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E-Book

Spätes Tagebuch

Theresienstadt - Auschwitz - Warschau - Dachau

AutorMax Mannheimer
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783492970815
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Max Mannheimer hat alles durchlitten, was einem Menschen in den von Deutschen entfesselten Inferno zustoßen konnte: Demütigung, Vertreibung, Internierung im Ghetto, Tod fast der ganzen Familie in der Gaskammer, Arbeitslager und KZ, Hunger, Krankheit und Misshandlung. Wie durch ein Wunder hat er die Hölle überlebt. Heute ist er einer der letzten aktiven Zeugen des Holocaust und unermüdlicher Kämpfer gegen das Vergessen. Sein »Spätes Tagbuch« ist ein großes menschliches Dokument. »Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber daß es nicht wieder geschieht, dafür schon.« (Max Mannheimer in einer Diskussion mit Schülern)

geboren 1920 in Neutitschein/Tschechoslowakei, Ausbildung zum Kaufmann. Nach der deutschen Besetzung übersiedelte er nach Ungarisch Brod, wurde 1943 nach Auschwitz deportiert, im Oktober 1943 als »Arbeitsjude« nach Warschau überstellt und kam im August 1944 nach Dachau. Am 30. April 1945 von amerikanischen Truppen befreit, lebte er bis zu seinem Tod im September 2016 in der Nähe von München. Zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen.

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Leseprobe

Max Mannheimer: Zeitzeuge und Menschenfreund

Im Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau ist unter der Signatur 11.418 mit dem Zugangsdatum Mai 1976 und dem Vermerk »erhalten von Hermann Langbein Wien« ein Typoscript verwahrt, das auf insgesamt 66 Seiten die Geschichte der Verfolgung und des Überlebens eines Juden enthält. Es gibt einige handschriftliche Korrekturen, aber keine Überschrift und keinen Verfassernamen. Es sind die Erinnerungen Max Mannheimers an Theresienstadt, Auschwitz, Warschau, Dachau, die unter diesem Titel erstmals im Dezember 1985 in den Dachauer Heften publiziert wurden.

Im Frühjahr 1985, bei der Vorbereitung der Dachauer Hefte, die als wissenschaftliches Organ der gerade in Gang kommenden KZ-Forschung und zugleich als Forum der Überlebenden nationalsozialistischer Verfolgung konzipiert wurden, stießen wir auf Max Mannheimer. Wir, Barbara Distel, Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, und der Historiker, der diesen Versuch über den Zeitzeugen und Freund Max Mannheimer verantwortet, damals Mitarbeiter im Institut für Zeitgeschichte, suchten den Autor des Späten Tagebuchs auf, um ihn zu überreden, seinen Text für die erste Ausgabe der Dachauer Hefte freizugeben. Die Erinnerungen hatte Max Mannheimer im Dezember 1964 in einer tiefen Lebenskrise zu Papier gebracht. Bestimmt waren sie ausschließlich für seine Tochter Eva. Zwei Jahrzehnte lang hatte der Autor nicht an eine Veröffentlichung gedacht, auch nicht daran, selbst öffentlich aufzutreten.

Nicht seine literarischen Talente hatte Max Mannheimer zunächst benutzt, um das Überleben zu verarbeiten, er hatte auch andere Möglichkeiten. In den 1950er-Jahren begann er zu malen, unter dem Namen ben jakov – damit ehrte er seinen Vater Jakob Mannheimer, den ehrbaren jüdischen Kaufmann im nordmährischen, überwiegend deutschsprachigen Neutitschein und dann in Ungarisch Brod in Südmähren, der wie die Mutter Margarethe am 2. Februar 1943 in Auschwitz ermordet wurde. ben jakov ist kunsthistorisch nicht zu verorten. Er ist als Maler naiv und eruptiv, das künstlerische Schaffen geschieht um des Schaffens willen: Die Bilder haben keinen Titel, sie sind ungegenständlich. (Mit einer Ausnahme: »Mein erstes Bild – 1954«, so datiert und vom Urheber benannt, zeigt ausgerechnet die Kapelle St. Bartholomä am Königssee, das Allerweltsmotiv unzähliger Kalender, Werbemittel, Farbdrucke auf dem Jahrmarkt).

