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E-Book

Religion, Konfessionslosigkeit und Atheismus

VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl360 Seiten
ISBN9783451808562
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Mehr als ein Drittel der Deutschen ist konfessionslos - Tendenz steigend. Während das Bemühen um eine interreligiöse Verständigung groß ist, findet ein Dialog zwischen Religiösen und Nichtreligiösen nur selten statt. Das Buch 'Religion, Konfessionslosigkeit & Atheismus' stellt kontroverse Positionen zu Themen wie Religionspolitik, Sterbehilfe und Theodizee aus christlicher und areligiöser Perspektive dar und setzt sie zueinander in Beziehung.

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Leseprobe

Naturalismus und Theismus
Armin Kreiner


1. Einführung: Die Herausforderung des Naturalismus


Das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft ist vielschichtig und spannungsgeladen. Daher stehen mehrere Möglichkeiten offen, sich einen Weg durch das Labyrinth an Themen- und Problemstellungen zu bahnen.1 Eine dieser Möglichkeiten besteht darin, der Frage nachzugehen, ob Gott angesichts des stetig fortschreitenden Erklärungspotentials der Wissenschaften noch gebraucht wird, um die Welt zu erklären.

Traditionell ging man weitgehend davon aus, dass dies der Fall ist: Unter Rückgriff auf Gott erklärte man sich, wie das Universum aus nichts ins Dasein treten konnte, warum das Seiende nicht wieder ins Nichts versinkt, wie die erstaunliche biologische Komplexität und Funktionalität entstanden, wie die Seele des Menschen in die Welt kam, wer den Unterschied zwischen Gut und Böse festlegt usw. Diese Erklärungen galten nicht einfach als überlegen, sie wurden jahrhundertelang als konkurrenzlos erachtet, weil an ernst zu nehmende Alternativen gar nicht zu denken war. Daher schien die Existenz Gottes über jeden vernünftigen Zweifel erhaben zu sein. Noch in den Anfängen neuzeitlicher Wissenschaft waren deren Protagonisten, allen voran Isaac Newton, der Überzeugung, dass Gott zu Erklärungszwecken unverzichtbar bleibt. Inzwischen hat sich das Blatt gewendet, nicht von heute auf morgen, sondern eher allmählich, aber nachhaltig. Wissenschaft versteht sich in methodologischer Hinsicht als ein naturalistisches Projekt, in dessen Erklärungen übernatürliche Entitäten per definitionem keine Rolle spielen.2 »The whole point of science is to avoid such stories.«3 Darüber, wie der Naturalismus en détail auszubuchstabieren ist, wird zwar eine anhaltende Debatte geführt4, was aber nichts daran ändert, dass der Rückgriff auf Gott, Götter, Geister etc. zu Erklärungszwecken tabu ist.

Für die religiösen, insbesondere natürlich für die theistischen Traditionen stellt diese Symbiose von Wissenschaft und Naturalismus eine enorme Herausforderung dar, deren Tragweite gar nicht überschätzt werden kann. Es geht hier nicht um die Frage, wie sich einzelne wissenschaftliche Theorien, wie etwa die Urknall-, Evolutions- oder Quantentheorie, mit dem Glauben an eine Schöpfung oder ein Handeln Gottes vereinbaren lassen. Zur Debatte steht die viel weiter reichende Frage, ob das wissenschaftliche Erklärungspotential die Annahme der Existenz Gottes überflüssig gemacht hat oder zumindest im Begriff steht, dies zu tun. Was dieser Frage ihre Brisanz vermittelt, ist der atemberaubende Erfolg der Wissenschaften beim Lösen der kleinen und großen Rätsel der Welt. Viele einstmals als unlösbar betrachtete Rätsel wurden früher oder später doch in Angriff genommen und nicht selten gelöst. Während die theoretischen, also die das Erklärungspotential betreffenden, Erfolge vielleicht nur Insidern einleuchten, liegen die damit einhergehenden Fortschritte in der Beherrschung der Welt und der Verbesserung der Lebensqualität auch für wissenschaftliche Analphabeten auf der Hand.

Dieser anhaltende Erfolg hat eine Reihe von Wissenschaftlern dazu veranlasst, auf religiöse Weltdeutungen nicht nur zu verzichten, sondern diese auch mehr oder weniger vehement abzulehnen. Den Kritikern und Verächtern der Religion ist die immer noch erstaunliche Verbreitung religiöser Überzeugungen ein Dorn im Auge, weil sie den durch die Wissenschaft erreichbaren Fortschritt bremst oder gefährdet. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass Religion und Wissenschaft unvereinbare Weltbilder vertreten, zum anderen damit, dass ihnen jeweils gegenläufige Einstellungen hinsichtlich der Methoden zugrunde liegen, wie man erfolgreich nach Erkenntnis und Wahrheit suchen sollte. Barry Palevitz nennt einige der Gründe, die Wissenschaftler vor etwa zweihundert Jahren dazu veranlasst haben, auf theistische Erklärungen zu verzichten. Die Erklärung »Gott hat es getan« unterminiere nicht nur die Neugierde, sie löse darüber hinaus auch keine wirklichen Probleme (wie z. B. Krankheiten) und sie erlaube schließlich keine überprüfbaren Voraussagen. Der Rekurs auf Gott zu Erklärungszwecken habe sich als intellektuelle Sackgasse erwiesen.5 Nach Ansicht von Jerry Coyne können Glaube und Wissenschaft trotz anderslautender Stimmen »keine Freunde« sein. Sie sind genauso inkompatibel wie Irrationalität und Rationalität: »Science operates by using evidence and reason. Doubt is prized, authority rejected. No finding is deemed ›true‹ — a notion that’s always provisional — unless it’s repeated and verified by others. We scientists are always asking ourselves, ›How can I find out whether I’m wrong?‹«6 Angesichts der Tatsache, dass man sich innerhalb der theistischen Traditionen auch nach Jahrhunderten nicht darauf einigen kann, wer oder was Gott ist, wie und wozu er die Welt erschaffen haben soll oder wo und wie er in der Welt handelt, lässt sich vielleicht nachvollziehen, warum einige die Geduld verloren haben und theistische Erklärungen als »camouflage of ignorance« (Peter Atkins) abtun.

