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Die Wahrheit vor Gericht

Wie sie gefunden und geschunden, erkämpft und erkauft wird

AutorKlaus Volk
VerlagC. Bertelsmann
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783641114572
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Auf der Suche nach der Wahrheit - ein Staranwalt
erzählt von spektakulären
Rechtsfällen

Geht es in Prozessen und bei der Urteilsfindung um die Wahrheit? Eine nur auf den ersten Blick erstaunliche Frage, zumal aus der Feder eines bekannten Strafverteidigers. Jetzt zeigt er anhand zahlreicher Beispiele, dass der Augenschein häufig trügt, dass sich zunächst oft nur die halbe Wahrheit enthüllt. Was aber ist überhaupt Wahrheit und wie verhält sie sich zur Gerechtigkeit?

Ist ein Geständnis mehr wert als ein Indizienbeweis? Sind abgesprochene Urteile noch wahr genug, um gerecht zu sein? Warum darf man sich der Wirklichkeit nicht auf jede Weise nähern? Wie beschwerlich und mitunter gefahrvoll diese Wahrheitssuche sein kann, worin der Gerichtssaal manchmal einer Theaterbühne gleicht und warum es kaum etwas Spannenderes gibt als einen Strafprozess, davon erzählt Volk anhand von Fallgeschichten aus seiner Praxis.

Klaus Volk, geboren 1944, emeritierter Rechtsprofessor an der Universität München, ist einer der bekanntesten deutschen Strafverteidiger. Zu seinen prominentesten Klienten gehören Josef Ackermann, den er im Mannesmann-Prozess erfolgreich vertrat, Boris Becker, den er in einem Verfahren gegen die Anklage der Steuerhinterziehung verteidigte, sowie Ex-Siemens-Chef Klaus Kleinfeld.

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Leseprobe

Kapitel 1:
Wo steht geschrieben, was Wahrheit ist?

Die Antwort auf diese Frage kann nur eine Gegenfrage sein: Warum wollen Sie das wissen, welche Wahrheit suchen Sie denn? Die »absolute«, von allen Zielen und Interessen, Bedürfnissen und Situationen gelöste Wahrheit gibt es nicht. Wir suchen die Wahrheit vor Gericht, genauer gesagt, die Wahrheit als Ziel strafrechtlicher Ermittlungen und als Grundlage eines Strafurteils. In den Gesetzen dazu kommt der Begriff »Wahrheit« nicht vor. Wir müssen uns also auf eine Entdeckungsreise machen.

Die halbe Wahrheit

Die Mutter ließ das Baby einfach schreien. Es schrie sehr viel, nachts vor allem, wenn Amaru lernen wollte.

Amaru war vor einem Jahr aus Nigeria nach München gekommen und studierte Elektrotechnik. Ein Zahnarztehepaar hatte ihn aufgenommen. Sie bewohnten ein Haus in Harlaching, einem vornehmen Viertel. Dort logierte Amaru in einem Dachzimmer. Bezahlen musste er nichts dafür. Anfangs fühlte er sich ganz wohl, obwohl es gar nicht städtisch war in dieser Gegend und deshalb ein bisschen langweilig. Aber ruhig war es, sehr ruhig. Wenn nur dieses Geschrei nicht gewesen wäre! Eines Nachts, als das Kind endlich einmal schlief, schlich er sich ins Kinderzimmer und erstickte das Baby mit einem Kissen.

»Brutaler Kindermord in München!«, schrieben die Gazetten. »Der Schwarzafrikaner Amaru N. erstickte das Baby des Zahnarztehepaars Dr. B. heimtückisch mit einem Kissen. Er durfte in ihrer noblen Villa umsonst wohnen und missbrauchte ihre Gastfreundschaft auf entsetzliche Weise. Die verzweifelte Mutter: ›Nur, weil es ihn gestört hat, dass mein Baby manchmal geschrien hat!‹ Sie will Gerechtigkeit. In Nigeria würde ihm die Todesstrafe drohen. Bei uns könnte er nur lebenslänglich bekommen.«

Zwei Polizisten führten Amaru durch die langen Gänge des Polizeipräsidiums in das Vernehmungszimmer der Mordkommission. Er gestand sofort, dass er das Baby umgebracht hatte. Dabei musste er weinen, aber das machte natürlich keinen Eindruck. Der Kommissar verkniff sich immerhin die Bemerkung, dass es jetzt für Reue zu spät sei. Amaru fühlte sich erleichtert, nachdem er alles erzählt hatte. Der Kommissar aber sagte, dass er ihn jetzt zum Ermittlungsrichter bringen werde, wo er sein Geständnis wiederholen sollte. Amaru traute sich nicht zu fragen, weshalb er noch einmal eine Vernehmung über sich ergehen lassen müsse. Er konnte nicht wissen, dass nur Geständnisprotokolle, die ein Richter aufgenommen hat, später im Prozess verlesen werden dürfen. Es könnte ja sein, dass der Angeklagte dann schweigt oder sein Geständnis widerruft.