Das Œuvre ben jakovs ist auf den ersten Blick großflächig dekorativ, von der Leuchtkraft des überwiegend verwendeten Kunstharzlacks geprägt, in vegetativen Formen wuchernd, die sich einprägen und den Betrachter nicht mehr loslassen. Die Bilder sind – einen Charakterzug des Künstlers offenbarend – herausgeschleudert, als seien sie aus sich heraus entstanden. ben jakov hantiert selten mit dem Pinsel oder dem Zeichenstift, seine Techniken sind Sprühdose und Eile, Glasmalfarben, Kunstharzlack und alle möglichen anderen Materialien. Es geht ihm um den Prozess des Malens, nicht um das Resultat. Aber die Ausstellungen 1975, 1995, 2001 in München, 1977 in Zürich, 1992 im Schloss seiner Geburtsstadt Neutitschein (Nový Jičín). 2000 und 2010 in Dachau freuen den Künstler. Michaela Haibl schrieb Anfang 2010 im Katalog der Retrospektive »… ich male nur für mich«: »Die Bilder auf der Leinwand, auf dem Papier, auf der Keramikfliese sind Spuren aus dem Leben Max Mannheimers, abstrakte Spuren der Themen, mit denen er sich befasst. Es sind auch Bilder eines Weges aus Schmerz und Depression. Sie wenden sich gegen die innere Schwere und illustrieren Unerschrockenheit im künstlerischen Feld, Heiterkeit sowie Lust am Improvisieren und am Zufall.«

Der literarische Erfolg seines schmalen Buches, das seit 2000 immer neue Auflagen erlebt, weil es wichtiger ist als viele andere Texte, war Max Mannheimer nicht in die Wiege gelegt. Nach dem Besuch der Handelsschule 1934  1936 macht er eine kaufmännische Lehre im Kaufhaus J. Schön und Co. in Znaim-Altschallersdorf in Südmähren. Der inzwischen 19-Jährige ist dann in der Gewürz- und Samenhandlung Rudolf Holz in Ungarisch Brod beschäftigt. Ab dem 1. September 1939 ist er Arbeiter im Straßenbau in der Gegend von Luhatschowitz. Zwei Jahre später heiratet er Eva Bock. Der 23-Jährige wird mit seiner Frau, den Eltern und Geschwistern am 31. Januar 1943 nach Theresienstadt und von dort gleich weiter nach Auschwitz deportiert. Seine junge Frau sieht er, wie die Eltern und die Schwester, bei der Ankunft in Auschwitz zum letzten Mal.

Für ein Projekt der Wiener Library London schilderte Max Mannheimer am 12., 13. und 18. Januar 1956 in Frankfurt am Main seine Erlebnisse. Das Transkript der Interviews ist als dichte Beschreibung der KZ-Erfahrung unter dem Titel »In Polish and Bavarian Camps« nicht nur in London, sondern auch in Yad Vashem in Jerusalem und in der Gedenkstätte Dachau archiviert. Der Text beginnt so: »Ich lebte mit meiner Familie in der Tschechoslowakei. Mein Vater wurde am 10. November 1938 in Neutitschein, das aufgrund des Münchner Abkommens an Deutschland abgetreten war, verhaftet und mußte eine Erklärung unterschreiben, daß er nie mehr wieder deutsches Reichsgebiet betreten werde. Ich war damals kaufmännisch tätig. Auch wir mußten dann diese Stadt verlassen und gingen nach Ungar. Brod. Im Sommer 1939 habe ich dann als Arbeiter beim Straßenbau begonnen und blieb bei ähnlichen Arbeiten, bis zum Januar 1943. Da wurden plötzlich alle Juden durch den Sicherheitsdienst in dem dortigen Gymnasium zusammengetrieben, alle Wertgegenstände mußten abgeliefert werden. Dann wurde ein Transport zusammengestellt. Am 31. 1. 43 wurden wir nach Theresienstadt gebracht.« Das ist, lakonisch und präzise berichtet, der Anfang der Verfolgung der Familie Mannheimer. Es sind die Eltern Jakob und Margarethe, die Söhne Max und dessen Frau Eva, Edgar, Erich, Ernst und die Tochter Käthe. Eine gutbürgerliche Familie, die deutsche und jüdische Werte und Traditionen hochhielt. Überlebt haben die Shoah nur Max und Edgar.

