Grundlegend ist unsere Sicht von Konflikten. Nur wenn wir davon ausgehen, dass Konflikte nicht ungewollt und willkürlich eskalieren, sondern wir als Involvierte die Möglichkeit haben, diese durch unser Kommunikationsverhalten entscheidend steuern zu können, macht es Sinn, sich mit dem Vorbeugen von Konflikteskalation auseinander zu setzten. Doch was genau heißt Eskalation in diesem Zusammenhang? Die Übersetzung des englischen Wortes „escalation“ heißt auf deutsch „Steigerung“ oder „Verschärfung“.[70] Ursprünglich bezieht sich diese Steigerung auf eine Verschärfung bei der Anwendung von militärischen und politischen Mitteln. Im Bereich der Kommunikationstheorie wird der Begriff der Eskalation verwendet, um Beziehungsverläufe zu charakterisieren, die einen sich steigernden Intensitätsverlauf aufzeigen.[71] Dieses kann sich bei Liebesbeziehungen sehr positiv äußern, bei Konflikten jedoch in ein gegenseitiges Verletzen oder gar Vernichten abgleiten.
Auch wenn hier die Auffassung zugrunde gelegt wird, dass wir bei der Involvierung in einen Konflikt sehr wohl die Möglichkeit haben einer Konflikteskalation durch bewusstes Kommunikationsverhalten entgegenzuwirken, bleibt der Verlauf des Konflikts immer ein Stück weit unberechenbar, da sein Wirkungsgeflecht vielseitig ist. Es kann z.B. dazu kommen, dass ein Empfänger auf „verborgene Schlüsselreize“[72] einer Nachricht für den Sender völlig unverständlich reagiert. In solchen Fällen „hat eine >psychochemische Reaktion< stattgefunden mit einer Nachrichtenkomponente, die der Sender in seiner eigenen Nachricht gar nicht vermutet hätte oder auf die er das Schwergewicht seiner Nachricht nicht legen wollte.“[73] D.h. also, dass eine Nachricht durch unsere Vorerfahrungen und unsere Wahrnehmung, die sich auch immer auf spezielle Erkenntnisse ausrichtet und entsprechend unserem Weltbild Informationen selektiert, in einen für den Sender völlig überraschenden, verfremdeten Zusammenhang eingeordnet worden ist. „Es stimmt eben beides: Der eine hat dieses gesagt, der andere hat jenes gehört.“[74] Solche Situationen wirken verwirrend für beide Interaktionspartner, können allerdings auch hochinteressant sein, wenn man die Gelegenheit ergreift, eine solche Aussage aus der Perspektive seines Gegenübers empathisch unter dessen Selbstoffenbarungsaspekt (vgl. 1.1) zu hören.
„Es wäre viel gewonnen, wenn wir die gefühlsmäßigen Ausbrüche, Anklagen und Vorwürfe unserer Mitmenschen mehr mit dem Selbstoffenbarungs-Ohr zu empfangen in der Lage wären. Dann könnten wir den anderen eher seine Gefühle zugestehen, könnten uns ruhig darauf einlassen, ohne gleich in große Sorge um unsere >weiße Weste< und um unser seelisches Heil zu geraten. Wir wären weniger mit unserer eigenen Rehabilitation beschäftigt und könnten statt dessen besser zuhören und so besser dahinterkommen, was mit dem anderen wirklich los ist.“[75]
Diese wünschenswerte Gesprächshaltung wird ausführlicher unter 4.2 beschrieben, da sie eine entscheidende Komponente zur Konfliktbewältigung und auch zur langfristigen Konfliktlösung, außerhalb der Konfliktsituation, darstellt.
