Die Flamme darf nie ausgehen – das hatten uns die Ausbilder während des Trainings immer wieder eingeschärft. Protokoll, Logistik und Etikette, an die wir uns zu halten hatten, glichen denen eines amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs. Jeder in dem Team, das die Flamme begleitete, musste stets pünktlich sein, ihre Botschaft und ihre Werte ganz und gar verinnerlicht haben und jederzeit eine Topleistung erbringen. Immerhin ging es hier um die Olympischen Spiele, und die würden nur dann ihrem Ideal gerecht werden und mit Hilfe des Sports eine bessere Welt schaffen können, wenn wir uns von unserer besten Seite zeigten. Es kam nicht nur darauf an, was wir taten, sondern vor allem auch, wie wir es taten – auch unter Druck professionell bleiben, sich an die Regeln halten, sich jeden Morgen rasieren, keinen Alkohol trinken und eben jederzeit pünktlich sein; wichtiger aber noch: dabei dem olympischen Geist treu bleiben. Diesen Job konnte man nicht per Autopilot erledigen, und es gab hier keinen Platz für Egos. Die olympische Flamme war der Star. Die olympischen Werte (»Höchstleistung, Freundschaft und Respekt«) waren unser Produkt.
Das Angebot, hier sechs Wochen lang mitzuarbeiten, hatte ich direkt nach meinem Studienabschluss durch reinen Zufall bekommen. Angenommen hatte ich, weil mich der Nervenkitzel reizte und die Chance auf ein unvergessliches Erlebnis (das mir noch den kleinen Extra-Thrill verschaffte, im Rathaus von Montreal eine Rede vollständig auf Französisch halten zu müssen; ich las sie von einem in Lautschrift verfassten Spickzettel ab, den ein einheimischer PR-Kollege für mich vorbereitet hatte). Die Bezahlung war eher symbolisch, und ich musste auf meiner Reise-um-die-Welt-in-sechs-Wochen in der Holzklasse fliegen, aber diese Aspekte der Arbeit störten mich nicht. Und auch sonst keinen von uns. Wir waren um der Sache willen dabei. Und der Stolz, den wir empfanden, wirkte auf alle ansteckend. Es war der beste Job, den ich je hatte.
Der olympische Fackellauf soll die Olympia-Fans zusammenschweißen und einen spannenden Vorlauf für die Eröffnung der Spiele abgeben. Aber in jenem Jahr war alles ganz besonders. Bevor die Flamme nach Athen zurückkehrte, an den Geburtsort der Olympischen Spiele und Austragungsort der Sommerspiele 2004, sollte sie in 32 früheren olympischen Gastgeberstädten Station machen, darunter Tokio, Los Angeles, Montreal, Paris, London, München und Moskau. Und die Flamme sollte zum ersten Mal in der Geschichte auf afrikanischem Boden landen und durch Kairo ziehen, eine Stadt, die erstmals in der olympischen Geschichte einen Platz bekam. Ich war einer jener Advance Press Chiefs, die im Vorfeld für die Pressearbeit verantwortlich waren. Im Morgengrauen stand ich auf, um am Flughafen von Kairo auf die gecharterte Boeing 747 zu warten, die die Flamme transportierte. Es war nicht nur meine erste Begegnung mit der Flamme und mit ihrer Entourage, zu der zwei Security-Männer gehörten, die rund um die Uhr im Einsatz waren.
Als die Flamme endlich das Flugzeug in Kairo verlassen hatte, wurde sie von Offiziellen, Teammitgliedern und VIPs begrüßt. Ein Sonderbus, der von einer schwer gesicherten Wagenkolonne begleitet und von einem Journalistenpulk verfolgt wurde, brachte die Flamme ins Stadtzentrum, wo seit Stunden die ersten Fackelläufer auf ihren Einsatz warteten. Jeder dieser Läufer hatte sich lange im Voraus auf seine fünf Minuten Ruhm bewerben müssen, und jeder von ihnen folgte einem minutiösen Zeitplan, der – bis zu dem Abstecher nach Kairo – auch penibel eingehalten worden war. Eine Stunde nach Ankunft der Flamme standen wir alle in der Mitte des Tahrir-Platzes, auf dem Zehntausende Ägypter Sprechchöre riefen und feierten und auf dem die Grenze zwischen Ordnung und Chaos sich immer mehr auflöste. Ich begegnete Fremden, redete mit Fremden, gab Fremden Anweisungen, und uns alle verband die Kraft des olympischen Feuers. Während ich mich auf die logistischen Aufgaben meines Jobs konzentrierte – nämlich Reporter, Teammitglieder und Transportfahrzeuge Kilometer für Kilometer und Aussichtspunkt für Aussichtspunkt weiterzutreiben –, konnte ich spüren, wie die Flamme sich ihren Weg durch die Menge bahnte und die Herzen der Menschen von Kairo wärmte. Meine Mahlzeiten bestanden aus Energieriegeln und Wasser, und der Schweiß lief mir über Stirn und Nacken; aber trotz alledem spürte ich den Rausch der Euphorie. Ich war dabei und gehörte dazu, war mittendrin im Leben.
Schließlich kamen die ganze Karawane und ihr Begleittross irgendwo in den Außenbezirken der Megastadt zum Halt. Im Hintergrund ragten die Pyramiden auf. Die übliche Feier am Ende eines jeden Tages begann; eine offizielle Zeremonie, bei der Vertreter der Stadt (meist der Bürgermeister), Repräsentanten des Athener Organisationskomitees und lokale Prominente auftraten.
