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E-Book

Ärztliche Seelsorge

Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse

AutorViktor E. Frankl
VerlagDeuticke im Paul Zsolnay Verlag
Erscheinungsjahr2005
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783552063570
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Die 'Ärztliche Seelsorge', in der Viktor Frankl seine zentralen Thesen festhält, ist eines seiner Hauptwerke Viktor Frankls: ein engagierter Aufruf zur Entmythologisierung der Psychotherapie und zur Rehumanisierung der Medizin. Der in den dreißiger Jahren entstandene Text wurde 1946 erstmals veröffentlicht und zuletzt 1982 leicht überarbeitet. Im Vorwort schrieb Frankl damals: 'Aber das Buch soll, wie gesagt, nicht nur immer, sondern auch wieder aktuell sein. Dies mag zumindest von einem Kapitel wie dem der 'Arbeitslosigkeitsneurose' gewidmeten gelten, und wir müssen froh sein, wenn uns erspart bleibt, daß auch noch das Kapitel 'Zur Psychologie des Konzentrationslagers' je wieder aktuell wird.'
Zum 100. Geburtstag von Viktor Frankl am 26. März 2004 erschien diese Neuausgabe, erstmals ergänzt mit den 'Zehn Thesen über die Person'.

Viktor E. Frankl, geboren am 26. März 1905 in Wien, starb 1997 in seiner Geburtsstadt. Sein Gesamtwerk wurde weltweit mehr als 18 Millionen Mal verkauft. Bei Deuticke erschien zuletzt die Biographie von Haddon Klingberg, Jr.: Das Leben wartet auf Dich. Elly & Viktor Frankl (2002).

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Leseprobe

Einleitung1


Wenn Schelsky im Titel eines seiner Bücher die damalige Jugend als »Die skeptische Generation« bezeichnet, dann läßt sich Analoges von den heutigen Psychotherapeuten behaupten. Wir sind vorsichtig, ja mißtrauisch geworden, und zwar insbesondere gegenüber uns selbst, gegenüber unseren eigenen Erfolgen und Erkenntnissen, und diese Bescheidenheit und Nüchternheit mag das Lebensgefühl einer ganzen Psychotherapeutengeneration zum Ausdruck bringen. Längst ist es kein Geheimnis mehr, daß – welche Methode und Technik auch immer angewandt wird – beiläufig zwei Drittel bis zu drei Viertel der Fälle geheilt oder zumindest wesentlich gebessert werden.

Allein, ich möchte vor jeder demagogischen Schlußfolgerung warnen. Noch ist nämlich die Pilatus-Frage aller Psychotherapie nicht beantwortet: Was ist Gesundheit – was ist Gesundung – was ist Heilung? Eines aber läßt sich nicht bestreiten: Wenn quer durch die verschiedenartigsten Methoden hindurch annähernd gleich hohe Erfolgsraten verzeichnet werden, dann kann es nicht die jeweils angewandte Technik sein, der wir die betreffenden Erfolge in erster Linie zu verdanken haben. Franz Alexander hat einmal die Behauptung aufgestellt: »In all forms of psychotherapy, the personality of the therapist is his primary instrument.« Soll das aber heißen, daß wir Verächter der Technik werden dürfen? Eher möchte ich Hacker beipflichten, der davor gewarnt hat, in der Psychotherapie einfach eine Kunst zu erblicken, durch welche Gleichsetzung nämlich der Scharlatanerie Tür und Tor geöffnet werden. Sicherlich ist Psychotherapie beides: Kunst und Technik. Ja, ich möchte darüber hinausgehen und die Behauptung wagen, das je nachdem musische oder technische Extrem der Psychotherapie sei als solches, als Extrem, ein bloßes Artefakt. Extreme existieren eigentlich nur in der Theorie. Die Praxis spielt sich in einem Zwischenbereich ab, in einem Bereich zwischen den Extremen musisch bzw. technisch aufgefaßter Psychotherapie. Zwischen diesen Extremen erstreckt sich ein ganzes Spektrum, und in diesem Spektrum kommt jeder Methode und Technik ein bestimmter Stellenwert zu. Dem musischen Extrem am nächsten stünde die authentische existentielle Begegnung (die »existentielle Kommunikation« im Sinne von Jaspers und Binswanger), während näher dem technischen Extrem zu lokalisieren wäre die Übertragung im psychoanalytischen Sinne, die ja, wie Boss in einer seiner jüngsten Arbeiten bemerkt, jeweils »gehandhabt«, um nicht zu sagen »manipuliert« (Dreikurs) wird. Weiter ans technische Extrem heran käme das autogene Training nach Schultz, und wohl am weitesten vom musischen Pol entfernt hätte sich so etwas wie die Schallplattenhypnose.

