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E-Book

Dem Leben entfremdet

Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden

AutorArno Gruen
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783608104936
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Unser Bewusstsein und unsere Wirklichkeit sind beherrscht von ­Krisen, Hass, Exzessen und Gewalt bis hin zur Verachtung des Menschlichen. Wissenschaftliche Erkenntnisse, Technik und Informatik beeinflussen, ­beaufsichtigen, befehlen uns: Das abstrakte Bewusstsein entfremdet uns unaufhaltsam dem Leben. Das Empfinden für die Wirklichkeit und das Mitgefühl für andere Menschen werden zunehmend durch ein unnatürliches und nicht mehr menschliches Bewusstsein abgewertet und unterdrückt. So nehmen wir den Ursprung unseres selbstzerstörerischen Tuns nicht mehr wahr. Das ­empathische Bewusstsein würde es uns ermöglichen, den Weg des Lebens neu zu entdecken.

Arno Gruen, 1923 in Berlin geboren, emigrierte 1936 in die USA. Nach dem Studium der Psychologie leitete er ab 1954 die psychologische Abteilung der ersten therapeutischen Kinderklinik in Harlem. 1961 promovierte Arno Gruen als Psychoanalytiker bei Theodor Reik. Es folgten Professuren in Neurologie und Psychologie. Daneben führte er seit 1958 eine psychoanalytische Privatpraxis in Zürich, wo er seitdem lebte und praktizierte. In seinen zahlreichen Veröffentlichungen beschäftigt sich Arno Gruen mit den psychologischen Ursachen für Autoritätsgläubigkeit, Fremdenhass, Gewalt und Diktatur sowie den emotionalen Voraussetzungen für Demokratie. Für das bei Klett-Cotta erschienene Buch 'Der Fremde in uns' erhielt Arno Gruen im Jahr 2001 den Geschwister-Scholl-Preis. Am 20. Oktober 2015 verstarb Arno Gruen im Alter von 92 Jahren.

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Leseprobe

DIE SPALTUNG DES BEWUSSTSEINS:
ABSTRAKT-KOGNITIV VERSUS EMPATHISCH


Die Architektur des Bewusstseins ist nicht nur vernachlässigt worden, sie hat sich vor allem dazu entwickelt, von dem Grundgedanken des Feindlichen beherrscht zu sein. Alle anderen Bewusstseinszustände werden deshalb als naiv eingestuft und sind für das Nachdenken, das darüber hinaus greift, wertlos. Feinddenken jedoch basiert auf den frühesten Verhaltensmustern, die ausgelöst werden, wenn ein Säugling von Reizüberflutungen überwältigt wird. Er muss sich dann von seiner Umwelt zurückziehen, kann seine existenzielle Menschlichkeit nicht aufbauen, ja, dies läuft darauf hinaus, dass er seine Menschlichkeit, lange bevor er sie hat, bereits wieder verliert.

Die großen Dichter haben dies schon immer gewusst. So sagte beispielsweise der amerikanische Dichter Gary Snyder:

»Es gibt einen Geisteszustand, der von dem rein ekstatischen unterschieden werden muss, in welchem die unmittelbarsten und persönlichsten Wahrnehmungen mit den archetypischen und rituellen Beziehungen der menschlichen Gesellschaft zum Weltall verschmelzen. Dichtung, die daraus gemacht ist, ist nicht ›automatisch‹, sie ist jedoch häufig mühelos, und sie schließt das Vergnügen eines gelegentlichen geistigen Einfallsreichtums und der Anspielungen nicht aus. Meine besten Gedichte fließen aus einem solchen Zustand …«157

Die Architektur des Bewusstseins, die aus einem solchen Zustand entsteht, basiert auf Annäherung und nicht auf Rückzug. Sie gründet auf Zuwendung zu anderen Menschen, auf einem unmittelbaren und weit verzweigten Gefühl für die Person und ihre Menschlichkeit, und eben nicht auf Rückzug und Feinddenken.

