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Korpuslinguistik. Quantitative Erfassung der gesprochenen Sprache von 'Les fleurs bleues', 'San Antonio. Viens avec ton cierge' und 'Le dieu du carnage'

AutorEduard Stengler
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl148 Seiten
ISBN9783668306097
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2016 im Fachbereich Didaktik - Französisch - Literatur, Werke, Note: 2,3, Studienseminar für Gymnasien in Marburg (Fremdsprachliche Philologien), Veranstaltung: Französisch - Literatur, Werke, Sprache: Deutsch, Abstract: Dies ist die fachwissenschaftlich komplett überarbeitete und mit einem Sachwortregister versehene zweite Auflage der wissenschaftlichen Hausarbeit 'gesprochene Sprache in der Literatur'. Ferner wurde ein Abstract in die ersten Seiten der Arbeit zur besseren Übersicht integriert.

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Leseprobe

I. Theorie


 

1. Grundlagen der Forschung zur gesprochenen Sprache im Französischen


 

Die gesprochene Sprache wird oft mit Begriffen wie Einfachheit, Natürlichkeit, Emotionalität (Blanche-Benveniste 1997: 62), aber auch im Gegensatz zur Einfachheit stehend mit Regellosigkeit und Willkür assoziiert. Blanche-Benveniste (1997: 5) führt an, dass nicht nur Fehlerhaftigkeit, sondern auch Kriminalität mit der gesprochenen Sprache assoziiert wird. (Der argot war ursprünglich eine Gaunersprache und Fréderic Dard verwendet viele Merkmale des argot und der gesprochenen Sprache in seinen San-Antonio-Kriminalromanen, von denen einer in dieser Arbeit analysiert wird.) Die Beschäftigung mit der gesprochenen Sprache erfolgte in der Wissenschaft spät, weil namenhafte Linguisten die Sprechweisen des Volkes als zu chaotisch und ungeordnet wahrnahmen. Aber man muss sich klarmachen, dass es vor Einführung der allgemeinen Schulpflicht nur hohen sozialen Schichten vorbehalten war, das Schreiben zu erlernen und sich schriftsprachlich auszudrücken. Daher wurde und wird der mündliche Ausdruck mit niedriger sozialer Herkunft assoziiert. Heutzutage ist es aber nicht mehr üblich noch erforderlich, jederzeit und überall schriftsprachlich im Sinne des höfischen bon usage zu sprechen, um hohe Bildung zu zeigen, da die Stände abgeschafft wurden. Sowohl niedrige als auch hohe soziale Schichten benutzen sprechsprachliche Elemente, die kein Merkmal einer niedrigen sozialen Herkunft oder Schichtzugehörigkeit mehr darstellen. Die Sprachverwendung wird dem Redezweck oder -ziel und dem Publikum angepasst. Es kann also in einigen Kontexten und zur Erreichung bestimmter Ziele angemessen sein, schriftsprachlich zu reden, während andere Kontexte den Einsatz vieler sprechsprachlicher Elemente erfordern.

 

1.1. Begriffliche Festlegungen


 

