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Durchbrechung der Rechtskraft und Relief from Judgment

Die außerordentliche Aufhebung und Abänderung rechtskräftiger Urteile im deutschen und US-amerikanischen Zivilprozessrecht

AutorSusanne Grohé
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl280 Seiten
ISBN9783640964994
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Doktorarbeit / Dissertation aus dem Jahr 2011 im Fachbereich Jura - Andere Rechtssysteme, Rechtsvergleichung, Georg-August-Universität Göttingen, Sprache: Deutsch, Abstract: Wichtiges Ziel jeder Verfahrensordnung ist es, eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits für die Parteien herbeizuführen. Die Aufhebung eines letztinstanzlichen Urteils muss daher die Ausnahme bleiben. Gleichzeitig muss ein Urteil, will es nicht seine Legitimität verlieren, den Anspruch haben, gerecht zu sein. Wie lösen die deutsche und die US-amerikanische Zivilprozessordnung dieses Spannungsfeld zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit auf? Gibt es eine Übereinstimmung darüber, wann ein Urteil oder die Art seines Zustandekommens als so ungerecht empfunden werden, dass die Verfahrensordnung eine Ausnahme vom Prinzip der Rechtskraft zugunsten der Gerechtigkeit zulässt? Dazu werden die wesentlichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten in dem Verständnis der Rechtskraft, ihrer Funktion und ihrer Aufhebung dargestellt. Es geht insbesondere um die Frage, ob sich ein Kanon an Ausnahmetatbeständen feststellen lässt, der kultur- und rechtsordnungsübergreifend Geltung hat. Die Autorin stellt dabei u.a. die außerordentlichen Rechtsmittel wie Wiederaufnahme und Abänderungsklage dem US-amerikanischen 'Relief from Judgment' gegenüber.

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Leseprobe

Zweiter Teil


 

Die Durchbrechung der Rechtskraft im deutschen Recht


 

§ 8 Rechtskraft, Nichturteil, wirkungsloses Urteil

 

I. Materielle und formelle Rechtskraft im deutschen Recht

 

im Gegensatz zum amerikanischen Recht, ist die deutsche Rechtskraftdogmatik von der Unterscheidung zwischen materieller und formeller Rechtskraft gekennzeichnet. Die materielle Rechtskraft bindet zum einen an den Entscheidungssatz des Urteils (Präjudizialität). Zum anderen hat sie eine Sperrwirkung, die verbietet, über denselben Streitgegenstand (und sein kontradiktorisches Gegenteil) eine erneute Entscheidung herbeizuführen (ne bis in idem).[380] Die materielle Rechtskraft ist objektiv auf den Entscheidungssatz des Urteils beschränkt und umfasst nicht die tatsächlichen und rechtlichen Zwischenergebnisse wie sie in den Urteilsgründen ausgeführt sein mögen.[381] Subjektiv wirkt die Rechtskraft nur zwischen den Parteien des Rechtsstreits, soweit nicht gesetzlich eine Rechtskrafterstreckung angeordnet ist.[382]

 

Die materielle Rechtskraft besteht erst mit Eintritt der formellen Rechtskraft. Die formelle Rechtskraft tritt gemäß § 705 ZPO ein, wenn die Entscheidung mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr angefochten werden kann (vgl. und § 19 Abs. 1 EGZPO), d.h. im Verfahren keine Änderung mehr erfahren kann. Mit dem Eintritt der formellen Rechtskraft misst die Prozessordnung der Präklusion von Angriffs- und Verteidigungsmitteln aufgrund der Rechtssicherheit eine höhere Bedeutung bei. Während im Verfahren auch verspätete Angriffs- und Verteidigungsmittel unter den Voraussetzungen von §§ 296, 530, 531 Abs. 2 ZPO noch zulässig sind, bedeutet der Eintritt der formellen Rechtskraft den endgültigen Ausschluss.[383]

 

Soweit das Gesetz bzw. die Rechtsprechung die Aufhebung oder Abänderung von rechtskräftigen Entscheidungen zulässt, wird dadurch die Rechtskraft durchbrochen. Die fünf prozessualen Ausnahmen, mit denen eine Durchbrechung der Rechtskraft im deutschen Zivilprozessrecht möglich ist, sind im Überblick unter § 9 dargestellt.