Viele Anthropologen haben das Denken und Fühlen von Völkern beschrieben, die von unserer Zivilisation unberührt bleiben konnten. Sie berücksichtigten jedoch die grundsätzlichen Unterschiede im Bewusstsein nicht, die durchaus vorkommen und die zum wachsenden oder verendenden Aufbau der Empathie führen. Diamond und Sorensen kommen dieser Erkenntnis als eine der wenigen nahe. Sorensen beobachtete auch den Zusammenprall der beiden Bewusstseinsformen – empathiefähig, nicht empathiefähig – und ihre Unvereinbarkeit.158

Auf der Basis seiner jahrelangen Studien beschreibt er das Bewusstsein der sogenannten Primitiven, also von Völkern, die von unserer Zivilisation unberührt sind. Annäherung, Hinwendung und ein integriertes Vertrauen sind die wichtigsten Säulen, worauf das Bewusstsein dieser Menschen aufbaut. Dies beginnt schon bei der Kinder- und Säuglingspflege, in der ein Kleinkind in andauerndem Körperkontakt mit der Mutter oder ihren Freunden bleibt. Die Babys reagieren auf diese empathisch-taktile Stimulation mit eigenen taktilen Antworten. Sie müssen nicht schreien oder wimmern, um mit ihrer Umwelt zu interagieren. Vielmehr entsteht auf diese Weise eine hochentwickelte präverbale Kommunikation, eine Art der Bewusstheit, wie wir sie gar nicht kennen.

Unter diesen Umständen tritt auch keine Geschwisterrivalität auf: »Wenn Nahrung, Komfort und Stimulation dauernd vorhanden sind, müssen die Kleinkinder nicht hilflos warten, bis ihre Bedürfnisse erfüllt werden,« so Sorenson dazu. Kein emotionales Bedürfnis, das sich für seine Befriedigung auf abstrakte Erwartungen der Eltern fokussieren muss, entwickelt sich. Das Bewusstsein, das sich hier entwickelt, unterscheidet sich von unserem verengten Zivilisationsbewusstsein ganz grundsätzlich. Abstrakte Erwartungen, die bei uns dafür sorgen, dass die Bewusstseinsentwicklung auseinanderklafft und die Totalität einer ganz anderen Stimulussituation von Geburt an, sind dafür verantwortlich. Ein Säugling macht bei uns ›enge‹ Lernerfahrungen, die stark mit der Totalität der Stimuluswerte verknüpft sind, die in dem Beziehungsgefüge zwischen dem Säugling und seiner Umwelt herrschen.

Um die Welt empathisch zu erproben, muss es dem Säugling möglich sein, sich seiner Umwelt zuzuwenden. Nur wenn seine Beziehung zur stimulierenden Umwelt durch niedrige Intensitätswerte gekennzeichnet ist, kann dies geschehen. Schneirla zeigte, dass eine zweigabelige organische Basis für die emotionelle Sinnesstimulation schon bei der Geburt existiert.159 Niedrige Stimulusintensitäten lösen Reaktionen der Annäherung aus; hohe bewirken dagegen das Zurückziehen. Die niedrigen Stimuli fördern die Entwicklung der empathischen Vorgänge, vorausgesetzt Säugling und Mutter wenden sich in voller Empathie einander zu. Das entgegenkommende Verhalten der Mutter garantiert dem Kind, dass es nicht von einem Übermaß an Stimulation überwältigt wird.

In einer Studie zur Reizverminderung wies J. L. Fuller nach: Ein Lebewesen kann nichts lernen, wenn es störende Elemente nicht ausblenden und sich folglich nicht auf die essentiellen Bestandteile einer Stimulussituation konzentrieren kann.160 Eine Mutter, die ihr Kind intuitiv vor Reizüberflutung beschützt, legt so in ihm den Grundstock, aus seinem eigenen Selbst heraus lernen zu können. Das Eigene bedeutet hier immer die empathische Wahrnehmung. Diese verschwindet jedoch, wenn sich das Kind durch eine andauernde Reizüberflutung hilflos fühlt. Wird es mit Stimulusintensitäten überhäuft, ist es zum Rückzug gezwungen.

Dieser frühe Impuls zum Rückzug bewirkt eine Bewusstseinsentwicklung, die vom Feinddenken geprägt ist und das Empathische unterdrückt. Die organische strukturelle Grundlage dafür wurde von Weaver161 und Welch162 sehr klar belegt. Weaver und seine Mitarbeiter zeigten, dass das Stress-Reaktions-Gen NGF1-7A nicht ausgeschüttet werden kann, wenn die mütterliche Zuwendung ungenügend ist. Martha Welch wies nach, dass das Anti-Stress-Neuropeptid Secretin ebenfalls nicht ausgeschüttet wird, wenn ein Kind keine mütterliche Zuwendung erhält. Wut, Hilflosigkeit und verhinderte oder unterdrückte empathische Entwicklung sind das Resultat.

