Darmflora
Unser Körper besteht aus etwa 1013 Zellen – das sind 10 Billionen Zellen, die sich auf viele verschiedene Aufgaben spezialisiert haben: Es gibt Haut- und Muskelzellen, Nerven- und Knochenzellen, diverse Organ- und Blutzellen oder auch die verschiedenen Zellen, die unser Verdauungssystem bilden. Jede einzelne Zelle hat ihre ganz spezifische Funktion, aber sie arbeiten auch Hand in Hand.
Neben diesen 10 Billionen Zellen leben noch sehr viel mehr verschiedene Organismen in und auch auf uns, die eigentlich nicht zu uns gehören und die doch einen ganz entscheidenden und vor allem unverzichtbaren Beitrag zu unserem Leben beisteuern: die Bakterien. Oft erschrecken wir und denken bei dem Wort »Bakterien« gleich an Krankheitserreger. Natürlich können viele der unzähligen verschiedenen, auf unserer Erde lebenden Spezies Krankheiten verursachen. Viele jedoch fördern unsere Gesundheit, und wir könnten gar nicht ohne sie leben.
Die Zahl dieser Mikroorganismen ist mit nach heutigen Erkenntnissen geschätzten 1014 bis 1015 (100 Billionen – 1 Billiarde) etwa zehn- bis hundertmal so groß wie die Zahl unserer Körperzellen – wobei die Darmbakterien alleine etwa ein bis zwei Kilogramm wiegen. Hinzu kommen noch die Bakterien, die alle anderen Körperoberflächen wie Haut, Mund und Nase, Zähne, Lunge, Blase und den Genitaltrakt besiedeln – Hunderte von Arten, die an jedem ihrer zahlreichen »Wohnorte« auch ganz spezifische Funktionen übernehmen. Wir leben in »Symbiose« (sym = zusammen, gr.) mit all den Mikroorganismen, die die verschiedensten Aufgaben für uns erledigen. Im Gegenzug bieten wir den Bakterien Unterschlupf, Nahrung, Wärme und viele andere von ihnen benötigte Bedingungen. »Wirt und Untermieter« profitieren also vom jeweils anderen.
Versuche mit Mäusen haben gezeigt, dass diese ohne eine (mäusespezifische) Darmflora nicht überlebensfähig sind. Nachdem man die Bakterien im Darm abgetötet hatte, starben die Tiere nach wenigen Wochen, ohne dass Erkrankungen dafür verantwortlich gewesen waren. Selbstverständlich hat man solche Versuche nicht auch mit Menschen durchgeführt, kann die Ergebnisse aber durchaus übertragen: ohne unsere Darmflora wären auch wir nicht lebensfähig.
Seit den Erkenntnissen um die Bedeutung der Gesamtheit der Bakterien für unseren Körper und für unser Leben werden sie von den Wissenschaftlern auch als Mikrobiota oder Mikrobiom bezeichnet.
Auch wenn die Bakterienbesiedelungen aller unserer Körperoberflächen gleichermaßen wichtig für unsere Gesundheit sind, betrachten wir in diesem Buch insbesondere die Keime in Dünn- und Dickdarm – die sogenannte Darmflora.
Wissenschaftler nennen die Darmflora »intestinale20 Mikrobiota«. Da der Begriff »Darmflora« verbreiteter ist, benutze ich in diesem Buch der besseren Lesbarkeit halber in den meisten Fällen diese Bezeichnung.
Es bestehen enge Wechselbeziehungen zwischen den »Partnern«: Geht es den Bakterien der Darmflora gut, geht es auch uns als Wirt gut. Ist die Darmflora jedoch aus ihrer gesunden Balance geraten, bemerken wir dies negativ. Im Laufe der Zeit und Evolution21 des Menschen hat sich in Coevolution22 parallel dazu auch die Zusammensetzung der Darmflora entwickelt. Unsere pflanzenfressenden, äffischen Vorfahren haben eine andere Zusammensetzung ihrer Darmflora als wir menschlichen Alles(fr)esser. Auch daran kann man erkennen, wie eng der Mensch und seine Darmbakterien voneinander abhängen.
Die Forschung über die Darmflora nimmt seit einigen Jahren Schwung auf, und es kommt immer mehr Licht in diesen bis noch vor einigen Jahrzehnten völlig unbekannten, dunklen Bereich. Und dieses bisher eher als anrüchig betrachtete Thema wird sogar richtig salonfähig, wie das sehr empfehlenswerte Buch »Darm mit Charme« von Giulia Enders23 beweist.
Aber auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse überholen sich rasch und müssen revidiert werden. Dachte man z.B. noch bis vor wenigen Jahren, dass Neugeborene keimfrei zur Welt kämen, so ist dies mittlerweile besser bekannt: Im ersten Stuhl des Säuglings (»Kindspech« oder Mekonium) lassen sich bereits einige Bakterienarten nachweisen, die die Babys von ihren Müttern schon während der Schwangerschaft über die Plazenta (»Mutterkuchen«) bekommen haben.
Während und gleich nach der Geburt wird das Baby dann mit Bakterien geradezu überschüttet: Während des Geburtsvorgangs kommen Haut, Mund und Nase mit Bakterien aus dem Geburtskanal und auch mit Fäkalbakterien24 aus dem Verdauungstrakt der Mutter in Berührung. Selbst wenn bei der Geburt die Hände der Hebamme desinfiziert sind, schwirren in der Luft des Kreißsaals noch genügend Bakterien herum, die sich überall auf dem neuen Erdenbürger niederlassen. Und Haut und Hände der Mutter, die ihr Kind willkommen heißt, übertragen ebenfalls eine unvorstellbare Menge an Keimen auf das Baby, die alsbald über den Mund in seinen Verdauungstrakt gelangen und den Grundstock für seine Darmflora bilden.