Welchen Frequenzbereich wir quasi herausfiltern aus dem Spektrum, das heißt, welche Methode und Technik wir für indiziert erachten, hängt nicht nur vom Patienten, sondern auch vom Arzt ab; denn es ist nicht nur so, daß nicht jeder Fall auf jede Methode gleich gut anspricht2, sondern es ist auch so, daß nicht jeder Arzt mit jeder Technik gleich gut umgehen kann. Meinen Studenten pflege ich dies in Form einer Gleichung auseinanderzusetzen:

 

ψ = x + y

 

Das heißt, die jeweilige Psychotherapiemethode der Wahl (ψ) ist insofern eine Gleichung mit zwei Unbekannten, als sie nicht zu erstellen ist, ohne daß sowohl die Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Patienten als auch die Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Arztes in Rechnung gestellt werden.

Soll das heißen, daß wir einem faulen und billigen Eklektizismus verfallen und huldigen dürfen? Sollen die Gegensätze zwischen den einzelnen Psychotherapiemethoden verschleiert werden? Von all dem kann nicht die Rede sein. Worauf unsere Überlegungen und Erwägungen hinauslaufen, ist vielmehr, daß keine Psychotherapie mehr einen Exklusivitätsanspruch stellen darf. Solange uns eine absolute Wahrheit nicht zugänglich ist, müssen wir uns damit begnügen, daß die relativen Wahrheiten einander korrigieren, und auch den Mut zur Einseitigkeit aufbringen, nämlich zu einer Einseitigkeit, die sich ihrer selbst bewußt ist.

Man stelle sich vor, der Flötist würde im Orchester nicht einseitig und ausschließlich Flöte spielen, sondern ein anderes Instrument zur Hand nehmen – nicht auszudenken; denn er hat nicht bloß das Recht, sondern nachgerade die Pflicht, einseitig und ausschließlich Flöte zu spielen im Orchester – aber eben auch nur im Orchester: sobald er nach Hause kommt, wird er sich wohlweislich hüten, dort, daheim, außerhalb des Orchesters, seinen Nachbarn durch einseitiges und ausschließliches Flötespielen auf die Nerven zu gehen. Im vielstimmigen Orchester der Psychotherapie sind wir ebenfalls zu einer Einseitigkeit, die sich ihrer selbst bewußt bleibt, nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet.

Apropos Kunst: sie wurde einmal als Einheit in der Mannigfaltigkeit definiert; analog, meine ich, ließe sich der Mensch als Mannigfaltigkeit in der Einheit definieren. Trotz aller Einheit und Ganzheit des Wesens Mensch gibt es eine Mannigfaltigkeit von Dimensionen, in die hinein er sich erstreckt, und in sie alle hinein muß ihm die Psychotherapie folgen. Nichts darf da unberücksichtigt bleiben – weder die somatische noch die psychische noch die noetische Dimension. So muß sich denn die Psychotherapie auf einer Jakobsleiter bewegen, auf- und absteigen auf einer Jakobsleiter. Sie darf weder ihre eigene metaklinische Problematik unberücksichtigt lassen noch den festen Boden klinischer Empirie unter den Füßen verlieren. Sobald sich die Psychotherapie in esoterische Höhen »verstiegen« hat, müssen wir sie wieder zurückrufen, zurückholen.