Das Bewusstsein des Kindes wird dann von Erfahrungen beherrscht, in denen es sich hilflos gefühlt hat. In der Folge zweifeln Kinder an sich selbst, beginnen die Suche nach dem Verlorenen, oder sie verdrängen ihre Hilflosigkeit und spalten ihr Ausgeliefertsein vom Bewusstsein ab. Das heißt dann, dass alles, was im Zustand der Hilflosigkeit erlebt wurde, ausgeschaltet wird: Angst, Leid und Empathie – all die Emotionen, die den Menschen zum Menschen machen. Das verbleibende Bewusstsein erhält diese Spaltung aufrecht, indem es Hilflosigkeit mit einer inneren Ablehnung, die bis hin zum Hass gehen kann, verbindet.

Dieser Prozess macht die Hilflosigkeit generell zu dem, was einen bedroht, und verdrängt die Situation, die sie verursacht hat. In diesem Bewusstsein rächt man sich dauernd an allem, was die eigene Hilflosigkeit hervorrufen könnte. Und sie wird verachtet. Diese Verachtung und die dahinter liegende verneinte eigene Angst fördern die Notwendigkeit einer kompensierenden Ideologie, die auf den Pfeilern Macht und Herrschaft fußt. Und so treten Opfer auf die Seite ihrer Unterdrücker, um neue Opfer zu finden; ein endloser Prozess, durch den ein Bewusstsein geschaffen wird, das den Menschen entmenschlicht. Ein unablässiger Drang nach Herrschaft, Erfolg und Leistung tritt an die Stelle der Menschlichkeit und schafft ein Bewusstsein, das auf abstrakten Formeln wie Wachstum, Größe und Profit basiert. Das Verheerende ist dabei oft, dass dieses Bewusstsein empathisches Mitfühlen nachahmt. Dann werden große Reden über Menschlichkeit und Empathie geschwungen, die leider nur Lippenbekenntnisse bleiben, wenn im Namen des Fortschritts doch alles andere als empathisch gehandelt wird. Und so werden Güte und Anteilnahme missbraucht, um andere Menschen in einem Abhängigkeitsverhältnis zu halten.

Die Unterdrückten identifizieren sich mit den Herrschenden, von denen sie sich die Milderung des eigenen Leidens erhoffen, und die Herrschenden spielen damit. Die Identifizierung mit ihren Unterdrückern, die ihre Entstehung den ungleichen Machtverhältnissen zwischen Kind und Eltern in unserer Kultur verdankt, ist ein Aspekt eines abstrakten kognitiven Bewusstseins, welches aus dieser Unverhältnismäßigkeit entsteht.

Wie grundsätzlich anders müssen die Voraussetzungen sein, wenn auf Kinder eingegangen wird, wenn Säuglinge und Kleinkinder andauernden körperlichen Kontakt mit ihren Müttern oder deren Freunden erleben, wie dies bei den ›primitiven‹ Völkern der Fall ist. Sie werden auf dem Schoß gehalten, wenn ihre Mütter sitzen, auf der Hüfte, unter dem Arm, gegen den Rücken oder auf die Schultern platziert, wenn die Mutter steht. Die Babys werden nie hingelegt, auch nicht während des Kochens, oder wenn schwere Lasten zurechtgerückt werden. Da ist immer ein Platz für das Kind am Körper der bemutternden Person. So müssen die Kinder nie ohne Körperkontakt auskommen.

Sorensen beschreibt dies für Völker in der Central Range von Neuguinea, Jean Liedloff für die Yequena in der Region des venezolanischen Flusses Caroni163. Der körperliche Kontakt wird hier zu einer Körpersprache, die, weil sie auf unmittelbarer Berührung basiert, eine Sprache der direkt erlebten Wahrheit ist. Wenn Kinder in diesen Kulturen später verbale Sprache entwickeln, werden ihre Worte immer vollständig wahrgenommen und nie als Kindersprache verniedlicht und damit abgetan. »Baby talk« kennen diese Völker überhaupt nicht.164 Dieser ist eine Verniedlichung der Sprache des Kindes und ein Ausdruck dafür, dass das von Kleinkindern Gesagte nicht ernst genommen wird. Wir in unserer Kultur degradieren unsere Kinder durch diese scheinbar nette und liebende Art, mit...

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