Saussure sorgte mit der Unterscheidung zwischen langue und parole dafür, dass die individuellen und kommunikativ relevanten Realisierungen (la parole) des abstrakten Systems der Sprache (langue) wissenschaftlich nicht beachtet wurden, wenn sie vom System la langue abwichen (vgl. Coulmas 1981: 3). Chomsky schrieb dem kommunikativen Charakter der gesprochenen Sprache ebenfalls keinen hohen Stellenwert für die Sprachwissenschaft zu (vgl. ebd.). Erst mit der Pragmatik und Vertretern wie Hymes wurde die kommunikative Bedeutung der Sprache betont, da Kommunikation eine Handlung ist und Handlungen mit anderen ermöglicht. Coseriu erweiterte Saussures Modell um den Begriff der Norm. Es kann sich nicht nur das System als ein historisches Wissen mit Regeln und Fügungen der Sprache auf die individuellen Realisierungen auswirken, sondern auch (sprach)politisch gesetzte Normen, die bestimmte historische Sprachverwendungen verbannen können. Es können aber an einigen Stellen im System der Sprache, wie z. B. in feststehenden Redewendungen, Überreste früherer Sprachverwendungen und -einflüsse verbleiben (vgl. Zollna 1999: 7). In Frankreich herrscht eine präskriptive Schriftnorm vor - was aber nicht heißt, dass es angemessen ist, diese immer und überall einzuhalten. Viele Phänomene gesprochener Sprache entsprechen nicht immer der präskriptiven Schriftnorm, sondern dienen dazu, die Kommunikation angesichts der mündlichen Redebedingungen zu erleichtern. Alle Normabweichungen als Fehler zu tadeln würde der Vielfalt der kommunikativen Rahmenbedingungen nicht gerecht werden. Viele sprachliche Abweichungen stellen nämlich wichtige kommunikative Anpassungen dar, die durch außersprachliche Rahmenbedingungen wie dem Ort oder der Region, der sozialen Herkunft und der sozialen Situation bedingt werden. Varietäten sind diastratisch aufgrund einer Anpassung an die soziale Schicht, diatopisch aufgrund der Anpassung an die Region und diaphasisch durch die Situationsanpassung (vgl. Söll, zit. nach Zollna 1999: 15). Das Diasystem ist weitaus komplexer. Gauger erwähnt den internen Sprachwandel, „die Diachronie (...) in der Synchronie“ (Blank 1991: XI) und meint damit generationsabhängige Sprache (vgl. ebd.). Dies betrifft nicht nur alte, sondern auch nicht mehr lebende Personen. Viele Sprecher des 20. Jahrhunderts würden es als Abweichung ansehen und nichts verstehen, wenn eine Person Altfranzösisch mit ihnen reden würde. Der umgekehrte Fall, dass eine Person aus der Zeit, in der in Frankreich noch Könige regierten, mit Bürgern des 20. Jahrhunderts spricht, ist zwar unwahrscheinlich, wird aber in Queneaus Roman Les fleurs bleues vorgestellt. Diagenische Varietäten, also geschlechtsabhängige Sprechweisen, sind in manchen Sprachen stärker vorhanden als in anderen. Zollna (1999: 90) zitiert Léon, der zeigt, dass typisch weibliche und typisch männliche Aussprachen im Französischen z. B. in der Realisierung von petit als ‘tit oder ‘ti existieren. Ich selbst habe von Französinnen [ti ʃa] mit einer sehr hohen Stimme sagen gehört, als diese in Deutschland eine auf der Straße laufende Katze zu ihnen rufen wollten. Es existiert eine Erklärung für diese markierte Aussprache im Zusammenhang mit dem e-caduc:

 

Ein Spiel mit den Bedeutungsnuancen kann auch an das Verschwinden oder Erscheinen des „e“ (bzw. hier der ganzen Gruppe „pe“) gebunden sein: so gilt petit [pti], realisiert als [ti], als eher hypokoristische, verniedlichende Ausdrucksweise, in der nicht die Kleinheit, sondern das Nette, Niedliche, Liebe etc. betont werden soll, während man für wirklich kleine Dinge eher die volle Form [pəti] bzw. [pti] benutzt. (Zollna 1999, 30)

 

