1. Wozu eine bayerische Literaturgeschichte?
Ist im Zeitalter der Globalisierung eine bayerische Literaturgeschichte überhaupt noch zu rechtfertigen? Ja, war eine Bayerische Literaturgeschichte überhaupt irgendeinmal zeitgemäß? Jedenfalls muss ein solches literaturhistorisches Unterfangen am Beginn des 21. Jahrhunderts zumindest hinterfragt werden.
Dabei muss zunächst allgemein historisch (nicht nur literaturgeschichtlich) weiter ausgegriffen werden. Denn Bayerns Eigenstaatlichkeit seit gut anderthalb Jahrtausenden und mehr noch die unbestreitbare Tatsache, dass Bayern als Staat älter als Deutschland ist, lassen grundsätzlich eine bayerische Literaturgeschichte durchaus berechtigt erscheinen. Niemand würde überdies die Legitimität einer Literaturgeschichte Österreichs neben einer deutschen Literaturgeschichte in Frage stellen, zumal historisch betrachtet weite Teile des heutigen Österreichs wie Altbayern auf gemeinsame ethnische wie politisch-herrschaftliche (dynastische) und nicht zuletzt sprachhistorische Wurzeln zurückgehen.
Auch ermutigen entsprechende Unternehmungen in der Vergangenheit dazu, nun, am Beginn des 21. Jahrhunderts, wieder eine bayerische Literaturgeschichte zu wagen, zumal das überaus verdienstvolle und in weiten Teilen keineswegs überholte, von Albrecht Weber herausgegebene Handbuch der Literatur in Bayern (1987) mittlerweile auch schon rund eine Generation alt ist. Während dieses Handbuch die Beiträge vieler verschiedener Experten, die für die jeweilige Epoche oder den jeweiligen Dichter als vorzügliche Spezialisten gelten, eher lose vereinigt und daher nicht nur stilistisch, sondern auch methodisch mitunter recht vielstimmig wirkt, will der vorliegende Versuch stilistisch wie methodisch einheitlich die Literatur in Bayern von den Anfängen bis zur zweiten Jahrtausendwende überblicksartig dokumentieren. Überdies gilt es, damals im Handbuch noch methodisch und korpusbedingte blinde Flecken zu beleuchten. Neben der Fragestellung von inter- und transkultureller Literatur ist hier nicht zuletzt die energischere Dokumentation der bayerischen Schriftstellerinnen, der schreibenden Schwestern der Bavaria, heute unbedingt zeitgemäß.
Heute wie damals beim Handbuch der Literatur in Bayern stellen sich jedoch ebenso schwerwiegende wie grundsätzliche Fragen nach dem (1) Gegenstand und der (2) Methode:
(1) Schon die Frage nach dem Gegenstand im Sinne eines Territoriums ist unter diachroner Perspektive hochproblematisch. Denn Bayern in seiner heutigen Ausdehnung ist ein Ergebnis der napoleonischen Zeit und flächenmäßig teilweise anders beschaffen als etwa das frühmittelalterliche Stammesherzogtum der Agilolfinger am Anfang der bayerischen Eigenstaatlichkeit, das etwa die Gebiete der heutigen fränkischen Regierungsbezirke nicht umfasste, dafür aber weite Teile Österreichs.
Karte 1: Das baierische Stammesherzogtum 788
Ist deshalb eine bayerische Literaturgeschichte, die konsequent vom Mittelalter bis zur Moderne reicht, schon aus territorialen Gründen anfechtbar und zum Scheitern verurteilt? Das Gegenargument mangelnder territorialer Kontinuität im Laufe der Jahrhunderte gilt freilich für nahezu jede Literaturgeschichte in Europa, die geographisch mehr umfasst als etwa nur eine Stadt. Auch eine deutsche Literaturgeschichte müsste sich den Vorwurf mangelnder staatlicher Kontinuität gefallen lassen, zumal es ja eine deutsche Nation im Mittelalter gar nicht gegeben hat und das Heilige Römische Reich (erst später: Deutscher Nation) durchaus ein Vielvölkerstaat war, zu dem nach heutiger ethnischer Zuordnung nicht nur Deutsche, sondern beispielsweise auch Italiener, Franzosen, Tschechen, Sorben, Polen und Balten gehörten.
Selbst Frankreich als Nationalstaat par excellence, als la grande nation, ist ein Produkt der Frühen Neuzeit, während das Königreich Frankreich im Mittelalter viel kleiner als beispielsweise die spätere Französische Republik war. Da trotz dieser territorialgeschichtlichen Fakten niemand auf die Idee käme, eine französische Literaturgeschichte vom Mittelalter bis zur Moderne abzulehnen, erscheint auch eine bayerische Literaturgeschichte durchaus legitim. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil der heutige Freistaat Bayern innerhalb der Europäischen Union als Mittelstaat anzusehen ist, der von seiner wirtschaftlichen Bedeutung her durchaus mit den Niederlanden, mit Belgien, der Schweiz oder mit Österreich (wo ja auch Bairisch gesprochen wird) vergleichbar ist.
