Zukunft der Kirche – Kirche für die Zukunft
Plädoyer für eine pilgernde, hörende und dienende Kirche1
Robert Zollitsch
In ihrem Buch „In fremder Welt zu Hause“2, das Bischof Joachim Wanke zusammen mit Pater Manfred Entrich OP zu Beginn unseres neuen Jahrhunderts publiziert hat, geben die Autoren Impulse für eine innovative und in die Zukunft blickende Seelsorge. Es geht um das, was wir auch mit der Gründung unserer neuen „Katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral“ im Januar dieses Jahres verstärken wollten und was bei der Tagung Anfang September in Erfurt intensiv diskutiert wurde. Es geht um die „Herausforderungen einer missionarischen Pastoral“. Wir wollen unsere Seelsorge deutlicher missionarisch ausrichten. Wir wollen uns stärker auf die Menschen zubewegen und den Gläubigen noch mehr Weggefährten sein. Dabei wissen wir, dass wir einen Auftrag haben; wir wissen, dass das Evangelium, das zu verkünden uns aufgegeben ist, über diese Welt hinausweist. Wir spüren, dass wir in dieser Welt fremd sind. Zugleich ist uns aufgetragen, in dieser Welt zu wirken und so in ihr auch ein Stück weit heimisch zu werden.
Die These „In fremder Welt zu Hause“, die in dem Buchtitel enthalten ist, erinnert uns daran, dass wir uns in dieser Welt nicht festsetzen dürfen. Wir sind Pilger und spüren die Spannung, die Dualität von Fremde und Heimat. Zugleich wissen wir um den Auftrag Jesu, der „für die Kirche besagt“, so formuliert es Papst Paul VI. in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii nuntiandi“, „die Frohbotschaft in alle Bereiche der Menschheit zu tragen und sie durch deren Einfluss von innen her umzuwandeln und die Menschheit selbst zu erneuern“3. Dabei sind wir uns dessen bewusst, dass diese Erneuerung bei uns selbst anfängt, dass wir selber Pilger auf dem Weg sind zu jener Heimat, die uns Gott verheißen hat.4
1. Kirche als Pilgerin unterwegs
Im elften Kapitel des Hebräerbriefes rühmt der Verfasser den Glauben der Väter. Abraham, der Urvater der Glaubenden, ist Pilger: „Aufgrund des Glaubens gehorchte Abraham dem Ruf, wegzuziehen in ein Land, das er zum Erbe erhalten sollte; und er zog weg, ohne zu wissen, wohin er kommen würde“ (Hebr 11,8). Der Auszug der Israeliten aus Ägypten ist der Beginn einer vierzigjährigen Pilgerschaft durch die Wüste. Israel ist das pilgernde und von Gott geführte Volk. Als Christen wissen wir, dass unsere Heimat im Himmel ist und dass wir mit dieser Verheißung als Pilger unterwegs sind. Sie verlangt von uns Mut und Vertrauen, uns auf das Wagnis und die Unsicherheit, die damit verbunden sind, einzulassen. Christlicher Glaube ist Pilgerschaft. Dazu gehört Aufbruch. Pilgerschaft und Aufbruch vertragen sich nicht mit Sesshaftigkeit. Wir haben die Zusage, dass Gott uns hilft, dass wir uns im Aufbruch in die Fremde nicht verlieren, sondern zu neuer Tiefe des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe finden.
Mir scheint, liebe Mitbrüder, dass uns Gott gegenwärtig kräftig an unser Pilgerdasein erinnert. In die Fremde unserer Gegenwart schickt er uns, um auszuloten, wo wir in ihr neu Heimat finden können. Dem Leben der Kirche sollen wir ein neues Gesicht geben. Stagnation wäre Verrat. Nicht wir dürfen auf die Welt warten, als müsse diese zu uns kommen. Vielmehr müssen wir zur Welt gehen: zum Menschen von heute. Das Zweite Vatikanische Konzil spricht wiederholt vom „pilgernden Volk Gottes“5. Steter Aufbruch und stete Erneuerung sind Grundbedingungen lebendigen Glaubens. Es gibt kein Reich Gottes, über das wir einfach verfügen könnten. Das Reich Gottes gewinnt Realität im Gang durch die Geschichte und beim Zug in die immer neue Fremde. Das ist eine grundlegende Realität: Sie verweist uns auf das Fragen und Suchen der Menschen und deren uns fremde Welt als Ort christlicher Sendung.
Die Evangelisierung der Welt verlangt eine Kirche der Pilgerschaft. Eine Kirche der Sensibilität und des Respekts gegenüber dem Fremden.
