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E-Book

Die andere Geschichte der Bibel

Fakt und Fiktion in der Heiligen Schrift

AutorRobin Lane Fox
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl608 Seiten
ISBN9783608115796
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Mit Scharfsinn und überraschenden Einsichten klärt Robin Lane Fox Fragen, auf die die Bibel bewusst die Antwort verweigert: Wer waren die Autoren der Heiligen Schrift, wie ist sie entstanden, und welche historischen Fakten lassen sich in ihr finden? Ein informatives und zugleich höchst anregendes Buch, das die historische Wahrheit ebenso wie die Erzählkunst der Heiligen Schrift entschlüsselt. In seinem fesselnd geschriebenen Buch fragt Robin Lane Fox nach dem Wahrheitsgehalt der biblischen Texte. Dabei unterzieht er das meistgelesene Buch aller Zeiten, das unsere abendländische Kultur tief beeinflusst hat, einer genauen historischen und sprachlichen Untersuchung. Er verknüpft auf meisterhafte Weise die religiösen Inhalte mit der Geschichte von Kultur, Politik und Gesellschaft. Vor allem aber zielt seine Darstellung auf die erstaunliche Vielfalt der Texte selbst: Der Leser erfährt, wann und wo die biblischen Erzählungen entstanden, welche Bedeutung sie für die Zeitgenossen hatten, und wie die unterschiedlichen Darstellungen desselben Geschehens zu erklären sind. Das fulminante und klug argumentierende Buch eines Historikers, der uns die biblischen Texte neu erschließt.

Robin Lane Fox, geboren 1946, ging in Eton zur Schule und studierte Alte Geschichte und Altertumswissenschaften an der Universität Oxford, wo er bis 2014 am New College lehrte. Für seine bei Klett-Cotta erschienene Biographie über Alexander den Großen ist er mit dem angesehenen Duff-Cooper-Preis ausgezeichnet worden. Für »Augustinus« wurde er 2016 mit dem Wolfson History Prize geehrt. 2018 erschien der Spiegel-Bestseller »Der englische Gärtner. Leben und Arbeiten im Garten«.

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Leseprobe

1

Wie es war im Anfang


I


Im Johannesevangelium sagt Jesus zu Pilatus: »Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.« Pilatus fragt: »Was ist Wahrheit?« Er erhält keine Antwort.

Es ist die letzte von vier Fragen, die von Jesus nicht direkt beantwortet werden.1 Diskontinuierliche Dialoge, bei denen die Gesprächspartner nicht auf die Worte des anderen eingehen, kennen wir aus dem modernen Theater. Die Unterhaltung zwischen Pilatus und Jesus ist trotz der tiefen Kluft zwischen den beiden allerdings andersgeartet. Pilatus versucht dreimal, eine klare Antwort zu bekommen. Jesus jedoch antwortet mit einer Gegenfrage und bestimmt so das Gespräch, das mit einer direkten Frage nach dem König der Juden beginnt und mit einer allgemeinen Frage nach der Wahrheit endet. »Pilatus erwartet auf seine spöttische Frage keine Antwort«, schreibt Francis Bacon. Nach Augustinus war Pilatus in Gedanken schon bei dem Brauch der Juden,2 zum Passahfest einen Gefangenen freizulassen, und Pilatus schlägt den versammelten Juden dann auch die Freilassung Jesu vor. Doch seine Frage ist nicht spöttisch gemeint, sie bezieht sich auf seine eigene Zwangslage. Pilatus stellt sie jemandem, der sich selbst als die Wahrheit bezeichnet hat (Joh 14,6). Obwohl der Statthalter der Wahrheit gegenübersteht, geht er zu den Juden hinaus und gibt ihrer falschen Forderung nach, Jesus zu verurteilen.