In anderen Sprachen, wie zum Beispiel im Japanischen, kenne ich ein Beispiel für Männer- vs. Frauenaussprache bzw. -ausdrücke: Die eher umgangssprachliche und damit eher „vulgäre“ Alloform umai (うまい) für den Ausdruck „köstlich“ bzw. „gut“ im Japanischen wird – so die implizite soziale Erwartung – nur von Männern verwendet. Wenn Frauen diesen Ausdruck verwenden, wird die jeweilige Frau Aufsehen erregen und als vulgär, männlich und gar nicht süß (kawai) gelten; doch eine Frau sollte nach den vorherrschenden Vorstellungen und Sitten in Japan „süß“ sein. Die neutrale Variante für „köstlich“ oishii (おいしい) können auch Männer (z. B. bei feierlichen Anlässen) benutzen. Das Dehnen des „i“ am Ende in oishii wirkt sogar niedlicher (kawai) und damit weiblicher in Japan. Männer dehnen das „i“ in der Regel nicht besonders. Bei sehr leckerem Essen werden die Frauen das „i“ am Ende länger dehnen, quasi oishiiiiii. Japanische Männer haben in diesem Fall in der gesprochenen Sprache die Wahlfreiheit zwischen zwei Ausdrücken, während die Frauen je nach Situation die Dehnung des „i“ am Ende von oishi stark variieren können. Diese Aussprachevarietäten kommen im Französischen auch und nicht nur bei petit vor: Frauen artikulieren allgemein weit vorne und geschlossen, um bei passenden Anlässen eine süße und damit einer ihrer sozialen Rolle als Frau typisch weibliche Reaktion zu zeigen (vgl. Léon 1993, zit. n. Zollna 1999: 90). Diese diagenische Varietät könnte der Einfachheit halber als diaphasische Varietät eingestuft werden, weil die Situation sozial konformes Sprechen fordert. Es ist denkbar, dass einige Frauen in Japan in bestimmten Situationen den Ausdruck umai verwenden, um einen bestimmten Effekt (wie Überraschung) zu erzielen oder um Männer zu parodieren. Vielleicht benutzen japanische Frauen, wenn sie mit anderen Frauen speisen, diesen Ausdruck? Nur bestimmte Situationen mit bestimmten Personen lassen Frauen oder Männer diese ihnen typisch zugeordneten Sprechweisen verwenden. Diese als typisch weiblich angesehen Aussprachevarietäten werden zumindest im Französischen auch in anderen Situationen, und zwar im Gespräch mit Kindern (als Babysprache) (vgl. ebd.) oder zur Bezeichnung süßer Dinge, benutzt (s. o.). Es existieren jedoch mehr als nur weibliche vs. männliche Aussprachevariationen (vgl. ebd.). Langsames Sprechen mit vielen Pausen und Nasaliserungen gilt z. B. als überheblich (vgl. ebd.). Vorschnelle Pauschalisierungen sollen jedoch gemieden werden, da die individuelle Sprechweise eines Menschen, die Ist-Norm (Albrecht 1986: 66), nicht immer der Soll-Norm (ebd.) entsprechen muss. Es wäre ein naturalistischer Fehlschluss zu sagen, dass bestimmte Lexeme Männern oder Frauen zugeordnet sind: Aus diesen persönlichen und wenn auch häufigen empirischen Beobachtungen („Frauen benutzen den Ausdruck oishi beim Essen; Männer benutzen es hingegen nie, sondern nutzen umai“, oder: „Französische Frauen sprechen petit als ti aus“) darf keine Norm abgeleitet werden. Es ist nicht anzustreben, dass eine Aussprache eine Soll-Norm für alle darstellt.     

 

Lexikalische Varianten für einen und denselben Ausdruck wie im Falle des japanischen Ausdrucks für „köstlich“ existieren im Französischen auch, wie Blanche-Benveniste nachweist (vgl. Zollna 1999: 48). Zollna sieht den Grund für die im Französischen häufig als Dubletten vorkommenden Synonymenpaare im Vorliegen eines konzeptuell schriftsprachlichen code und eines konzeptuell sprechsprachlichen code. Söll (³1985: 23) spricht von code écrit und code parlé und meint damit schriftlich oder mündlich konzipierte Ausdrücke und Mitteilungen. Es ist also möglich, von der Konzeption her gesprochenes Französisch (code parlé) mit allen typischen Strukturen und den dazu zugeordneten...

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