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Ein neues Land entsteht

Aus meinem Tagebuch November 1990 - August 1992

AutorKurt H. Biedenkopf
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl528 Seiten
ISBN9783641173173
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Kurt Biedenkopfs Tagebücher der Jahre nach der Wende. Ein bedeutendes Zeitdokument.
Kurt Biedenkopf, der 1990 zum Ministerpräsidenten des Freistaats Sachsen gewählt wurde, führte in den neunziger Jahren ein Tagebuch: Die Aufzeichnungen aus den Jahren 1990 bis 1994 beschreiben auf brillante Weise die Zeit nach der Wende und das schwierige Ringen um die innere Einheit. Schonungslos offen und auf höchstem intellektuellen Niveau reflektiert Biedenkopf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im wiedervereinten Deutschland.

Kurt Biedenkopf wurde 1930 in Ludwigshafen am Rhein geboren. Er war Jurist und Wirtschaftswissenschaftler. In den sechziger Jahren war er Rektor der Universität Bochum, von 1973 bis 1977 Generalsekretär der CDU, in den achtziger Jahren Landesvorsitzender der CDU in Nordrhein-Westfalen. Von 1990 bis 2002 war er Ministerpräsident der Freistaates Sachsen. Kurt Biedenkopf starb 2021.

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Leseprobe

Zur Einführung

Die ersten beiden Jahre nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 waren einmalige Jahre. Ein neues Land entsteht, so der Titel dieses Bandes. Er hätte auch lauten können: Ein altes Land erwacht. Der Freistaat Sachsen, erinnerte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker seine Zuhörer bei seinem ersten Besuch in Dresden, sei kein neues Bundesland. Sachsen gehöre vielmehr zu den ältesten staatlich verfassten Regionen Deutschlands, im Alter übertroffen eigentlich nur noch durch Bayern. In den ersten beiden Jahren trafen beide, das alte und das neue Land, mit einer Wucht aufeinander, die den tiefgreifenden Unterschieden zwischen ihnen ebenso geschuldet war wie der Geschwindigkeit, in der sich die Wiedervereinigung vollzog.

Ein Segler kennt die Tücken einer Kreuzsee, in der sich Wellen aus verschiedenen Richtungen schneiden. Sie machen es ihm und seinem Boot schwer, die Stabilität zu sichern und Kurs zu halten. Die Wellen, die sich in den Jahren, aus denen die folgenden Eintragungen stammen, in Sachsen schnitten, liefen nicht nur quer zueinander. Sie waren groß, unberechenbar in ihren Dimensionen und hinterließen stets aufs Neue gefährliche Wellenberge und -täler. Vieles, was scheinbar Bestand hatte, wurde von ihnen verschlungen, anderes wurde nach oben geschleudert. Nichts war wirklich sicher.

Einen ersten Eindruck von der Vielfalt der Strömungen, ihrer Widersprüchlichkeit und den widerstreitenden Hoffnungen und Ängsten, die auf meine Frau und mich warten würden, erhielten wir, als wir nach meiner Wahl zum Ministerpräsidenten in unser provisorisches Quartier zogen; ein ehemaliges Schulungszentrum des Staatssicherheitsdienstes, an der Schevenstraße im Stadtteil Weißer Hirsch gelegen. Die Kommission, die unter Führung von Arnold Vaatz beauftragt war, die Regierungsbildung vorzubereiten, hatte uns das Anwesen als Residenz zugedacht. Dafür war es zu groß. So entschlossen wir uns, zahlreiche zukünftige Mitarbeiter aus Westdeutschland, die so schnell keine Bleibe finden konnten – vom Minister bis zur Sekretärin – in die »Residenz« aufzunehmen. Die Wohngemeinschaft war geboren. Wesentliche Entscheidungen der ersten beiden Jahre wurden in ihr vorbereitet. Mit elf Jahren Nutzung unter provisorischen Bedingungen gehörte die »Schevenstraße« zu den hartnäckigsten Provisorien unserer sächsischen Zeit.

Bis Mitte Januar 1991 diente sie auch als Amtssitz des Ministerpräsidenten und damit als seine erste Adresse. Wenige Tage nachdem diese sich herum gesprochen hatte, überraschte uns ein schnell wachsender Strom von Briefen aus allen Teilen des Landes. Es handelte sich um »Eingaben« an den Ministerpräsidenten oder die Regierung. Mit ihrer Hilfe konnte man sich in der Zeit der DDR beschweren, auf Missstände aufmerksam machen oder Anregungen vortragen, ohne persönliche Risiken einzugehen. In kurzer Zeit hatten sich rund 10 000 dieser Eingaben angesammelt. Ob sie je beantwortet würden, war unklar.

