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E-Book

Schuleingangsdiagnostik

VerlagHogrefe Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl236 Seiten
ISBN9783844429268
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis30,99 EUR
Die Schuleingangsdiagnostik hat im deutschen Sprachraum eine lange Tradition. Nachdem sich die frühen Tests zur Erfassung der Schulreife im Hinblick auf die Prognose weiterer Schulleistungen als nicht sonderlich tragfähig erwiesen haben, sind in neuerer Zeit vielseitigere Konzepte entwickelt worden. Im vorliegenden Band wird daher nach einer Auseinandersetzung mit theoretischen Grundlagen des Konzepts der Schulfähigkeit bzw. Schulbereitschaft und der Darstellung historischer Entwicklungstrends gezielt auf neuere Ansätze der Schuleingangsdiagnostik eingegangen. Die Beiträge beleuchten aktuelle Konzeptionen in den einzelnen Bundesländern und geben Übersichten zum Entwicklungs¬stand der Verfahren in unterschiedlichen Inhaltsbereichen. So werden neuere Verfahren zur spezifischen Erfassung des Sprachstands ebenso detailliert beschrieben wie Tests zur Diagnose des motorischen Entwicklungsstands und früher mathematischer Kompetenzen. Schließlich werden neuere Vorschul-Screenings genauer dargestellt, die breiter angelegt sind und beispielsweise die phonologische Informationsverarbeitung sowie kognitive wie auch sozio-emotionale Kompetenzen kombiniert erfassen. Die in diesen Beiträgen vor¬gestellte Evidenz lässt erkennen, dass sich im Bereich der Schuleingangsdiagnostik in den letzten Jahrzehnten viel getan hat. Es stehen nun mehrere diagnostische Verfahren zur Verfügung, die eine gute Vorhersage der schulischen Leistungsentwicklung in den beschriebenen Bereichen erlauben, gleichzeitig aber auch frühzeitig Hinweise auf gestörte oder verzögerte Entwicklungsverläufe geben können. Dieser Band ist unter der Reihenbezeichnung 'Tests und Trends - Jahrbuch der pädogogisch-psychologischen Diagnostik' erschienen.

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Leseprobe

|1|Kapitel 1
Schulbereitschaft – Zur theoretischen und empirischen Fundierung des Konzepts


Claudia M. Roebers und Marcus Hasselhorn

Zusammenfassung

Im vorliegenden einführenden Kapitel werden theoretische Konzepte und empirische Befunde zur Schulbereitschaft von Kindern dargestellt. Selbstregulation wird aktuell als zentrales Konstrukt der Schulbereitschaft angesehen. Diese beinhaltet neben physiologischen, emotionalen, motivationalen-volitionalen und verhaltensbezogenen Aspekten insbesondere höher geordnete kognitive Prozesse. Es handelt sich dabei um die Fähigkeit von jungen Kindern, eine kleine Menge von Informationen kurzzeitig zu speichern und zu bearbeiten, automatisierte Reaktionen und kognitive Operationen zu hemmen und flexibel die Aufmerksamkeit auf relevante Aspekte zu lenken und zu fokussieren (= exekutive Funktionen). Die Selbstregulation hat sich als wichtiges Verhaltensmerkmal zur Vorhersage späterer schulischer Leistungen herausgestellt. Sie nimmt deshalb im vorliegenden Beitrag eine prominente Rolle ein. Darüber hinaus sind sprachliche Fähigkeiten und sogenannte Vorläuferfertigkeiten der Schriftsprache und der Mathematik für die Schulbereitschaft von Kindern von Bedeutung. Die theoretische und empirische Verankerung dieser Konstrukte werden vorgestellt. Während standardisierte Testverfahren für letztere bereits existieren, stellt die Entwicklung eines normierten Testinstrumentes zur Erfassung der exekutiven Funktionen im deutschsprachigen Raum eine Aufgabe für zukünftige Forschung dar.

