.
Die Mechanismen des Kopfkinos
»Uiuiui, was da alles passieren kann«, sagt eine Stimme in uns, wann immer wir vorhaben, einen Schritt ins Unbekannte zu tun, und schon beginnt es in uns zu arbeiten. Alle möglichen unerfreulichen Folgen unseres Tuns fallen uns ein, die wir als Bilder, Film, innere Stimmen oder körperliches Empfinden wahrnehmen. Anders gesagt: Wir entwickeln eine Angstfantasie. Rational betrachtet ist das einfach nur eine Vermutung darüber, was passieren könnte. Und es sollte leicht zu erkennen sein, ob sie realistisch ist oder nicht. Unglücklicherweise regiert bei solchen Angstfantasien aber wieder unser Emotionszentrum, das den Verstand lahmlegt. Deshalb kann es leicht dazu kommen, dass sich die Fantasien verselbstständigen und zum Horrormovie steigern.
In der Folge vermeidet man es, den anvisierten Schritt überhaupt zu versuchen. Man bringt sich damit um die Chance, zu erleben, dass das...