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E-Book

In der Bar zum Krokodil

Lieder und Songs als Gedichte

AutorDirk von Petersdorff
VerlagWallstein Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl113 Seiten
ISBN9783835340916
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Wenn Bob Dylan den Literaturnobelpreis erhält, dann kommt dieses Buch zur richtigen Zeit. Dirk von Petersdorff liest Lieder und Songs als Gedichte. Sie sind »leicht« und »einfach«, wie schon Herder feststellte, gehen aus der »reichen und für alle fühlbaren Natur hervor« und verbinden Sprache und Musik. Lieder und Songs sind in Lebensvollzüge eingebunden, und gerade in ihrer Einfachheit können sie komplizierte Gefühlszustände ausdrücken. Dirk von Petersdorff untersucht drei Phasen der Geschichte des Lieds: Die Romantik von Clemens Brentanos Erfindungen alter Lieder bis zu Heinrich Heines Selbstparodien; die 1920er Jahre mit dem Witz der Comedian Harmonists, den Liebesexperimenten Marlene Dietrichs und den vielen Stimmen der Dreigroschenoper; die Gegenwart seit den 1970er Jahren von Udo Lindenbergs Wiedereinsatz, über die skeptischen Songs von Tocotronic bis zu den Erkundungen eines ungesicherten Ich bei Sven Regener, Judith Holofernes oder im Rap. Immer geht es um die Form von Liedern, also um ihre Rhythmik oder den Einsatz von Reimen, aber ebenso um den historischen Zusammenhang, in dem sie entstehen. Der Lyriker und Literaturwissenschaftler zeigt, dass die Songwriter selbst ein Bewusstsein von der Geschichte des Lieds besitzen, dass sie um ihre Vorläufer wissen und deren Lieder weitersingen.

Dirk von Petersdorff, geb. 1966, Lyriker und Literaturwissenschaftler.

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Leseprobe

Clemens Brentanos Mixtechnik


Die große Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn erschien 1805 und 1808 in drei Bänden. Die Herausgeber Clemens Brentano und Achim von Arnim gaben ihr den Untertitel Alte deutsche Lieder, und damit ist ihr Programm benannt, denn sie behaupteten, verstreute Lieder aus vergangenen Jahrhunderten zusammenzutragen. Im zweiten Band des Wunderhorn steht das Lied Laß rauschen Lieb, laß rauschen, das den eingeklammerten Zusatz »mündlich« enthält. Es soll sich damit um ein Lied handeln, das aus der mündlichen Überlieferung stammt und beim Hören aufgezeichnet wurde, im Rahmen einer Feldforschung sozusagen:

LASS RAUSCHEN LIEB, LASS RAUSCHEN
(Mündlich.)

Ich hört ein Sichlein rauschen,

Wohl rauschen durch das Korn,

Ich hört ein Mägdlein klagen,

Sie hätt ihr Lieb verlorn.

Laß rauschen Lieb, laß rauschen,

Ich acht nicht, wie es geht,

Ich thät mein Lieb vertauschen

In Veilchen und im Klee.

Du hast ein Mägdlein worben

In Veilchen und im Klee,

So steh ich hier alleine,

Thut meinem Herzen weh.

Ich hör ein Hirschlein rauschen

Wohl rauschen durch den Wald,

Ich hör mein Lieb sich klagen,

Die Lieb verrauscht so bald.

Laß rauschen, Lieb, laß rauschen,

Ich weiß nicht, wie mir wird,

Die Bächlein immer rauschen,

Und keines sich verirrt.[19]

Wenn das Lied beim ersten Lesen wie aus einem Guss wirkt, dann spricht dies für das literarische Geschick Clemens Brentanos, der es bearbeitet hat, wobei statt von Bearbeitung auch von Erfindung die Rede sein könnte. Denn fragt man nach den zugrunde liegenden Quellen und zerlegt den Text in seine Bestandteile, dann ergibt sich eine angesichts der Kürze erstaunliche Heterogenität. Dem Lied liegen drei verschiedene Quellen zugrunde, und die letzte Strophe hat Brentano selber geschrieben. Markiert man das graphisch, dann sieht das Ganze so aus:

LASS RAUSCHEN LIEB, LASS RAUSCHEN
(Mündlich.)

Q1       Ich hört ein Sichlein rauschen,
    Wohl rauschen durch das Korn,
    Ich hört ein Mägdlein klagen,
    Sie hätt ihr Lieb verlorn.

 

Q2       Laß rauschen, Lieb, laß rauschen,
    Ich acht nicht, wie es geht,
    Ich thät mein Lieb vertauschen
    In Veilchen und im Klee.

 

            Du hast ein Mägdlein worben
In Veilchen und im Klee,
So steh ich hier alleine,
Thut meinem Herzen weh.

 

(q)       Ich hör ein Hirschlein rauschen
    Wohl rauschen durch den Wald,
    Ich hör mein Lieb sich klagen,
    Die Lieb verrauscht so bald.

 

B         Laß rauschen, Lieb, laß rauschen,
    Ich weiß nicht, wie mir wird,
    Die Bächlein immer rauschen,
    Und keines sich verirrt.