Der Text von 1956 kann als Vorstufe des Späten Tagebuchs gelesen werden, das acht Jahre danach Geschriebene ist farbiger, detailreicher, ausführlicher, aber es spiegelt die gleichen Tugenden: Genauigkeit, Verzicht auf Schnörkel und Floskeln, auf Larmoyanz, auf moralisierendes Pathos. Das macht die literarische Qualität der Erinnerungen Max Mannheimers aus. Noch größere Wirkung als der Autor Max Mannheimer hat der Erzähler, der seit zweieinhalb Jahrzehnten, nach dem ersten Erscheinen seines Berichts im Druck 1985, rastlos als Zeitzeuge unterwegs ist. Vor Schülern und Studierenden, auf Gedenkveranstaltungen, im Parlament, auf dem Kirchentag, in Seminaren, auf allen nur denkbaren Foren spricht Max Mannheimer.

Nach der Befreiung Ende Mai 1945 kehrt Max Mannheimer in seine Heimatstadt Neutitschein zurück, die jetzt Nový Jičín heißt. Im Dezember 1946 heiratet er die Widerstandskämpferin Elfriede Eiselt. Ihre gemeinsame Tochter Eva wird noch in Neutitschein geboren. Ein Jahr später zieht die Familie nach München. Elfriede Mannheimer vertritt zwischen 1952 und 1960 die SPD im Münchner Stadtrat, Max stellt sich in den Dienst jüdischer Hilfsorganisationen. Zuerst, 1947, arbeitet er im »Zentralkomitee der befreiten Juden in der US-Zone«, schreibt für die deutsch-jüdische Zeitung Neue Welt, die sein Freund Ernest Landau herausgibt, seit August 1948 ist er für das »American Joint Distribution Committee« in München und Frankfurt a. M. tätig. Sein berufliches Leben als Kaufmann beschließt er als Geschäftsführer eines Lederwarengeschäfts am Münchner Hauptbahnhof. Seine Frau Elfriede stirbt 1964. 1965 heiratet Max Mannheimer wieder, die Amerikanerin Grace Cheney. 1966 wird der Sohn Ernst geboren. Grace stirbt am 3. Mai 2010.

Der Zeitzeuge als emblematische Figur agiert in unterschiedlichen Zusammenhängen auf verschiedenen Ebenen. Der forensische Zeitzeuge tritt bei öffentlichen Ritualen vor ein Publikum, das politische Ansprüche stellt. Der pädagogische Zeitzeuge hat sein Wirkungsfeld in der Schule. Der mediale Zeitzeuge erscheint im Fernsehen, im Hörfunk und in Printmedien und macht Features und Reportagen authentisch oder er wirkt autoritativ in Sachen »öffentliche Meinung«, als Kommentator, Teilnehmer an Talkshows und so weiter. Max Mannheimer verkörpert alle Typen des Zeitzeugen par excellence wie kaum ein anderer. Er macht es den Nachlebenden leicht, die Botschaft zu verstehen und den Botschafter zu lieben. Er macht es leicht, weil er so freundlich ist, weil er Humor hat und niemandem wehtun will. Deshalb findet er Gehör. Und das fördert die Sache, für die er wirbt: Aufklärung über den Nationalsozialismus.

Die Karriere des Zeitzeugen Mannheimer beginnt unmittelbar nach der Veröffentlichung des Lebensberichts 1985. Seit 1988 ist er Vorsitzender der deutschen »Lagergemeinschaft Dachau« und Vizepräsident des »Comité International de Dachau«. Mit Auszeichnungen ist er überhäuft. Zu den Orden und Ehrenzeichen kommt 2000 die Doktorwürde honoris causa der Ludwig-Maximilians-Universität München, die Ehrenbürgerschaft von Neutitschein; er ist der Held des Films »Der weiße Rabe« von Carolin Otto (2009). Zum 90. Geburtstag erhält er die Würde eines Ehrenmitglieds der Israelitischen Kultusgemeinde München.

Die Rolle des Zeitzeugen...

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