Pilatus’ Frage nach der Wahrheit beschäftigt uns, aber sie selbst ist nicht »wahr«. Sie ist sicher nie so gestellt worden. Zum einen nahm an dem Gespräch vermutlich eine dritte Person teil: Pilatus sprach weder hebräisch noch aramäisch, Jesus höchstwahrscheinlich kein Griechisch.3 Also musste wahrscheinlich ein Dolmetscher hinzugezogen werden, auch wenn dies in den Evangelien nicht erwähnt wird. Zum anderen geben die Evangelisten die Szene unterschiedlich wieder. Weder der unbekannte Dolmetscher noch Jesus selbst überlieferte ihnen den exakten Wortlaut. Die Worte, die Johannes, der vierte Evangelist, Jesus und Pilatus in den Mund legt, sind seine eigene Erfindung.

Auf die letzte Frage des Pilatus, die Frage nach der Wahrheit, wurden seither viele Antworten gegeben, und sie ist noch lange nicht gelöst. Die Ausführungen der Philosophen, die stets großen Scharfsinn auf sie verwendet haben, basieren jedoch im Allgemeinen noch immer auf einem der beiden folgenden Ansätze: Gemäß der Korrespondenztheorie besteht die Wahrheit in der Übereinstimmung mit den Fakten, gemäß der Kohärenztheorie in der Übereinstimmung mit einem allgemeinen System von Überzeugungen.4

Ich möchte die Frage des Pilatus aufnehmen und sie an die Bibel stellen. Zunächst werde ich mich mit der Ansicht auseinandersetzen, dass schon das Wesen und der Ursprung der Bibel allein ihr eine Kohärenz verleihen, die die Frage nach der Wahrheit beantwortet. Danach werde ich untersuchen, inwiefern ihre Texte mit den Fakten übereinstimmen.

Analysen liefern keine vollständigen Antworten. Dies gilt besonders bei so unterschiedlichen Texten, wie sie in der Bibel gesammelt sind. Vielen würde man keineswegs gerecht werden, wenn man sie nur auf die Fakten hin untersuchte: Dazu gehören beispielsweise die Psalmen, das Buch der Sprichwörter, das Buch Ijob (Hiob), Kohelet oder Teile der neutestamentlichen Briefe. Wir finden dort, wie Matthew Arnold es ausgedrückt hat, »Worte für eine großartige Wirklichkeit, die der Autor nicht annähernd erfasste, die uns aber dennoch mit unbeschreiblicher Kraft in ihren Bann ziehen«. Diese Worte beziehen sich nicht auf die faktische Wahrheit: »Die Bibel ist Literatur. Sie besteht aus Worten, die wie die Worte im täglichen Leben, der Poesie und der Redekunst verwendet werden, nämlich approximativ, und nicht adäquat wie wissenschaftliche Begriffe.«5 Die biblischen Texte können uns noch immer mit »unbeschreiblicher Kraft« berühren, doch sind die Gründe dafür nicht offensichtlich. Gibt es eine »großartige Wirklichkeit«, die sie zu vermitteln suchen? Oder verstehen wir das, was sie sagen, dadurch, wie sie es sagen? Und weil wir als Menschen an dem teilhaben können, was sie in Worte fassen?

Für viele Menschen ist eine Antwort darauf im Glauben und nicht in faktischer Wahrheit begründet. Aber auch unabhängig davon wäre es unsinnig, diese Teile der Bibel wörtlich zu nehmen und jeden Satz danach zu beurteilen, ob er wahr oder nicht wahr ist, ohne auf seine Metaphorik und seine dichterische Sprache einzugehen.

Die Bibel besteht allerdings nicht nur aus solchen Texten. Sie bezieht sich auch auf Ereignisse und Personen in der Zeit vom Ursprung der Welt bis zu ihrem nahe bevorstehenden Ende. Auch hier wird das Erzählte oft interpretiert und durch eine literarische Sprache umschrieben. Es wird jedoch auch dargestellt, Bezug auf die historische Wirklichkeit genommen und prophezeit. Und hier stellt sich die Frage nach der Wahrheit. Ich möchte die Bibel als Historiker untersuchen, der es gewohnt ist, schriftlichen Zeugnissen aus der fernen Vergangenheit die Frage des Pilatus zu stellen.