Säuglinge, die per Kaiserschnitt geboren werden, haben es schwerer, denn diese gute Grundausstattung, die ein »normal« (vaginal) geborenes Baby für sein gesamtes späteres Leben von seiner Mutter erhält, fehlt ihnen zum Teil. Fortschrittliche Kliniken geben deshalb diesen Kindern unverzüglich nach der Geburt bestimmte, nützliche Bakterien als probiotisches25 Präparat, um diesen Mangel zumindest teilweise auszugleichen. Es enthält ein ganz wichtiges Bakterium, das im Dickdarm des Menschen u.a. für die Herstellung von Vitamin K sorgt. Darüber hinaus kann es mit verschiedenen Mechanismen Krankheitserregern die Lebensgrundlage entziehen, so dass diese Bakterien sich nicht weiterentwickeln und vermehren können.
Aus diesem Artengemisch, dem die Neugeborenen ausgesetzt sind, bildet sich eine Basis an Arten, die sich im Laufe der nächsten drei Jahre zu einer ganz individuellen »Bewohnerschaft« im Darm des Kindes entwickeln wird. Bei Kindern, die normal zur Welt kommen, ähnelt diese Basisflora der Darmflora der Mutter, die nahezu lebenslang einen wichtigen Baustein eines guten Immunsystems bildet. Bei Kaiserschnittkindern, die keine Probiotika erhalten haben, ähnelt die Basisflora eher der mütterlichen Hautflora, und oftmals sind diese Kinder deutlich krankheitsanfälliger.
Auch die Ernährung des Säuglings spielt bei der Ausbildung der Darmflora eine entscheidende Rolle: Gestillte Babys haben später eine gesündere, stabilere Darmflora als nicht gestillte, denn die Muttermilch enthält wichtige probiotische Keimarten wie z.B. Lakto- und Bifidobazillen, die für die Entwicklung der Darmflora hilfreich sind. Durch die Ansiedlung und Anreicherung dieser milchsäurebildenden Bakterienstämme wird der Stuhl im kindlichen Darm angesäuert, wodurch sich pathogene Keime, die Krankheiten erzeugen können, nur schwer ansiedeln können.
Zusätzlich enthält die Muttermilch präbiotische26 Substanzen, die den nützlichen Bakterienarten als Futter dienen und somit dazu beitragen, dass sie sich noch besser und reichlicher vermehren können.
Vor allem im Dickdarm hat jeder Mensch seine eigene Darmflora, die so einzigartig ist wie ein Fingerabdruck. Die verschiedenen Arten dieser dauerhaften (obligaten) Darmflora können sich in den Mengenverhältnissen ändern – sie sind u.a. abhängig von Umgebung, Essverhalten, Gesundheitszustand, Alter, eventuell auch von eingenommenen Medikamenten und vielen anderen Bedingungen »ihres« Menschen. Die Zusammensetzung der Artenvielfalt bleibt jedoch im Prinzip ein Leben lang erhalten. Die Keimarten der obligaten Darmflora leben und vermehren sich in unserem Darm und verbleiben dort dauerhaft.
Zu diesen obligaten »Hausarten« kommen noch weitere hinzu: Mit der Nahrung nehmen wir weitere nützliche Keimarten auf, aber auch krankmachende Bakterien, Viren oder Pilze können sich vorübergehend in unserem Körper einnisten. Diese zusätzlichen Keime nennt man die passagere27 Darmflora, da diese Keimarten sich nicht dauerhaft in unserem Darm aufhalten und schon nach kurzer Zeit wieder ausgeschieden werden.
Bakterien näher kennen lernen
Bevor wir uns den Aufgaben der Bakterien in unserem Verdauungssystem zuwenden, soll als erstes geklärt werden, welche Keime überhaupt standardmäßig in einer gesunden Dünn- bzw. Dickdarmflora enthalten sind.
Gleich vorweg: Diese Frage kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht wirklich beantwortet werden. Seit der niederländische Naturforscher Antony van Leeuwenhoek 1683 mit einem selbstgebauten Lichtmikroskop zum ersten Mal in einer Probe aus seinem Zahnbelag »sehr winzige Tierchen, die sich niedlich bewegen28« entdeckte, sind bis heute einige Hundert verschiedene Spezies (wissenschaftlich abgekürzt spp.) von Bakterien bekannt. Vermutet wird aber, dass es wahrscheinlich sogar einige tausend Arten sind, die unseren Darm bewohnen. Die Forschung an der intestinalen Mikrobiota ist eine noch relativ junge Disziplin – die Erkenntnisse gehen jedoch mit großen Schritten voran.
Dass die Forscher nicht alle Keime kennen, liegt aber auch daran, dass jeder Mensch seine ganz individuelle Darmflora hat, und es können natürlich auch nicht alle Stellen der aufgefältelten Schleimhaut betrachtet und untersucht werden. Wer sich alles in diesen winzigen Räumen versteckt – teilweise auf der Schleimschicht (Mukus oder Muzin) über der Darmschleimhaut, zu einem großen Teil aber auch in der dicken Schleimschicht »eingegraben«, ist schwierig zu beurteilen.
Trotzdem sind die Untersuchungen heute schon so weit fortgeschritten, dass man unter den unseren Darm bewohnenden Enterobakterien29 zahlreiche größere...