 

II. Nichturteil, wirkungsloses Urteil

 

im deutschen Recht sind das Nichturteil und das wirkungslose Urteil von der rechtskraftdurchbrechenden Aufhebung (wegen Nichtigkeit) abzugrenzen.[384] Ein Nichturteil ist kein Urteil, sondern erweckt nur den Schein eines solchen. Ein Nichturteil liegt vor, wenn das Urteil von keinem verfassungsmäßig anerkannten Gericht erlassen oder es weder verkündet noch gemäß § 310 Abs. 3 ZPO zugestellt wurde. Ein solches Urteil entfaltet keine Rechtskraft, ist wirkungslos und beendet die Instanz nicht.[385] Die belastete Partei kann daher die Fortsetzung der Instanz beantragen oder, um den Schein zu beseitigen, Rechtsmittel einlegen, ohne dass es zu einer Durchbrechung der Rechtskraft kommt.[386]

 

Wirkungslos kann ein Urteil aus unterschiedlichen Gründen sein. Ein Urteil entfaltet keine Wirkung gegenüber einem Beklagten, der nicht der deutschen Gerichtsbarkeit unterliegt. Ebenso wirkungslos ist ein Urteil gegenüber einer nicht existierenden Partei. Fehlt die Rechtshängigkeit, beispielsweise weil die Klage noch nicht zugestellt oder zurückgenommen ist, so ist ein solches Urteil ebenfalls wirkungslos. Auch ein Urteil, das auf eine dem geltenden Recht unbekannte oder zuwiderlaufende Rechtsfolge gerichtet ist, entfaltet keine Wirkung.[387] Ein solches Urteil erwächst nicht in materieller Rechtskraft und ist entsprechend wirkungslos.

 

Jedoch ist es der formellen Rechtskraft fähig und beendet daher die instanz. Die Sache kann aber erneut rechtshängig gemacht werden, da die Wirkung der materiellen Rechtskraft fehlt, daraus folgt auch, dass der Mangel, auch inzident, jederzeit geltend gemacht werden kann.[388]

 

Nichturteil und wirkungsloses Urteil entfalten keine Rechtskraftwirkung. Soweit sie aus Rechtsscheinsgründen überhaupt der Aufhebung bedürfen, durchbricht diese nicht die Rechtskraft, sondern hat nur deklaratorische Wirkung.

 

§ 9 Die einzelnen prozessualen Möglichkeiten zur Durchbrechung der Rechtskraft

 

i. Die Wiederaufnahme

 

1. Aufteilung in Nichtigkeits- und Restitutionsklage

 

Die Wiederaufnahme des Verfahrens, wie sie im 4. Buch der ZPO geregelt ist, unterteilt sich in die Nichtigkeitsklage gemäß § 579 ZPO und die Restitutionsklage gemäß § 580 ZPO. Die Nichtigkeitsklage ermöglicht eine Durchbrechung der Rechtskraft aufgrund schwerwiegender Verfahrensfehler. Den Zweck der Restitutionsklage sieht die h.M. in der Anfechtung von Urteilen, die auf einer fehlerhaften Urteilsgrundlage beruhen, also einer Ergebnisfehlerkorrektur.[389] Dagegen wendet sich Braun, der hinsichtlich der Gründe in § 580 Nr. 1-5 ZPO auch für die Restitutionsklage von einer Verfahrensfehlerkorrektur ausgeht und beide Klagen als ein einheitliches Wiederaufnahmeverfahren betrachtet.[390] Das ist insoweit überzeugend, als dass es nicht einleuchtend ist, dass die Aufhebung eines Urteils, bei dem ein abgelehnter Richter mitgewirkt hat, auf einem Verfahrensfehler beruht, hingegen die Mitwirkung eines Richters, der sich einer Amtspflichtverletzung zu Lasten einer der Parteien strafbar gemacht hat, ein Ergebnisfehler sein soll.

