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E-Book

Briefe zur Beförderung der Humanität

Vollständige Ausgabe

AutorJohann Gottfried Herder
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl532 Seiten
ISBN9783849627652
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
In diesem fiktiven Briefwechsel reflektiert Herder nicht nur die Natur des Menschen, sondern auch seine Aufgaben und sein Wesen. Herder war in vielerlei Hinsicht ein Spinozist.

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Leseprobe

Zweite Sammlung


 

(1793)

 

14.

 

Mehrmals finde ich in Ihren Briefen den Geist der Zeit genannt; wollen wir uns einander nicht diesen Ausdruck aufklären?

 

Ist er ein Genius, ein Dämon? oder ein Poltergeist, ein Wiederkommender aus alten Gräbern? oder gar ein Lufthauch der Mode, ein Schall der Äolsharfe? Man hält ihn für eins und das andre.

 

Woher kommt er? wohin will er? wo ist sein Regiment? wo seine Macht und Gewalt? Muß er herrschen? muß er dienen? kann man ihn lenken?

 

Hat man Schriften darüber? Wie lernt man ihn aus der Erfahrung kennen? Ist er der Genius der Humanität selbst? oder dessen Freund, Vorbote, Diener?

 

15.

 

Warum sollte ich Ihnen auf Ihren lakonischen Brief nicht ebenso rätselhaft antworten, als Sie gefragt haben?

 

»Was ist der Geist der Zeiten?« Allerdings ein mächtiger Genius, ein gewaltiger Dämon. Wenn Averroës glaubte, daß das ganze Menschengeschlecht nur eine Seele habe, an welcher jedes Individuum auf seine Weise, bald tätig, bald leidend teilnehme, so würde ich diese Dichtung eher auf den Geist der Zeit anwenden. Wir stehen alle unter seinem Gebiet, bald tätig, bald leidend.

 

»Ist er ein Schall der Äolsharfe? ein Lufthauch der Mode?« Die flüchtige Mode ist seine unechte Schwester; er ist ihr nicht gewogen, lernt aber auch von ihr und hat mit ihr zuweilen lehrreichen Umgang. Desto entschiedner hasset er seinen wahren Feind und Verleumder, den Geist des Aufruhrs, der Zwietracht, den unreinen, abgeschmackten Pöbelsinn und Wahnsinn. Wo dieser sich hören läßt, in welchen Gesellschaften und Kreisen er ihn auch nur vermutet, fliehet er vor ihm und verachtet selbst die Lehre aus seinem Munde. Die Stimme des geläuterten Zeitgeistes ist verständig, überredend, sanft, freundlich. Bald lässet er sich wie ein Laut auf der Äolsharfe hören; bald tönt sie in vollen Chören. Der geläuterte Geist der Zeiten (möchte ich mit jenem alten Buche sagen) ist »heilig, einig, mannigfalt, scharf und behende, rein und klar, ernst und frei, wohltätig, leutselig, fest, gewiß, sicher. Er vermag alles, siehet alles und gehet durch alle Geister, wie verständig, lauter und scharf sie sind«.

 

»Woher kommt er?« Wie sein Name sagt, aus dem Schoß der Zeiten. Der menschlichen Natur einwohnend, hatten ihn einst in unserm rauheren Klima die Pfäfferei und der wilde Kriegsgeist lange unterdrückt gehalten; sie schlossen ihn ein in Höhlen, Türme, Schlösser und Klöster. Er entkam; die Reformation machte ihn frei; Künste und Wissenschaften am meisten aber die Buchdruckerei gaben ihm Flügel. Seine ernste Mutter, die selbstdenkende Philosophie, hat ihn, zumal an den Schriften der Alten, unterwiesen; sein ernster Vater, der mühsame Versuch, hat ihn erzogen und durch die Vorbilder der würdigsten, größten Männer gereift und gestärket. Er ist kein Kind mehr, wiewohl er bei jeder neuen Begebenheit ein Kind scheinet; alle Erfahrungen voriger Zeiten sind in seine Seele gedrückt, sind auf seine Glieder verbreitet.

 

»Wohin will er?« Wohin er kommen kann. Er hat aus den vorigen Zeiten gesammlet, sammlet aus den jetzigen und dringt in die folgenden Zeiten. Seine Macht ist groß, aber unsichtbar; der Verständige bemerkt und nutzt sie, dem Unweisen wird sie, meistens zu spät, nur in erfolgten Wirkungen glaubhaft.

 

»Muß der Geist der Zeit herrschen oder dienen?« Er muß beides an Stelle und Ort. Der Weise gibt ihm nach, um zu rechter Zeit ihn zu lenken; wozu aber eine sehr behutsame, sichre Hand gehöret. Indessen wird er offenbar gelenkt, nicht von der Menge, sondern von wenigen, tiefer als andre blickenden, standhaften und glücklichen Geistern. Oft leben und wirken diese in der größesten Stille; aber einer ihrer Gedanken, den der Geist der Zeiten auffaßt, bringt ein ganzes Chaos der Dinge zur Wohlgestalt und Ordnung. Glücklich sind die, denen die Vorsehung solch einen erhabnen Platz gab, in welchem Stande sie auch leben; selten wird dieser Platz durch Mühe erstrebt, selten durch lautes Geräusch angekündigt, meistens nur in Folgen bemerkt; oft müssen die großen Lenker auch viel wagen, viel leiden.