 

Zu den einzelnen Quellen: Die erste Strophe stammt aus der Sammlung Miscellaneen zur Geschichte der deutschen Literatur (Q1), herausgegeben von Bernhard Josef Docen, hier aus dem ersten Band, der 1807, also direkt vor dem zweiten Band des Wunderhorn erschienen war. Der Herausgeber war an der Münchener Staatsbibliothek tätig und ein wichtiger Vermittler mittelalterlicher Handschriften. In Docens Sammlung finden sich Textproben sogenannter ›Grassliedlin‹ von 1535.[20] Docen druckt mehrere Eingangsstrophen dieser Lieder, und Brentano übernimmt eine von ihnen und gibt ihr auch in ›seinem‹ Gedicht die Position der Eingangsstrophe. Die zweite Quelle ist ein Liederheft aus dem 16. Jahrhundert von Wolfgang Schmeltzel mit dem Titel Guter / seltzamber / und künstreicher teutscher Gesang (Q2). Hieraus wird das letzte Lied verwendet, das dort ohne Strophenunterteilung steht und nun die Strophen zwei und drei bildet. Die Quelle der vierten Strophe ist nicht eindeutig zu bestimmen. Die Strophe »Ich hör ein Hirschlein rauschen« findet sich in einer Handschrift von unbekannter Hand, die zum Material gehört, das die Herausgeber für das Wunderhorn zusammentrugen. Diese Strophe ist dort Teil eines Gedichts mit dem Titel Erinnerung beym Wein, das an anderer Stelle des Wunderhorn vollständig abgedruckt ist.[21] Für das Lied Laß rauschen Lieb, laß rauschen wählte man daraus diese eine Strophe.

 

Abb. 2: Titelblatt von Des Knaben Wunderhorn, Band 2, 1808.

 

Was veranlasste die Zusammenstellung aus verschiedenen Quellen? Es ist das Wort »rauschen« am Ende des ersten Verses. Man kann es sich so vorstellen, dass die zweite und dritte Strophe, also Q2, den Ausgangspunkt bildeten; dass Brentano danach die Parallele zur Eingangsstrophe der ›Grassliedlin‹ auffiel, die ebenfalls mit dem Wort »rauschen« endete. Sodann fand er in einem anderen Manuskript für das Wunderhorn eine weitere Strophe mit dem Wort »rauschen« in der Schlussposition des Eröffnungsverses und integrierte sie in das Lied. Schließlich verfasste er eine Schluss-Strophe, in der er den Vers »Lass rauschen Lieb, lass rauschen« als ganzen wiederholte und damit das Lied strukturell noch stärker zusammenband.

Damit aber die Kontamination gelang, das Lied bruchlos wirkte und die Verschiedenheit der Vorlagen nicht mehr auffiel, mussten in den einzelnen Strophen Umarbeitungen vorgenommen werden. In Q1, in den ›Grassliedlin‹, heißt es statt »Sichlein« noch »Sichellin« und statt »hört ein Mägdlein« steht dort »hort ein feine Magd«:

 

Q1       Ich hört ein Sichellin rauschen,
Wohl rauschen durch das Korn,
Ich hort ein feine Magd klagen,
Sie hätt ihr Lieb verlorn.

 

W        Ich hört ein Sichlein rauschen,
Wohl rauschen durch das Korn,
Ich hört ein Mägdlein klagen,
Sie hätt ihr Lieb verlorn.

 

Die Bearbeitungen erklären sich zum einen aus der Anpassung des alten Wortmaterials an den gegenwärtigen Sprachstand, wichtiger ist aber noch die metrische Regulierung. Das Lied wird jetzt gleichmäßig alternierend gestaltet. Wo im alten Eingangsvers »Ich hört ein Sichellin rauschen« eine doppelte Senkung stand, weist die Wunderhorn-Fassung »Ich hört ein Sichlein rauschen« den Wechsel von Hebung und Senkung auf. (Für Metrik-Interessierte: Die frühneuzeitliche Vorlage ist noch nicht von der Versreform des 17. Jahrhunderts betroffen, in der Martin Opitz mit seinem Buch von der deutschen Poeterey die gleichmäßige Alternation, also den Wechsel von betonten und unbetonten Silben, zur Norm erhob.)

Auch an anderen Stellen schlagen Brentanos Bearbeitungen auf die Struktur des Gedichts durch. Indem er in der zweiten Strophe einen Vers ändert, fügt er gleichzeitig einen Reim hinzu:

 

Q2       LA rauschen Lieb, la rauschen,
ich acht nit, wie es geht,
ich hab mir ein pulen erworben / erworben
in feiel vnd grünen klee.

 

W        Laß rauschen Lieb, laß rauschen,
Ich acht nicht, wie es geht,
Ich thät mein Lieb vertauschen
In Veilchen und im Klee.

 

Er ersetzt den Vers »ich hab mir ein pulen [Geliebten] erworben / erworben« durch »ich thät mein Lieb vertauschen«. Man kann fragen, ob man in der artifiziell-witzigen Formulierung, dass man seinen Liebhaber vertauscht, nicht auch den modernen Autor durchhört – auf jeden Fall wird so die Klanglichkeit des Texts erhöht. Die gleiche Strategie, Verstärkung der Musikalität, zeigt sich, wenn in der vierten Strophe, die ja im Wunderhorn noch einmal an anderer Stelle auftaucht, gegenüber der handschriftlichen Vorlage das Wort »verrauschen« eingesetzt wird:

 

(q)       Ich hör ein Hirschlein rauschen
Wohl rauschen durch den Wald;
Ich hör ein feines Lieb klagen,
Klagen, es hätt’ die Ehr verloren.

 

W        Ich hör ein Hirschlein rauschen
Wohl rauschen durch den Wald,
Ich hör mein Lieb sich klagen,
Die Lieb verrauscht so bald.

 

Wenn schließlich die von Brentano selbst geschriebene Schluss-Strophe noch zweimal das Wort »rauschen« enthält, dann wirkt der Wiederholungs- und Reimeffekt so dicht, dass dem Leser der Kopf rauschen dürfte. Das ist auch gewollt, denn das Lied spricht von einem Zustand der Verwirrung, in den Menschen aufgrund ihrer wechselnden Liebesbeziehungen geraten. Dabei ist nicht klar zu erkennen, wer in den jeweiligen Strophen spricht, nicht einmal ob es Mann oder...

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