Als der deutsche Wirtschaftminister Sigmar Gabriel Anfang Mai 2105 fragte, „versteht eigentlich irgendjemand noch, was sich bei der Bahn abspielt?“ (welt.de, 2015b), sprach er mutmaßlich einen Gedanken vieler Bürger[1] aus. Zu diesem Zeitpunkt war der seit Juli 2014 andauernde Tarifkonflikt zwischen der Deutschen Bahn AG (DB) und der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) noch immer nicht gelöst und Kunden mussten bereits zahlreiche Streiks über sich ergehen lassen. Aufgrund der damit einhergehenden Beeinträchtigungen des öffentlichen Lebens wurde in den Medien, der Politik und der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert, inwieweit solche Arbeitskämpfe noch gerecht sind. Dabei hängt das individuelle Gerechtigkeitsempfinden in Bezug auf ein potenzielles Ungerechtigkeitsereignis sowohl von dem daran angelegten Gerechtigkeitsprinzip als auch von Persönlichkeitseigenschaften, der sozialen Perspektive und dem Hintergrundwissen über das Ereignis ab. Da viele Ereignisse und Fakten jedoch außerhalb des persönlichen Erfahrungsbereichs liegen, sind Menschen häufig auf die massenmediale Informationsvermittlung angewiesen. Die Art und Weise, wie die Medien Probleme rahmen kann folglich die Interpretation eines potenziellen Ungerechtigkeitsereignisses stark beeinflussen.
Die vorliegende Arbeit hat daher zum Ziel, die Wirkung medialer Darstellung sozialer Ungerechtigkeit in Nachrichten auf politische Einstellungen zu untersuchen. Hierfür wird auf den Framing-Ansatz, die Persönlichkeitsdisposition Ungerechtigkeitssensibilität und den Kontext der Streiks bei der Deutschen Bahn in den Jahren 2014 und 2015 zurückgegriffen.
Mit einem Auftaktgespräch begannen am 10. Juli 2014 die Tarifverhandlungen zwischen der Deutschen Bahn und der GDL. Gut elf Monate später ist der darauf folgende Tarifkonflikt noch immer nicht gelöst und beide Parteien befinden sich in einem Schlichtungsverfahren. Dazwischen liegen neun von der GDL organisierte und durchgeführte Arbeitskämpfe, unter denen sich mit einer Dauer von fast einer Woche der längste Streik in der 21-jährigen Geschichte der Deutschen Bahn AG wiederfindet. Hintergrund dieses lang anhaltenden Tarifkonflikts stellt neben finanziellen Forderungen vor allem die Ausweitung der Zuständigkeiten und damit des Machtbereichs der Gewerkschaft dar. Im Rahmen der Verhandlungen hat sich die GDL zum Ziel gesetzt, nicht nur für die bei ihr organisierten Lokführer, sondern auch für alle ihre übrigen Mitglieder in anderen Berufsgruppen eigenständige Tarifverträge abzuschließen. Die Gewerkschaft beruft sich dabei auf die vom Bundesarbeitsgericht etablierte Tarifpluralität sowie die durch das Grundgesetz zugesicherte Koalitionsfreiheit. Die Bahn weigerte sich hingegen lange Zeit auf die Forderungen einzugehen und begründete dies mit der Wahrung des Betriebsfriedens sowie der praktisch kaum zu gewährleistenden Umsetzbarkeit unterschiedlicher Tarifverträge. Darüber hinaus schwebte das im Juli 2015 in Kraft tretende Gesetz zur Tarifeinheit über den Verhandlungen, da dieses derartige Arbeitskämpfe in Zukunft wohl verhindern wird.
Doch je länger der Tarifkonflikt andauerte, desto lauter und heftiger wurden die gegenseitigen Vorwürfe der daran beteiligten Parteien. Aber auch die Politik, Wirtschaft und nicht zuletzt die vom Bahnstreik betroffenen Kunden forderten eine Lösung des Konflikts und äußerten Unmut und Unverständnis über diesen. Viele Menschen fühlten sich mutmaßlich ungerecht behandelt, da sie den Eindruck gewinnen konnten, ein Machtkampf würde auf ihrem Rücken ausgetragen.
Zahlreiche Bürger erfuhren die Auswirkungen des Tarifkonflikts also direkt und am eigenen Leib. Dennoch sind für die meisten Menschen viele der aktuellen Ereignisse, insbesondere politische Streifragen außerhalb des persönlichen Erfahrungsbereichs (Iyengar, 1991, S. 7). Dies trifft auch auf die Hintergründe der hier thematisierten Tarifverhandlungen zwischen der Bahn und der GDL zu. Daher hängt unser Wissen über die Welt von Interpretationen und den Blickwinkeln auf Themen, Ereignisse, Objekte und Personen ab, die wir heutzutage meist massenmedial über uns unbekannte Dritte vermittelt bekommen (Edelman, 1993, S. 231; Zaller, 2011, S. 6). „Je nachdem, welchen [...] Blickwinkel man einnimmt – metaphorisch gesprochen: welchen Rahmen man auf ein Thema legt –, kommt man zu anderen Schlussfolgerungen“ (Matthes, 2007, S. 17). Derartige Rahmungen bzw. Frames bestimmen also, ob und wie Menschen Probleme erkennen, verstehen und erinnern (Entman, 1993, S. 54). Indem sich große Bevölkerungsteile diese in der öffentlichen Kommunikation geteilten Interpretationsmuster zu eigen machen, ergibt sich die öffentliche Meinung (Marcinkowski, 2014, S. 7). Der Ansatz des Framings bietet daher eine Möglichkeit, die von Texten ausgehende Macht zu beschreiben (Entman, 1993, S. 51). Zwar handelt es sich dabei um ein über verschiedene Disziplinen wie die Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie sowie Kommunikations- und Medienwissenschaft zerstreutes, aber nicht minder aktuelles und relevantes Forschungsgebiet (Matthes & Kohring, 2004, S. 56). So stellt Matthes (2014a, S. 30) fest, dass der Framing-Ansatz „eine[n] der zentralen Forschungsbereiche der politischen Kommunikationsforschung“ darstellt. Als Leuchtturm-Konzept kann er theoretisch den gesamten politischen Kommunikationsprozess aus einer Perspektive beleuchten (ebd., 2014b, S. 17).