 

»Hat man Schriften über den Geist der Zeiten?« Das weiß ich nicht; am besten lernt man ihn aus Geschichten, die im Geist ihrer Zeiten geschrieben sind, und aus der Erfahrung kennen, wo eins das andre erläutert. Ohne nachdenkende Erfahrung versteht man die Bücher nicht; diese wiederum machen uns auf den lebendigen Geist der Zeiten aufmerksam. Das Rad rollet fort, ist immer dasselbe und zeigt immer eine andre Seite.

 

»Geist der Zeiten, ist er der Genius der Humanität selbst oder dessen Freund, Vorbote, Diener?« Ich wollte, daß er das erste wäre, glaube es aber nicht; das letzte hoffe ich nicht nur, sondern bin dessen fast gewiß. Daß er ein Freund, ein Vorbote, ein Diener der Humanität werde, wollen auch wir an unserm unmerklich kleinen Teile befördern.

 

16.

 

Schwerlich wird unser Freund mit der rätselhaften Auflösung seines Rätsels befriediget sein; also darf ich in einem offenern, wenn auch etwas schwereren Tone fortfahren.

 

Was Geist ist, läßt sich nicht beschreiben, nicht zeichnen, nicht malen; aber empfinden lässet es sich, es äußert sich durch Worte, Bewegungen, durch Anstreben, Kraft und Wirkung. In der sinnlichen Welt unterscheiden wir Geist vom Körper und eignen jenem alle das zu, was den Körper bis auf seine Elemente beseelet, was Leben in sich hält und Leben erwecket, Kräfte an sich zieht und Kräfte fortpflanzet. In den ältesten Sprachen also ist Geist der Ausdruck unsichtbarer strebender Gewalt, dagegen Leib, Fleisch, Körper, Leichnam entweder die Bezeichnung toter Trägheit oder einer organischen Wohnung, eines Werkzeuges, das der einwohnende Geist als ein mächtiger Künstler gebrauchet.

 

Die Zeit ist ein Gedankenbild nachfolgender, ineinander verketteter Zustände; sie ist ein Maß der Dinge nach der Folge unsrer Gedanken; die Dinge selbst sind ihr gemessener Inhalt.

 

Geist der Zeiten hieße also die Summe der Gedanken, Gesinnungen, Anstrebungen, Triebe und lebendigen Kräfte, die in einem bestimmten Fortlauf der Dinge mit gegebnen Ursachen und Wirkungen sich äußern. Die Elemente der Begebenheiten sehen wir nie; wir bemerken bloß ihre Erscheinungen und ordnen uns ihre Gestalten in einer wahrgenommenen Verbindung.

 

Wollen wir also vom Geist unsrer Zeit reden, so müssen wir erst bestimmen, was unsre Zeit sei, welchen Umfang wir ihr geben können und mögen. Auf unsrer runden Erde existieren auf einmal alle Zeiten, alle Stunden des Tages und Jahres, vielleicht auch alle Zustände des menschlichen Geschlechts; wenigstens können wir voraussetzen, daß sie existiert haben und existieren werden. Alle Modifikationen wechseln auf ihr, haben gewechselt und werden wechseln, nachdem der Strom der Begebenheiten langsamer oder schneller die Wellen treibet.

 

Wenn wir uns demnach auf Europa bezirken, so ist Europa auch nur ein Gedankenbild, das wir uns etwa nach der Lage seiner Länder, nach ihrer Ähnlichkeit, Gemeinschaft und Unterhandlung zusammenordnen. Denken wir uns das einst oder jetzt katholische oder überhaupt das christliche Europa, so ist auch in ihm nach Ländern und Situationen der Geist der Zeit sehr verschieden. Er ändert sich sogar mit Klassen der Einwohner, geschweige mit ihren Bedürfnissen, Neigungen und Einsichten. Ein einziger Umstand, eine vielleicht falsche oder übertriebene Nachricht, kurz, ein Wink und Wahn stimmt oft die Denkart und Meinung eines ganzen Volkes.

 

Wenn also unser Freund vom Geist der Zeiten als einem verständigen, scharfen, klaren Wesen sprach, so kann er damit nur die Grundsätze und Meinungen der scharfsichtigsten, verständigsten Männer gemeint haben. Sie machten sich vom Wahne des Pöbels los und lassen sich nicht nach jedem Winke lenken. So wenig ihrer hie und da sein mögen, um so fester sind sie sich selbst, um so standhafter hangen sie miteinander zusammen und bilden allerdings eine Kette im Fortgange der Zeiten. Das Lesen der Alten und Neuern, Gespräche und eine gemeinschaftliche Bemerkung dessen, was vorgegangen ist und täglich vorgeht, binden sie fest und fester aneinander; sie machen wirklich eine unsichtbare Kirche, auch wo sie nie voneinander gehört haben. Diesen Gemeingeist des aufgeklärten oder sich aufklärenden Europa auszurotten ist unmöglich; wozu wäre aber auch die unnütze Mühe? Je aufgeklärter er ist, gewiß desto weniger ist er schädlich Wo er irrt, kann er nur durch Wahrheit, nicht durch Zwang gebessert werden; denn Geist allein kann mit Geist kämpfen.

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