Auch das Konzept der Nationalliteratur etwa im Sinne einer dezidiert deutschen Literaturgeschichte verdankt sich recht eigentlich erst der Nationalstaatsidee seit den sogenannten Befreiungskriegen am Beginn des 19. Jahrhunderts (und die noch älteren Universitätsnationen des Spätmittelalters waren in sich jeweils sprachlich und ethnisch alles andere als homogen, zudem trotz Namensgleichheit, von Universität zu Universität sehr verschieden zusammengesetzt).
Karte 2: Bayerns endgültiger Besitzstand 1816
Parallel zur (gerade im Vergleich zu Frankreich) späten (durchaus mit Italien vergleichbaren) Entstehung eines deutschen Nationalstaats steht somit die späte Geburt der universitären Wissenschaft Germanistik aus dem Geist der Juristerei. Dabei waren zunächst nur alt- und mittelhochdeutsche Literaturdenkmäler mit Rechtstexten, später auch mit anderen Gattungen Forschungsgegenstand (und einer Literaturgeschichte würdig). Hier wären als germanistische Pioniere die vor allem mediävistisch arbeitenden Großgermanisten Jacob und Wilhelm Grimm, Karl Lachmann und für Bayern Johann Andreas Schmeller zu nennen, dessen profunde Kenntnisse der Handschriftenbestände in der Bayerischen Staatsbibliothek zu München in sein berühmtes Wörterbuch eingingen. Die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts fand damals eher nur feuilletonistische, weniger systematisch wissenschaftliche Behandlung als Lehrgegenstand an den Universitäten. Von daher ist auch das Konzept der wissenschaftlichen Deutschen Literaturgeschichte (von den Anfängen bis zur jeweiligen Gegenwart) beziehungsweise Literaturgeschichtsschreibung (nicht nur in der Germanistik) eine vergleichsweise junge Erscheinung.
Der vom Ansatz her eigentlich begrüßenswerte frühzeitige Versuch, seit Jahrhunderten gewachsene föderale Strukturen in eine literaturgeschichtliche Form zu gießen, endete freilich zunächst in einer Sackgasse. Denn Josef Nadlers Vorgehen in seiner Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften lief letztlich auf äußerst bedenkliches bis fragwürdiges völkisches Gedankengut hinaus, beispielsweise mit der grotesken Charakterisierung Thomas Manns (wegen seiner Herkunft aus Lübeck) als literarischer (Nieder-) Sachse, obwohl der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1929 doch Hauptwerke wie seinen Zauberberg in München schuf, jener Stadt, die er in seiner Erzählung Gladius Dei als leuchtende verewigte.
Von daher sind Gleichsetzungen von vermeintlichem Stammes- beziehungsweise Volkscharakter mit literarischen Gegebenheiten oder gar einem bestimmten Gattungsgebrauch grundsätzlich abzulehnen. In einer seriösen bayerischen Literaturgeschichte kann es nicht um Heimattümelei gehen, sie hat sich denselben Qualitätsstandards wie jede Deutsche Literaturgeschichte oder auch eine Österreichische beziehungsweise Schweizerische Literaturgeschichte zu stellen.
Und in der Tat zeigt sich im Vergleich mit der Schweiz oder Österreich: Eine bayerische Literaturgeschichte auf wissenschaftlichem Niveau, die sich gleichwohl auch an ein gebildetes Laienpublikum wendet, stellt ein Desiderat dar. Obwohl es keinen Mangel an populärwissenschaftlichen Darstellungen zur Literatur in Bayern gibt, lässt sich auch dort ein doppeltes Manko konstatieren; einerseits konzentrieren sie sich zumeist lediglich auf eine Epoche oder gar nur ein Jahrhundert; andererseits sind viele Geschichten und Anthologien bayerischer Literatur trotz ihrer großen Verdienste schon deutlich in die Jahre gekommen oder gar nur noch antiquarisch greifbar. Das bereits erwähnte sehr verdienstvolle Handbuch der Literatur in Bayern verbindet (wie schon angedeutet) sein hohes Niveau mit dem Nachteil, dass es in verschiedene Einzelartikel von Spezialisten zerfällt und daher gerade nicht eine stringente Literaturgeschichte darstellt. Zudem wechseln Stil, Sprachduktus und Auswahlkriterien durchaus von Epoche zu Epoche, ja von Artikel zu Artikel.
Dieses Manko einer fehlenden neueren bayerischen Literaturgeschichte verblüfft angesichts des enormen Aufschwungs, den die regionale Literaturgeschichtsschreibung in den...