Zu Recht sind wir stolz auf unsere Tradition, die gefestigten Überzeugungen und Orientierungen. Und doch dürfen wir uns nicht einrichten in ihnen. Jesus hat nicht gesagt: „Zieht euch in Stille zurück und wartet ab!“ Im Gegenteil: „Geht zu allen Völkern, macht alle Menschen zu meinen Jüngern“ (Mt 28,19); „Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. […] Fürchtet euch nicht (vor ihnen)!“ (Mt 10,16.26). Die Dynamik des Aufbruchs in eine Welt, die zugleich Fremde und ein Stück zu Hause ist: Die Dynamik einer ständigen Erneuerung, die uns in Bewegung hält. Das hat Kardinal Joachim Meisner beim internationalen Priestertreffen in Rom zum Abschluss des Priesterjahres pointiert zum Ausdruck gebracht: „Die Kirche ist die ‚Ecclesia semper reformanda‘, und darin sind der Priester und Bischof ein ‚semper reformandus‘, der immer wieder – wie Paulus vor Damaskus – vom hohen Ross gestoßen werden muss, um in die Arme des barmherzigen Gottes zu fallen, der uns dann in die Welt hinein sendet.“6
Warum weise ich auf diese uns allen bekannten Zusammenhänge eigens hin? Wir spüren die bohrende Frage nach der Glaubwürdigkeit unserer Kirche in Deutschland. Diese Glaubwürdigkeit hängt ab von der Lebendigkeit der Kirche, ihrer Fähigkeit zu Umkehr und neuem Aufbruch und zu neuer Evangelisierung. Allerdings nicht im Geist einer Veränderung um ihrer selbst willen, sondern aus der inneren Verbundenheit mit dem Herrn im Glauben. Eine pilgernde Kirche ist unterwegs mit Christus und auf Christus hin. Als solche verdient sie dann auch das Vertrauen der Menschen.
2. Kirche, herausgefordert in der Krise
In den vergangenen Monaten sind viele Menschen in ihrem Vertrauen in die Kirche erschüttert worden. Nicht weil sie gleichgültig sind, sondern weil sie enttäuscht waren. Die Menschen wollen uns vertrauen können. Sie suchen Hilfe und Orientierung in den großen Fragen ihres Lebens. Sie wollen, wenn sie uns begegnen und uns Vertrauen schenken, Christus selbst begegnen. Das gilt für unsere Gläubigen genauso wie für zahllose Menschen außerhalb der Kirche. Sie wollen ganz konkret spüren und erfahren, was der neue Selige, John Henry Kardinal Newman, zum Wahlspruch hatte: „Cor ad cor loquitur“ – Das Herz spricht zum Herzen. Wir aber haben Zweifel aufkommen lassen an der Ernsthaftigkeit und Lauterkeit unseres Redens und Tuns. Vor allem klagen uns Menschen an, die Opfer von Übergriffen wurden. Darüber werden wir in den kommenden Tagen ausführlich sprechen.
Eines ist klar: Es gibt für uns keinen anderen Weg als den der Offenheit, der Ehrlichkeit und den des Zuhörens. Wenn Opfer ihr Schweigen brechen und darüber zu sprechen beginnen, wie sie erniedrigt und gedemütigt wurden, dann ist das für uns die Stunde des Anhörens und Zuhörens. Stets beginnt die Umkehr des Gläubigen im Hören und Sehen des Nächsten, besonders des Armen. Wir haben noch mehr zu lernen, eine Kirche des Hörens zu sein. Dabei hören wir in diesen Wochen Vieles, das über den Bereich sexueller Verfehlungen weit hinausreicht. Darunter sind auch Fragen, die uns lange vertraut sind. Zum Beispiel bohrende Zweifel an der einen oder anderen Lehre der Kirche – etwa im Bereich der menschlichen Sexualität. Viele stellen die Ehelosigkeit der Priester in der lateinischen Kirche massiv in Frage oder nehmen Anstoß an manchen katholischen Positionen in der Ökumene. Wir müssen entscheiden, wie wir mit dem Gehörten umgehen, auch mit unangenehmen Fragen.
Im Nachdenken über die Entwicklungen dieses Jahres sind mir einige Einsichten zugewachsen, worin die tieferen Ursachen dieser Glaubwürdigkeitskrise bestehen, in der wir stecken. Ich möchte drei von ihnen nennen.
Eine erste Ursache besteht, so scheint mir, in einer folgenschweren Verengung des Verständnisses vom Menschen. Wir vergessen zu oft die Schwäche und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen. Wir lassen uns allzu sehr von einem unrealistischen Optimismus leiten. Wir haben uns ja angewöhnt, sehr positiv über den Menschen, seine Größe und seine Würde zu sprechen. Wir wollen in den gesellschaftlichen und politischen Debatten die Würde des Menschen verteidigen. Und wir tun dies mit guten theologischen Gründen. Gott hat den Menschen nach seinem Bild geschaffen (Gen 1,27). Daher bekennen wir mit dem Beter der Psalmen: „Du hast ihn (den Menschen) nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt“ (Ps 8,6 f.). Aber schon auf den ersten Seiten der Heiligen Schrift wird auch vom Scheitern des Menschen, vom bösen Sinnen und Trachten seines Herzens gesprochen. Die Bibel weiß besser als das optimistische Denken mancher moderner Geistesströmungen, dass die Welt nicht nur gut ist und auch nicht durch menschliche Moralität in Ordnung gebracht werden kann. Der Mensch ist immer auch Gefangener der Sünde. Er kann scheitern. Haben wir nicht die Theologie des Scheiterns zu kurz kommen lassen? Ist sie nicht verkommen zu einer fast leidenschaftslosen Rede über die Sünde? Haben wir nicht das Bild unserer selbst und der Priester so stilisiert, dass der menschliche Abgrund übersehen wurde, vor dem unausweichlich auch der geweihte Mensch steht? Die Folge: Unehrliches Reden und Handeln, Mangel an Offenheit und Wahrhaftigkeit, Neigung zum Überdecken von Fehlern und Hinwegsehen über Verbrechen.
Ich sehe eine zweite Form der Überschätzung, die ebenfalls negative Folgen hat. Man sagt über die Kirche – und meint oft konkret...