Mit dem Tier teilt der Mensch die biologische und die psychologische Dimension. Mag sein Tiersein auch noch so sehr von seinem Menschsein her dimensional überhöht und geprägt sein, irgendwie hört der Mensch nicht auf, auch ein Tier zu sein. Ein Flugzeug hört nicht auf, genauso wie ein Auto auf dem Flughafengelände, also in der Ebene umherfahren zu können; aber als ein wirkliches Flugzeug wird es sich erst dann erweisen, wenn es sich in die Lüfte, also in den dreidimensionalen Raum erhebt. Genauso ist der Mensch auch ein Tier; aber er ist auch unendlich mehr als ein Tier, und zwar um nicht weniger als eine ganze Dimension, nämlich die Dimension der Freiheit. Die Freiheit des Menschen ist selbstverständlich nicht eine Freiheit von Bedingungen, sei es biologischen, sei es psychologischen oder soziologischen; sie ist überhaupt nicht eine Freiheit von etwas, sondern eine Freiheit zu etwas, nämlich die Freiheit zu einer Stellungnahme gegenüber all den Bedingungen. Und so wird sich denn auch ein Mensch erst dann als ein wirklicher Mensch erweisen, wenn er sich in die Dimension der Freiheit aufschwingt.

Aus dem Gesagten erhellt, daß in der Theorie der ethologische Ansatz ebenso legitim sein mag wie in der Praxis der pharmakologische Ansatz. Ich möchte es hier dahingestellt sein lassen, ob sich durch die Psychopharmaka eine Psychotherapie ersetzen lassen oder nur erleichtert oder aber erschwert wird. Ich möchte nur eines bemerken: Wenn kürzlich der Besorgnis Ausdruck verliehen wurde, die psychopharmakologische Therapie könnte ebenso wie die Elektroschockbehandlung dazu führen, daß der psychiatrische Betrieb mechanisiert und der Patient nicht mehr als eine Person betrachtet wird, dann muß ich sagen, es ist nicht einzusehen, warum das der Fall sein soll. Nie kommt es auf eine Technik an, sondern immer nur auf denjenigen, der die Technik handhabt, auf den Geist, in dem sie gehandhabt wird.3 Und so gibt es denn auch einen Geist, aus dem heraus eine psychotherapeutische Technik auf eine den Patienten »depersonalisierende« Art und Weise gehandhabt wird, indem hinter der Krankheit nicht mehr die Person, vielmehr in der Psyche nur noch Mechanismen gesehen werden: der Mensch wird reifiziert – er wird zur Sache gemacht – oder gar manipuliert: er wird Mittel zum Zweck.4

In Fällen endogener Depression beispielsweise ist die Therapie mit Hilfe der Psychopharmaka meines Erachtens durchaus angezeigt. Die Argumentation, in solchen Fällen dürften die Schuldgefühle nicht »wegtranquilisiert« werden, da ihnen eine wirkliche Schuld zugrunde liege, halte ich nicht für angebracht. In einem gewissen, im existentiellen Sinne schuldig ist jeder von uns; aber der endogen Depressive empfindet dieses Schuldigsein dermaßen unproportioniert, überdimensioniert, daß es ihn zur Verzweiflung und in den Selbstmord treibt. Wenn bei Ebbe ein Riff sichtbar wird, wird niemand die Behauptung wagen, das Riff sei die Ursache der Ebbe. Analogerweise wird während einer endogen-depressiven Phase jene Schuld sichtbar, in verzerrtem Ausmaß sichtbar, die auf dem Grunde alles Menschseins liegt, ohne daß damit auch schon gesagt wäre, daß solches existentielles Schuldigsein nun auch der endogenen Depression »zugrunde« liegt, im Sinne einer Psycho- oder gar Noogenese »zugrunde« liegt. Wo es doch ohnehin schon merkwürdig genug ist, daß diese existentielle Schuld in einem konkreten Fall ausgerechnet nur von Februar bis April 1951 und dann wieder erst von März bis Juni 1956 und dann wieder lange überhaupt nicht pathogen sein soll. Und noch etwas möchte ich zu bedenken geben: Ist es nicht deplaciert, ausgerechnet während endogen-depressiver Phasen einen Menschen mit dessen existentieller Schuld zu konfrontieren? Nur allzu leicht könnte solch ein Vorgehen – Wasser auf die Mühle seiner Selbstvorwürfe – einen Selbstmordversuch...

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