Amaru kam in Untersuchungshaft, was immer der Fall ist, wenn der dringende Verdacht von Mord oder Totschlag besteht. Dieser Haftgrund erinnert fatal an einen, den es in den Zeiten des nationalsozialistischen Rechts gab, nämlich den der »Erregung der Öffentlichkeit«. Mörder sollen nicht frei herumlaufen, hieß es damals, und es steht zu befürchten, dass nicht wenige auch heute noch so denken. Davon einmal ganz abgesehen, dass man jemanden erst dann einen »Mörder« nennen darf, wenn er wegen Mordes rechtskräftig verurteilt wurde, ist das Argument nur populistisch und ansonsten hohl. Wenn nämlich die Gefahr besteht, dass ein »Mörder« flieht oder Beweise vernichtet und Spuren verwischt, darf man ihn, wie jeden anderen Tatverdächtigen auch, sowieso in Haft nehmen. Oder soll man alle, die im Verdacht stehen, getötet zu haben, aus Angst davor inhaftieren, dass sie es vielleicht noch einmal tun könnten? Das ist extrem selten. Wer seine Mutter getötet hat, kann es nicht noch einmal tun.

Die meisten Tötungsdelikte sind Beziehungsdelikte. Man bringt einen anderen Menschen ja gerade deshalb um, weil man ihn so gut kennt. Und weitaus die meisten dieser Taten geschehen aus einem einmaligen Konflikt heraus, oft auch im Affekt, der sich lange aufgestaut hat. Der Mörder, der einfach so aus dem Busch springt und irgendjemanden wahllos absticht, ist die große Ausnahme Aber machen wir uns nichts vor: »Mörder sollen nicht frei herumlaufen« ist eben leider ein archaisches Muster, das auch in unserer Gesellschaft noch wirkungskräftig ist.

Und so kam Amaru in Untersuchungshaft. Da blieb er so verschlossen wie seine Zellentür. Mit wem sollte er auch reden, und worüber? Scheppernde Absperrgitter, rasselnde Schlüsselbunde, latente, aber spürbare Gewaltbereitschaft, Feindseligkeiten gegen den »Nigger«, der ein Baby gemeuchelt hatte, Abscheu und Verachtung.

Aber auf einmal wurde Amarus dunkelgraues Dasein weiß: Man verlegte ihn in eine Nervenklinik, Abteilung forensische Psychiatrie. Bei Tötungsdelikten wird regelmäßig schon im Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft ein psychiatrischer Sachverständiger beauftragt. Seine Untersuchungen muss man bis zu sechs Wochen lang erdulden (und was da geschieht, werden wir im Kapitel über Sachverständige darstellen). Der Psychiater erhält den Auftrag, die Frage zu beantworten, ob der Verdächtige zur Tatzeit voll schuldfähig war. Mehr soll er nicht herausfinden, aber meistens erfährt er mehr. Mit den freundlichen Leuten im weißen Kittel spricht es sich eben besser als mit Staatsanwälten und ihrer Truppe. Und Amaru sprach.

Die Geschichte hatte vor etwa anderthalb Jahren ihren Anfang genommen. Amaru war zunächst einmal bei einem Bekannten untergekommen. Wieder das ganze Wochenende in dem kleinen, muffigen Zimmer verbringen, das er bewohnen durfte, immer nur lernen und aus dem Fenster schauen, das machte ihn schwermütig. Viele Kontakte hatte er nicht geknüpft in München. Er hatte von einem Lokal gehört, »Ball der einsamen Herzen« oder so ähnlich, da konnte man tanzen und vielleicht eine Frau kennenlernen. Einen Versuch war es wert.