Wie auch in Bezug auf die Auswirkungen der von der GDL organisierten Arbeitskämpfe, so findet sich in der massenmedialen Kommunikation häufig das Thema der sozialen Gerechtigkeit wieder (Rothmund, Gollwitzer, Baumert, & Schmitt, 2013, S. 170f.). Gerechtigkeit dient hierbei in vielen Bereichen des Lebens als Leitprinzip, das an individuelles und institutionelles Handeln angelegt wird (Schmitt et al., 2009, S. 8). Bei Verfahren zur Entscheidungsfindung, der Verteilung von Gütern oder der Lösung von Konflikten kommt demnach dem Gerechtigkeitsprinzip eine zentrale Rolle zu (Gollwitzer, Fetchenhauer, Baumert, Schlösser, & Schmitt, 2009, S. 175).
Hinsichtlich der Wahrnehmung von Ungerechtigkeit und der Intensität der darauf folgenden Reaktionen unterscheiden sich Menschen jedoch. Zur Erklärung dieser individuellen Unterschiede im Gerechtigkeitserleben trägt das über allgemeinpsychologische Konzeptionen hinausgehende Konzept der Sensibilität für Ungerechtigkeit bei. (Schmitt et al., 2009, S. 9). Die als Persönlichkeitseigenschaft anzusehende Ungerechtigkeitssensibilität bestimmt, wie wichtig den Menschen das Thema Gerechtigkeit im Alltag ist, wie leicht sie sich ungerecht behandelt fühlen und wie stark sie darauf reagieren (Baumert, Gollwitzer, Staubauch, & Schmitt, 2011, S. 386; Schmitt, Baumert, Gollwitzer, & Maes, 2010, S. 213). Allerdings hängen die Wahrnehmung eines Ungerechtigkeitserlebnisses und die darauf folgende Reaktion zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit nicht nur von der generellen Ungerechtigkeitssensibilität, sondern auch von der sozialen Perspektive ab (Schmitt, Gollwitzer, Maes, & Arbach, 2005, S. 202; N. Thomas, Baumert, & Schmitt, 2012, S. 110). In dieser Hinsicht ist zwischen den auf andere bezogenen Konstrukten der Beobachter-, Nutznießer- und Tätersensibilität und der selbstbezogenen Opfersensibilität zu unterscheiden. Neben Differenzen dieser perspektivenspezifischen Konstrukte in Zusammenhängen zu weiteren Charaktereigenschaften scheint es außerdem Unterschiede bezüglich der emotionalen Reaktionen sowie der Bereitschaft zur politischen Partizipation zu geben (Mikula, Scherer, & Athenstaedt, 1998, S. 770; Rothmund, Baumert, & Zinkernagel, 2014; Rothmund et al., 2013, S. 173).
Ob und inwieweit der Framing-Ansatz und die individuelle Ungerechtigkeitssensibilität schließlich zur Erklärung beitragen können, dass Menschen Ereignisse wie die Bahnstreiks als ungerecht wahrnehmen und wie sich dies auf ihre kognitiven, emotionalen und motivationalen Reaktionen auswirkt, soll im Rahmen einer Studie in dieser Arbeit untersucht werden.
Im folgenden Kapitel wird zunächst auf den Framing-Ansatz eingegangen. Neben einer kurzen Darstellung der Ursprünge des Ansatzes in der Soziologie und Psychologie in Kapitel 2.1 liegt der Fokus insbesondere auf dem kommunikationswissenschaftlichen Framing-Ansatz. Was ist in dieser Hinsicht unter Framing zu verstehen, welche Funktionen erfüllen Frames, welche Prozesse der Informationsverarbeitung liegen Framing zugrunde und welche Akteure spielen dabei eine Rolle? Darüber hinaus wird in Kapitel 2.3 auf die verschiedenen Stellen im Kommunikationsprozess eingegangen, an denen Framing ansetzt. Neben der Darstellung strategischen und journalistischen Framings wird veranschaulicht, was unter Medien-Frames zu verstehen ist. Zudem wird der Frage nachgegangen, wie sich Medien-Frames auf Rezipienten-Frames auswirken und welche Ansätze der Wirkungsweise von Frames zugrunde liegen. Schließlich wird in Kapitel 2.4 dargestellt, inwieweit mediales Framing das Thema sozialer Ungerechtigkeit aufgreift und ob dadurch sowohl die öffentliche Meinung als auch Entscheidungsträger in ihren Einstellungen und Handlungen beeinflusst werden.
Doch welche Rolle spielt das Prinzip der Gerechtigkeit im menschlichen Leben und wie nehmen Menschen Gerechtigkeit wahr? Kapitel drei behandelt zur Beantwortung dieser Fragen die generelle Rolle der Gerechtigkeit als moralisches...