1.1 Einleitung


Die Einschulung ist für Kinder eine wichtige Entwicklungsaufgabe, die mit Herausforderungen in ganz unterschiedlichen Bereichen verbunden ist. Dazu zählt etwa der Aufbau neuer Beziehungen zu Lehrkräften und Mitschülerinnen und Mitschülern, aber auch die Anpassung an das neue, lernorientierte und stärker strukturierte schulische Umfeld. Besonders groß und vielfältig sind die Herausforderungen im Zusammenhang mit dem nun für das Kind täglich im Fokus stehenden Erwerb von Lesen, Schreiben und Rechnen. Es stellt sich daher die Frage, ob ein Kind in seiner bisherigen Entwicklung in hinreichendem Maße die Voraussetzun|2|gen erworben hat, um diese vielfältigen kognitiven aber auch emotional-motivationalen Herausforderungen erfolgreich bewältigen zu können (vgl. Hasselhorn & Lohaus, 2008).

Diese Frage ist unter Rückgriff auf die Begriffe „Schulreife“, „Schulfähigkeit“ und „Schulbereitschaft“ immer wieder diskutiert worden. Der historisch ältere Begriff der Schulreife ist eng mit dem Namen Artur Kern verbunden, der mit seinem Buch „Sitzenbleiberelend und Schulreife“ von 1951 die Diskussion um die Einschulungspraxis entfachte. Von „Schulreife“ sprach man aufgrund der Annahme, dass ein Kind einen bestimmten reifungsabhängigen Entwicklungsstand erreicht haben muss, um die Anforderungen des Anfangsunterrichts erfolgreich bewältigen zu können. Schulreife wurde also als Resultat eines endogen, d. h. innerlich gesteuerten Reifungsprozesses verstanden. Als bester Indikator hierfür wurde das Alter des Kindes angesehen. Hat ein Kind den für erforderlich gehaltenen Entwicklungsstand bei Erreichen des Schulpflichtalters noch nicht erlangt, müsse man ihm – so die Kernannahme dieser Konzeption – eine Zeit der „Nachreife“ gewähren, etwa durch Rückstellung vom Schulbesuch für ein weiteres Jahr, damit die wichtigsten Entwicklungsschritte nachgeholt werden könnten. Eine Beschleunigung der Entwicklung, etwa durch zusätzliche Lernangebote, galt nach der Reifungstheorie als nicht realistisch.

Diese Annahmen wurden recht früh durch Kemmler und Heckhausen (1962) widerlegt. Das Schulreifekonzept wurde in der Folge durch den von impliziten Reifungsannahmen weniger belasteten Begriff der „Schulfähigkeit“ abgelöst. Schulfähigkeit wurde dabei zunächst eher eigenschaftstheoretisch verstanden. Einem Kind wurde Schulfähigkeit zugesprochen, wenn es die von der Schule geforderten Fähigkeiten aufweist (Kammermeyer, 2000). Fehlen sie, wurde dies meist mit mangelnder Begabung erklärt (z. B. Burgener Woeffray, 1996).

Nicht zuletzt führten die positiven Erfahrungen mit einigen in den USA durchgeführten Förderprogrammen in den 1970er-Jahren (z. B. Head Start) zu einem weiteren Umdenken. Dort hatte sich gezeigt, dass sich der kognitive Entwicklungsstand jüngerer Kinder durch gezielte Fördermaßnahmen beeinflussen lässt, also entwicklungsauffällige Kinder durch geeignete Förderung durchaus „befähigt“ werden können. Durch diese eher lerntheoretische Sicht änderte sich auch die Funktion der Schuleingangsdiagnostik. Fortan diente sie weniger der Selektion als vielmehr der Identifikation von Förderbedarf. Die Schulfähigkeit eines Kindes wurde zunehmend in Relation zu den schulischen Anforderungen gesehen, und es setzte sich die heute noch anerkannte ökosystemische Sichtweise von Schulfähigkeit durch (Nickel, 1990). Danach ist die individuelle Schulfähigkeit nicht nur vom Entwicklungs- oder Förderstand eines Kindes abhängig, sondern auch von einer Reihe ökosystemischer Umweltfaktoren, insbesondere Merkmalen der vorschulischen, schulischen und häuslichen Lernumwelt, aber auch die Schule selbst mit ihren Anforderungen und Lernbedingungen.