2. Theologische Optionen: Die Suche nach Erklärungslücken


Wie man sich dieser Herausforderung theologischerseits stellen soll, ist – wie könnte es auch anders sein – umstritten. Es bieten sich unterschiedliche Strategien und Optionen an, ohne dass sich ein Königsweg abzeichnen würde. Großer Beliebtheit scheint sich die Strategie der Vermeidung oder Verdrängung zu erfreuen, die darin besteht, das naturalistische Erklärungspotential erst gar nicht zur Kenntnis zu nehmen und sich stattdessen auf ethische Fragen im Umgang mit dem technisch Machbaren zu kaprizieren. Dies hat den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass dabei jeder irgendwie mitreden kann. Die ethischen Fragen sind alles andere als unwichtig. Sie sind sogar so wichtig, dass sie auf keinen Fall Leuten überlassen werden sollten, die von Wissenschaft keine Ahnung oder daran gar kein Interesse haben.

Eine ganz andere Strategie besteht darin, dem naturalistischen Anspruch Paroli zu bieten, indem man nach Lücken sucht, also nach Phänomenen, die sich einer wissenschaftlichen Erklärung angeblich widersetzen. Diese Strategie ist deutlich aufwändiger, weil sie zumindest rudimentäre Kenntnisse des wissenschaftlichen Forschungsstands voraussetzt. Tatsächlich legen Befürworter dieser Strategie in der Regel eine hohe Wertschätzung wissenschaftlicher Forschung an den Tag, beharren aber darauf, dass es Rätsel gibt, die sich nicht naturalistisch lösen lassen, sondern einen Rückgriff auf Gott erforderlich machen. Bei diesen Rätseln handelt es sich um die wirklich »großen« Fragen, die zu groß für die Wissenschaft sind.7 Als Kandidaten kommen mehrere solcher Rätsel in Frage.

 

  • Für die Vertreter von Intelligent Design stellt die Entstehung irreduzibel komplexer biologischer Systeme ein Phänomen dar, das sich einer naturalistischen bzw. darwinistischen Erklärung entzieht. Definitionsgemäß funktionieren solche Systeme nur, wenn sämtliche Teile vorhanden sind. Solange sie nicht funktionieren, besitzen sie keinen Selektionsvorteil. Folglich können sie nicht schrittweise entstanden sein, sondern müssen von einem transzendenten Designer geplant worden sein.8
  • Die im Kontext des anthropischen Prinzips diskutierte Feinabstimmung physikalischer Konstanten wird ebenfalls als ein Phänomen genannt, für das der Naturalismus keine zufriedenstellende Erklärung anzubieten habe. Selbst wenn sich die Entstehung und Entwicklung organischer Komplexität restlos erklären ließen, bliebe immer noch die Frage offen, warum das Universum in physikalischer Hinsicht so beschaffen ist, dass sich Leben, Bewusstsein und Intelligenz entwickeln konnten. Die exorbitante Unwahrscheinlichkeit der Feinabstimmung lebensförderlicher Konstanten schreit förmlich nach einer Erklärung. Sie als Zufalls­ergebnis zu erklären, gaukelt nur eine Erklärung vor. Ein göttlicher »Feinabstimmer« liefere, wenn schon nicht die einzige, dann doch die beste Erklärung.9
  • Eines der nach wie vor größten Rätsel stellt die Entstehung von Bewusstsein aus Materie dar, also die Frage, wie die durch die Gesetze von Physik und Chemie erklärbare Interaktion von Nervenzellen die Entstehung von Empfindungen und Wahrnehmungen hervorbringen kann und schließlich von Wesen, die sich in ihrem Handeln – jedenfalls gelegentlich – durch so etwas wie Gründe leiten lassen. Dieses Rätsel hat sogar Philosophen mit einer ausgeprägten Aversion gegenüber dem Theismus, wie z. B. Thomas Nagel, dazu bewogen, den materialistischen Naturalismus als widerlegt zu betrachten.10
  • Das letzte ungelöste Rätsel hängt mit der Entstehung des Universums bzw. dem Urknall zusammen. Darunter lässt sich die Frage nach dem Anfang des Universums bzw. nach dessen Ursache verstehen11, ebenso wie die Frage aller Fragen, warum überhaupt etwas existiert und nicht nichts.
    Ob die Wissenschaft jemals in der Lage sein wird, Rätsel dieses Kalibers im Rahmen eines wie auch immer beschaffenen naturalistischen Weltbildes zufriedenstellend zu lösen, lässt sich gegenwärtig nicht absehen. Was an Lösungsvorschlägen bisher vorliegt, kann allem Anschein nach nicht das letzte Wort sein.
  • Im Hinblick auf das Phänomen der »irreduziblen Komplexität« geht der Trend dahin, dessen Existenz in...
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