Amaru tanzte meist für sich allein. Er bemerkte nicht, dass ihn eine Frau schon länger beobachtet hatte. Sie kam an seinen Tisch, blond, schlank, Mitte dreißig etwa, und forderte ihn auf. Sie tanzten lange, berührten sich enger, schließlich nahm sie ihn an der Hand und führte ihn zu ihrem Tisch. »Das, Amaru, ist mein Mann.« Und zu ihrem Mann sagte sie: »Ich glaube, wir haben ihn gefunden.«

Amaru wusste nicht, wie ihm geschah. »Setz dich, Amaru. Es ist so: Wir möchten gerne ein Kind, aber mit meinem Mann geht das nicht. Also haben wir beschlossen, dass ich jemanden suchen darf, der mir ein Kind macht. Wenn du das willst, dann kannst du auch bei uns wohnen, solange du studierst.«

Jeder, der diese Geschichte hört, dürfte so verblüfft sein, wie Amaru es gewesen war, und dem Psychiater erging es ebenso. Das Ehepaar bestätigte das Geschehen an jenem Abend im Tanzlokal. Über die Gründe für diese Wahl eines potenziellen Vaters wollten sie nicht sprechen. Sie spielen am Ende auch keine Rolle für die Frage nach der Schuld.

Amaru beschrieb dem Psychiater seine Überraschung, sein Erstaunen und Zögern, seine Zweifel, aber auch die Lust auf dieses Abenteuer. Er nahm das Angebot an und zog in das Dachzimmer. Ein Jahr später kam das Kind zur Welt. Die Mutter war glücklich und dankbar. Das Glück blieb, die Dankbarkeit aber wich. Die Frau ließ Amaru spüren, dass sie ihn zunehmend als Last empfand. Es war ihr Kind, und ihr Mann usurpierte die Vaterrolle.

Der Psychiater dachte sich, was wahrscheinlich jedem einfällt, der diese Geschichte liest: »Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.« Amaru aber entwickelte eine tiefe Beziehung zu »seinem« Kind, das Geschrei hörte sich für ihn an, als wäre es ein Ruf nach ihm. Er wollte sich nicht wegekeln lassen. Wenn er das Kind nicht haben durfte, dann sollten die anderen es auch nicht haben. So kam es zur Tat.

Als Amaru bei diesem Ende seiner Erzählung angelangt war, musste er wieder weinen.

Die ganze Wahrheit

Amaru hat das Baby getötet, das ist wahr. Es ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Was aber macht dann die ganze Wahrheit aus?

Die Frage klingt harmlos, ist aber eine ziemlich vertrackte Angelegenheit. Eigentlich sind es ja zwei Fragen: Was ist Wahrheit? Und wann ist sie »ganz«?

Die Frage »Was ist Wahrheit?« hat vor mehr als zweitausend Jahren in einem spektakulären Fall einer gestellt, der sie gar nicht beantworten wollte und sich lieber die Hände in Unschuld wusch. Dieser Pilatus hätte besser daran getan, für ein faires Verfahren gegen Jesus zu sorgen, anstatt sich mit dieser rhetorischen Frage aus der Affäre zu ziehen und den Dingen achselzuckend ihren Lauf zu lassen.

Schon vor Christi Geburt gab es viele Philosophen, die sich über den Begriff der Wahrheit gestritten haben, und bis heute sind es Hunderte mehr geworden. Wir wollen jetzt nicht zum Jünger eines dieser Denker werden, sondern nach dem alltäglichen Sprachgebrauch fragen.

Ein Strafverfahren ist nämlich kein philosophisches Symposion, sondern der Versuch, einen sozialen Störfall so aufzuarbeiten, dass die Gesellschaft sich beruhigt und »Rechtsfrieden« hergestellt wird. Deshalb ist es richtig, einen gesellschaftlich akzeptierten Begriff von Wahrheit zu verwenden: Wahr ist etwas dann, wenn es der Wirklichkeit entspricht. Diese Definition dürften die meisten von uns für richtig halten, und sie genießt auch die höheren Weihen der Philosophie: Schon Aristoteles hat so gedacht

Das »Etwas«, dessen Wahrheit infrage steht, ist eine Behauptung, eine Aussage. Unser Thema ist ja, wann ein Gerichtsurteil auf Wahrheit beruht, und da dreht es sich immer darum, die Wahrheit von Behauptungen zu überprüfen. So ist, um ein theoretisches Beispiel zu nehmen, der Satz »Dieser Schwan ist weiß« dann wahr, wenn es sich bei dem Tier, auf das sich die Aussage bezieht, um einen Schwan handelt und...

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