Wovon ist eigentlich genau die Rede, wenn ein Konflikt eskaliert? Glasl (2004) hat zur Erörterung dieser Frage das „9 Stufen Eskalationsmodell“ entworfen. Dieses Modell (siehe Abbildung 3) geht davon aus, dass neun abwärtsfolgende Stufen erfolgen, bis ein Konflikt auf der untersten Stufe „Gemeinsam in den Abgrund“ eskaliert.[76]
Kennzeichnend für dieses Modell ist, dass zwischen diesen neun Stufen jeweils Wende- oder Schwellenpunkte existieren, die „das Abrutschen“ auf eine weitere untere Stufe der Regression charakterisieren und damit auch erschweren. Diese Wendepunkte dienen in gewisser Weise als Grenzen der Gewaltanwendung, die - in der Regel - unausgesprochen festlegen, auf welcher Stufe ein Konflikt ausgetragen wird.[77] In Bezug auf Schelling (1957) stellt Glasl die Schwellenmomente folgendermaßen dar:
sie sind evident und beanspruchen eine selbstverständliche Geltung
sie appellieren an erster Stelle nicht an die Logik, sondern an das Gefühl
sie haben symbolische Bedeutung
sie liefern deutliche Meilensteine im Kontinuum möglicher Lösungen und Übereinstimmungspunkte[78]
Diese Schwellen- und Wendepunkte sind wichtig, da sie Sicherheit gewähren und man sich generell daran halten sollte, diese Grenzwerte nicht zu überschreiten. Zum Beispiel galt in den Bürgerkriegsverhandlungen in Nordirland ein von Katholiken und Protestanten absolut anerkannter Schwellenwert: „keine Kinder, Frauen oder Priester zu töten.“[79] Nachdem dann allerdings 1975 absichtlich ein Kind von einem Panzer der britischen Armee überfahren worden ist, entwickelte sich eine drastische Verschärfung der Situation bzw. die Eskalation des Nordirlandkonflikts erfolgte auf einer tieferliegenden Stufe.[80]
Auf jeder Stufe gelten eigene Normen und Rechtfertigungsmomente für das praktizierende Ausmaß der Gewaltanwendung. Dementsprechend werden „derartige Schwellen- oder Wendepunkte oft als ‚point of no return’ erlebt.“[81] Im Folgenden soll das „9 Stufen Eskalationsmodell“ von Glasl veranschaulicht und näher erläutert werden:
Abbildung 3: Das „9 Stufen Eskalationsmodell“ nach Friedrich Glasl (2004)
Quelle: Glasl, Friedrich (2004), S.236
Stufe 1: Verhärtung. Auf dieser ersten Stufe verhärten sich die Standpunkte und prallen aufeinander. Verkrampfungen der Konfliktparteien können entstehen. Es herrscht aber noch die Ansicht, dass die Spannungen durch Gespräche abgebaut werden können. Die Kooperation ist demnach auf dieser Stufe noch stärker ausgeprägt, als die Konkurrenz.[82]
Stufe 2: Debatte und Polemik. Es findet eine Polarisation im Denken, Fühlen und Wollen statt (Schwarz-Weiß-Denken). Eine Sichtweise von Unter- und Überlegenheit entsteht. Kooperation und Konkurrenz wechseln auf dieser Stufe ständig und sind in etwa noch gleich stark ausgeprägt.[83]
Stufe 3: Taten statt Worte. Die Sichtweise, dass Reden nicht mehr hilft, ist entstanden. Die Empathie mit der anderen Person geht verloren und die Gefahr von Fehlinterpretationen wächst. Die Konkurrenz ist auf dieser Stufe bereits stärker ausgeprägt als die Kooperation.[84]
tufe 4: Images und Koalitionen. Die Konfliktparteien manövrieren sich gegenseitig in negative Rollen und bekämpfen sich. Es findet eine Werbung um Anhänger statt, wodurch das soziale Umfeld ausgeweitet wird.[85]
Stufe 5: Gesichtsverlust. Es kommt zu öffentlichen und direkten Angriffen, die den Gesichtsverlust des Gegners erzielen wollen.[86]
Stufe 6: Drohstrategien. Drohungen und Gegendrohungen nehmen zu. Durch das Aufstellen von Ultimaten wird die Eskalation begünstigt.[87]
Stufe 7: Begrenzte Vernichtungsschläge. Der Gegner wird als Ding und nicht mehr als Mensch gesehen. „Vernichtungsschläge“, die noch begrenzt sind, werden als passende Antworten ausgeführt. Ein kleiner Schaden, der beim Gegenüber bewirkt werden kann, wird als großer Gewinn betrachtet.[88]
Stufe 8: Zersplitterung. Die Zerstörung und Auflösung des Gegners wird intensiv als Ziel verfolgt.[89]
Stufe 9: Gemeinsam in den Abgrund. Es kommt zur totalen Konfrontation. Um den Feind zu vernichten, wird sogar die eigene Selbstvernichtung in Kauf genommen.[90]
Worin besteht nun der Nutzen eines solchen Eskalationsmodells auf neun Stufen? Allgemein kann das Eskalationsmodell als eine Art Barometer fungieren, welches uns Anhaltspunkte über das Erkennen einer Eskalationsstufe gewährt und uns auf diese Weise Auskunft über die Angemessenheit von präventiven und kurativen Maßnahmen bietet.[91] Je weiter ein Konflikt eskaliert ist, desto gewichtiger sind kurative Maßnahmen, deren unmittelbarer, kurzfristiger Erfolg dominiert, um einen größeren Schaden bzw. ein weiteres Eskalieren zu vermeiden. Insgesamt kann festgestellt werden, dass eine Konfliktintervention sehr frühzeitig stattfinden sollte, um eine Eskalation bzw. ein Abgleiten auf eine untere Stufe zu verhindern. Wie kann nun eine solche Intervention zur Deeskalation von Konflikten aussehen? „Unter Deeskalation versteht man die stufenweise Verringerung von Konflikten und damit...