Die hebräische Bibel, das Alte Testament der Christen, beginnt mit der Erschaffung der Welt. Zwei Evangelien des Neuen Testaments beginnen mit der Geburt Jesu. Diese Anfänge haben ihre eigene reiche Geschichte, eine Geschichte ihrer Ursprünge sowie eine der unterschiedlichen Interpretationen durch Künstler und Leser. Heute muss man diese Texte den Erkenntnissen der Naturwissenschaften gegenüberstellen, die der Vorstellung einer jungfräulichen Geburt oder einer Erschaffung der Welt in nur sechs Tagen widersprechen. Aber auch schon ohne dieses Wissen hatten sich Historiker und aufmerksame Leser mit den Texten befasst und sie auf die beiden Säulen der Wahrheit hin untersucht: Kohärenz innerhalb der Erzählung und Korrespondenz mit den äußeren Fakten.

II


Die Bibel beginnt mit zwei Schöpfungsgeschichten. In Genesis 1,1 bis 2,4 erschafft Gott die Welt in sechs Tagen und ruht am siebten Tag. Mit seinem Wort scheidet er das Licht von der Finsternis und den Himmel von der Erde. Gras und Bäume wachsen; Sonne, Mond und Sterne leuchten; Vögel und große Seetiere beginnen, sich zu vermehren; das Land bringt Vieh und Kriechtiere hervor; zuletzt schafft Gott die Menschen als sein Abbild, als Mann und Frau. Sie sollen fruchtbar sein und sich vermehren, über die Tiere des Landes, Fische und Vögel herrschen und von allen Pflanzen, Früchten und Bäumen der Erde essen. Die Menschen der ersten Schöpfung sind Vegetarier und bleiben es bis zu Gottes Befehlen an Noach in Genesis 9,1–3.

Der Text gibt keine genaue Auskunft darüber, wie Gott all dies schuf. Geheimnisvoll wie Gott selbst, schreitet die Erzählung von der Trennung von Licht und Finsternis zur Erschaffung der Sterne voran, führt von dem »Geist«, der in der Leere über dem Wasser schwebt, zur Erschaffung des Menschen als Gottes Abbild. Die hebräische Bedeutung dieser Sätze ist noch immer nicht ganz geklärt; vielleicht waren sie noch nie, nicht einmal für den Verfasser, eindeutig. Schon hier sehen wir uns mit einer approximativen Sprache konfrontiert, die die »großartige Wirklichkeit« wiedergeben soll. Der »Geist« beispielsweise könnte ein Wind sein, nicht eine über der Leere schwebende unsichtbare Erscheinung. Späteren Gelehrten zufolge gleicht seine Bewegung so gut wie sicher dem Schlagen von Flügeln, obwohl er selbst keine Flügel besitzt. Er ist eine bewegliche, unsichtbare Kraft, die wir uns sanft oder ungestüm vorstellen dürfen. Ich denke ihn mir als unberechenbare Bö, die durch die Leere braust und sich dann kurz legt, ein Wind, der Türen hin- und herschwingen lässt und den Sand aufwirbelt.

Wohl im Unterschied zu dem Verfasser des Textes können wir den ersten Vers der Bibel auf zwei Arten lesen: als unabhängigen Satz (»Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde«) oder als Satzteil, der den folgenden beiden Sätzen untergeordnet ist (»Im Anfang von Gottes Schöpfung … war die Erde wüst und wirr«). Aufgrund sprachlicher Kriterien lässt sich die Alternative nicht entscheiden. Gab es das Chaos schon, als Gott sich an die Arbeit machte, oder schuf er, wie allgemein angenommen wird, auch das Chaos? Was genau bedeutet das hebräische Wort für »schaffen«? Auch die Darstellung des zweiten Tages ...

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