Während das Programm begann, konnte ich sehen, wie einige Kollegen davonschlenderten, langsam aus meinem Blick gerieten und in der sich ausbreitenden Dunkelheit verschwanden, wie sie eins wurden mit den Pyramiden und den diesigen Konturen der Wüste. Im Schutze des Sonnenuntergangs bemühte ich mich, den Reden zu lauschen, aber das Spektakel nahm surreale Züge an: eine Fata Morgana aus hellerleuchteten Gesichtern, die sich in fiebrigen, unruhigen Rhythmen bewegten und unverständliche Silben hervorstießen. Da stand ich nun also, mit Sand in den Schuhen und im Mund, war umgeben von hupenden Autos, von den antiken Monumenten, der Hitze, dem Benzingeruch und der ägyptischen Polizei; ein Deutscher in Kairo, der die Spiele von Athen repräsentierte; der für eine amerikanische Firma in Denver arbeitete, die den Fackellauf produzierte – und all das vor den omnipräsenten Logos von Coca-Cola und Samsung, den beiden Hauptsponsoren.
Mit Ausnahme der Fußballweltmeisterschaft hat kein anderes sportliches Ereignis eine derart universale Anziehungskraft – und kein anderes sportliches Ereignis ist so durchkommerzialisiert. Darum wird den Olympischen Spielen oft moralischer Bankrott vorgeworfen, und ihr Image ist zumindest widersprüchlich. Aber in jenem Moment unter der ägyptischen Sonne war die olympische Idee sehr lebendig, sehr rein. Etwas Heiliges lag noch in den profansten Momenten. Niels Bohr, der legendäre dänische Quantenphysiker, sagte einmal, es sei das Kennzeichen einer großen Wahrheit, dass ihr Gegenteil ebenfalls eine große Wahrheit sei. Man könnte die Widersprüche im Herzen der Olympischen Spiele wohl kaum besser beschreiben. Die Spiele sind Business as usual, aber sie sind zugleich immer noch die romantischste Idee, das romantischste Unterfangen, das man sich nur vorstellen kann. Politische Minenfelder, harte Arbeit, Dreck, Staub und Schweiß, Markenrichtlinien, Ambush-Marketing, Sendezeiten, Talking Points, Excel-Tabellen, überteuert und überverkauft – ja, es war all das und doch so viel mehr. In der Flamme und in den Gesichtern der Ägypter, die mir begegneten, erblickte ich den olympischen Geist: die Idee, dass ein friedlicher Wettstreit es uns erlaubt, alle Möglichkeiten des Menschen zu entfesseln und als Weltbürger miteinander in Kontakt zu treten.
Die olympische Idee ist, was wir in ihr sehen und aus ihr machen. Wie bei allen wahrhaft großartigen Erfahrungen sind es gerade ihre Unzulänglichkeiten, die ihr ihre Romantik verleihen. Sie lassen unserer Vorstellungskraft Raum. Sie erwecken in uns die Sehnsucht nach mehr, eine Sehnsucht nach allem.
Geld und Sinngehalt, Kommerz und Kultur, Transaktion und Transzendenz: Diese Spannungsfelder haben mich schon immer angezogen. Mein Großvater war Filmemacher, und mein Vater leitet ein Institut für die Weiterbildung von Führungskräften. Als ich sechs Jahre alt war, habe ich mir meine eigene imaginäre Firma erschaffen und im Alter von 21 meinen eigenen Musikverlag gegründet (wobei das erste Unternehmen weit erfolgreicher war). Mit Anfang zwanzig habe ich in einer Band gespielt und zwei Alben herausgebracht, und dabei habe ich mehr über Zusammenarbeit gelernt als durch irgendeine andere Station in meiner Karriere. Ich habe sowohl Geisteswissenschaften als auch Betriebswirtschaft studiert. Als Student habe ich die Werke deutscher Philosophen gelesen; als Geschäftsmann lese ich das Wall Street Journal. Ich wollte immer Künstler werden – und wurde am Ende doch ein »Marketing-Typ«.
In der Wirtschaft habe ich dieselbe Schönheit und Intensität entdecken können, die ich verspürt habe, wenn ich mir bei einem Konzert die Seele aus dem Leib sang. Ich spiele heutzutage in keiner Band mehr und sehe mich nicht mal mehr als Musiker; meine Bühne ist das Business. Ich schreibe keine Songs mehr; ich schreibe E-Mails, Memos, Artikel, Präsentationen und Strategiepläne. In Kunden-Pitches und bei Diskussionsveranstaltungen, bei Konferenzen und Networking-Events, bei Brainstorming-Sitzungen im Team oder alleine an meinem Schreibtisch: Viele Augenblicke größter Transzendenz erlebe ich inzwischen in meiner Arbeit.
Als Marketingmanager ist die Wirtschaft für mich eines der größten Abenteuer menschlichen Handelns – wenn nicht sogar das größte. Aber ich bin nicht nur ein Mann der Wirtschaft – ich bin auch ein unverbesserlicher Romantiker. Ich glaube daran, dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn es mehr Romantik in unserem Leben gäbe. Ich glaube daran, dass die Verheißung über die Erfüllung siegt. Ich glaube daran, dass das Gefühl den Verstand schon zum Frühstück verputzt. Ich bin kein Tagträumer, Idealist oder Aktivist. Ich bin ein Business-Romantiker.
In meiner...