|3|In der internationalen Fachdiskussion ist man mittlerweile dazu übergegangen, den Begriff der „Schulbereitschaft“ (engl. children’s readiness for school) zu verwenden (z. B. Carton, 1999). Dieser Begriff verzichtet auf eine einseitige Betonung der kognitiven Voraussetzungen für einen erfolgreichen Schulstart. Er betont vielmehr, dass neben den kognitiven auch volitional-motivationale, sozial-emotionale Kompetenzen für eine erfolgreiche Bewältigung schulischer Anforderungen bedeutsam sind. Diese Konzeptualisierung hat auch heute noch Gültigkeit und impliziert, dass Schulbereitschaft ein multidimensionales Konstrukt ist, welches zwar vor allem, aber nicht nur kognitive Aspekte beinhaltet. Schulbereitschaft beinhaltet auch emotionale (z. B. Umgang mit kleinen Enttäuschungen), motivationale (eine Aufgabe zu Ende führen, auch wenn man keine Lust mehr verspürt) und volitionale Aspekte (ein richtiges und nicht irgendein Ergebnis in der Mathematikaufgabe erzielen). Gleichzeitig betont der Begriff der Schulbereitschaft, dass die individuellen Lern- und Entwicklungsbedürfnisse der Kinder im Anfangsunterricht im Vordergrund stehen. Mit anderen Worten: Die Schule sollte auch bereit für die Kinder sein („schools’ readiness for children“).

1.2 Schulbereitschaft – aktuelle Konzeptualisierung


Die aktuelle, mehrdimensionale Konzeptualisierung der Schulbereitschaft integriert verschiedene jüngere Entwicklungen im Feld. In einer repräsentativen Lehrerbefragung identifizierten Rimm-Kaufman, Pianta und Cox (2000) zentrale Aspekte der Schulbereitschaft aus der Sicht von Lehrpersonen: Neben bereichsspezifischem Wissen gehören dazu die Fähigkeiten, konkreten Anweisungen zu folgen und selbstständig zu arbeiten.

Auch in den Diskussionen der von der OECD durchgeführten internationalen Schulleistungsuntersuchungen setzte sich zunehmend die Auffassung durch, dass schulische Ausbildung über die Vermittlung von Fachwissen hinausgehen solle. In der modernen Gesellschaft sei der zielgerichtete Umgang mit großen Mengen von Informationen, die Befähigung, persönliche Zielsetzungen zu entwickeln und zu verfolgen, geeignete Strategien auszuwählen sowie möglichst realistische Einschätzungen des eigenen Lern- und Entwicklungsfortschrittes vornehmen zu können, von zentraler Bedeutung. Das Bild eines aktiven, selbstständigen Lernenden mit hinreichenden selbstregulierenden Fähigkeiten dominiert deshalb im internationalen Diskurs die Zielvorstellungen von schulischer Bildung schon ab der Grundstufe (Blair, 2016).

Schließlich haben methodisch-statistische Weiterentwicklungen dazu beigetragen, dass aus der Vielzahl von Studien über den prädiktiven Wert von kindlichen Merkmalen isolierte Effekte herausgefiltert werden konnten. Zum Beispiel konnten Duncan und Kollegen (2007) in der Sekundäranalyse von sechs großen Da|4|tensätzen (unter Einbezug von über 55.000 individuellen Datensätzen) zur Vorhersage von frühen akademischen Leistungen zwei Faktorengruppen identifizieren, die über wichtige Hintergrundcharakteristiken des Kindes (vor allem allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit und Geschlecht), seiner Familie (sozioökonomischer Hintergrund, Bildungsstand der Eltern) und seiner vorschulischen Lernumwelten (Qualität und...

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