 

Neben dieser Überschneidung des Zwecks folgen beide Klagen auch prozessual weitgehend gleichen Grundsätzen. Die Teilung der Wiederaufnahme in zwei Klagen ist jedoch nicht nur terminologisch vom Gesetz vorgegeben. Werden beide Klagen gleichzeitig rechtshängig, so muss gemäß § 578 Abs. 2 ZPO das Verfahren der Restitutionsklage bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Nichtigkeitsklage ausgesetzt werden.[391] Aus dieser Regelung kann aber nicht zwingend geschlossen werden, dass die Nichtigkeitsklage über die Restitutionsklage hinausgeht und eine stärkere Wirkung entfaltet.[392] Beide Klagen zielen auf die Aufhebung eines rechtskräftigen Urteils, ob diese Anfechtungsmöglichkeit auf der Nichtigkeit oder auf anderen Gründen möglich ist, ändert das Ergebnis nicht.

 

2. Eigenständige Klage zur Wiederaufnahme

 

Das deutsche Recht hat die Wiederaufnahme des Verfahrens als eigene Klageart ausgestaltet. Mit der Wiederaufnahme wird daher nicht wie bei einem Rechtsmittel der Prozess fortgesetzt, sondern ein neuer Prozess begonnen. Die Ähnlichkeit mit einem Rechtsmittel ist jedoch unverkennbar. Dies zeigt sich allein schon an den Besonderheiten der Klageschrift gemäß § 587 ZPO, die wie eine Rechtsmittelschrift aufgebaut ist oder in der zuweilen benutzten Bezeichnung als „außerordentliches Rechtsmittel“.[393] Entscheidend für den Ausnahmecharakter der Wiederaufnahme ist jedoch nicht ihre prozessuale Ausgestaltung, sondern die Subsidiarität gegenüber den ordentlichen Rechtsmitteln.

 

3. Zulässigkeit und Verfahren der Wiederaufnahme

 

a. Zuständiges Gericht aa. Grundsatz: iudex a quo

 

Für das Wiederaufnahmeverfahren sieht das Gesetz in § 584 ZPO einen ausschließlichen Gerichtsstand vor. Die Vorschrift beruht auf dem Grundsatz, dass die

 

Wiederaufnahme einheitlich beim iudex a quo geltend gemacht werden soll. Örtlich und sachlich zuständig ist daher grundsätzlich das Gericht, dessen Urteil mit der Restitutions- oder Nichtigkeitsklage angegriffen wird. Unproblematisch ist dies nur bei einer Klage gegen ein Urteil der ersten instanz. Wurden mehrere instanzen durchlaufen, so ist danach zu entscheiden, welches Urteil angegriffen wird.

 

bb. Zuständigkeit des Berufungsgerichts

 

Werden sowohl das erstinstanzliche, als auch das Berufungsurteil angegriffen, so liegt gemäß § 584 Abs. 1 HS. 2 ZPO die Zuständigkeit beim Berufungsgericht. Bei einer Entscheidung des Berufungsgerichts in der Sache ist das erstinstanzliche Urteil geändert oder bestätigt worden, daher ist ausschließlich das Berufungsgericht für die Wiederaufnahme zuständig. Hat das Berufungsgericht die Berufung verworfen oder die Sache in die erste instanz zurückverwiesen, dann ist die Zuständigkeit des Berufungsgerichts nur gegeben, wenn auch die Entscheidung des Berufungsgerichts mit der Wiederaufnahme angefochten wird.

 

Ist nur teilweise Berufung eingelegt worden, so verbleibt die Zuständigkeit beim Gericht erster instanz, wenn die Wiederaufnahme die Teile des Urteils betrifft, die nicht Gegenstand der Berufung waren. Das ist insofern problematisch, als dass es in diesem Fall bei gleichzeitiger Anfechtung von Berufungsurteil und Ersturteil zu einer Aufspaltung der Zuständigkeit kommen kann, die die Regelung des § 584 ZPO gerade verhindern will.[394]

 

cc. Zuständigkeit des Revisionsgerichts

 

Bei Entscheidungen des Revisionsgerichts ist dieses nur zuständig, wenn die Wiederaufnahme auf § 597 oder § 580 Nr. 4, 5 oder 8 ZPO gestützt wird.[395] Davon macht aber der BGH dann eine Ausnahme, wenn im Falle des § 580 Nr. 4 ZPO die Restitutionsklage gegen die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts gerichtet ist und der Wiederaufnahmegrund nicht auch das Revisionsurteil betrifft oder das Revisionsgericht selbst tatsächliche Feststellungen getroffen hat[396]. Wird die Revision als unzulässig...

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