Das wollte ich ändern. Alle Eingaben sollten beantwortet werden. Der Mitarbeiter, den ich mit dieser Aufgabe betraute, wurde im Sommer 1991 wieder in Baden-Württemberg gebraucht. Er schlug meine Frau als seine Nachfolgerin vor. Was wiederum als Provisorium gedacht war, entwickelte sich zum späteren Büro Ingrid Biedenkopf in der Schevenstraße. Zu Beginn konnte meine Frau mit der Hilfe zweier Mitarbeiter rechnen. Wenige Jahre später genehmigte der Landtag zwei weitere. Viele Eingaben beschäftigten uns beim Frühstück. Im Laufe der Zeit war ich deshalb besser über das Denken der Menschen im Land unterrichtet, über ihre Sorgen und Ängste, ihre Probleme und Schwierigkeiten, aber auch ihre Wünsche und Hoffnungen als mancher meiner Kollegen.

In Westdeutschland wäre Vergleichbares bereits an der Überzeugung gescheitert, ein Ministerpräsident dürfe nicht in dieser Weise mit seiner Frau zusammenarbeiten. Meine westdeutschen Mitarbeiter in der Staatskanzlei teilten zunächst die Überzeugung – bis die große Mehrheit der sächsischen Bevölkerung sich in einer Umfrage für das Büro aussprach. Noch heute, 13 Jahre nach meiner Amtszeit, wünschen sich viele im Land wieder ein derartiges Büro – am besten als Provisorium. Denn die sind offenbar dauerhafter.

So unübersichtlich wie die Kreuzsee war auch unsere Agenda. Im Grunde kam alles auf uns zu, was durch die Wiedervereinigung an Aufgaben und Herausforderungen ausgelöst worden war. Alles war gleich wichtig und gleich drängend. In der Bevölkerung machte schon bald Nüchternheit und Verunsicherung der Euphorie der ersten Stunde Platz. Die Ostdeutschen hatten die Freiheit gewonnen. Aber wie geht man damit um? Sie hatten Rechtsstaatlichkeit erhalten statt Gerechtigkeit, wie eine verbreitete Formel es sah. Ihr Land war vergiftet durch vierzig Jahre Unfreiheit, Bespitzelung und die Allgegenwärtigkeit des Staatssicherheitsdienstes.

Die alte Ordnung der Arbeit brach zusammen; eine neue hatte sich noch nicht entwickelt. Arbeitslosigkeit war in der DDR praktisch unbekannt. Ob die Produkte ihrer Industrie außerhalb ihrer westlichen Grenzen wettbewerbsfähig waren, war kein relevantes Kriterium für Arbeitsplatzsicherheit. Nach der Wiedervereinigung der Wirtschaft wurde die geringe Produktivität der Unternehmen sichtbar. Wo die im Westen Deutschlands entwickelte Produktivität auf Unternehmen im Osten übertragen werden konnte, verringerte sich in der Regel die Beschäftigung im Verhältnis zehn zu eins. Schnell wachsende Arbeitslosigkeit war die Folge. Sie über einen längeren Zeitraum abzubauen, ohne dass die Betroffenen und ihre Familien resignierten und sich als Menschen zweiter Klasse oder als gescheitert erlebten, war wohl die schwierigste politische und gesellschaftliche Aufgabe der ersten Jahre.

Sie war ohne massive Hilfe aus dem Westen nicht zu bewältigen. Aber diese Erkenntnis war nicht überall anzutreffen. Zum einen wurden die Dimensionen der Aufgabe unterschätzt. Zum anderen waren ostdeutsche Facharbeiter im Westen vor allem dort willkommen, wo die zusätzliche Nachfrage einen zusätzlichen Bedarf an Fachkräften auslöste. Mit Sorge lasen wir die Anzeigen in den Zeitungen, mit denen westdeutsche Unternehmen Facharbeiter suchten und ihren Frauen ebenfalls eine Beschäftigung anboten. Denn jeder Facharbeiter, der half, westdeutsche Defizite auszugleichen, würde beim Aufbau im Osten fehlen.

Das musste auch bei der zukünftigen Lohnpolitik bedacht werden, was wiederum die Gewerkschaften vor schwierige Entscheidungen stellte. Sie äußerten sich auch in den Auseinandersetzungen im Vorfeld der Tarifrunde 1992. Welche Löhne konnten die ostdeutschen Unternehmen zahlen, ohne ihren gerade begonnenen Neuanfang zu gefährden? Wie hoch wiederum mussten sie sein, um eine massive Abwanderung nach Westen zu verhindern? Und wie attraktiv mussten die gewerkschaftlichen Forderungen für ostdeutsche Arbeitnehmer sein, damit sie bereit waren, ihre aus der Zeit der DDR stammenden Vorbehalte gegenüber Gewerkschaften zu überwinden und Mitglied einer westdeutschen Gewerkschaft zu werden? Aber es ging auch um die Auswirkungen der geforderten Lohnerhöhungen auf die öffentlichen Haushalte, die konjunkturelle Entwicklung, die Geldentwertung oder die Attraktivität des Industriestandortes Deutschland.

Über all dies musste man entscheiden: ohne praktische Erfahrungen mit der Umwandlung einer Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft und ohne Kenntnis der sozialistischen Realität. Die standen westdeutschen Gewerkschaftsfunktionären – ebenso wie westdeutschen Unternehmern und Politikern – auch dann nicht zur Verfügung, wenn sie ihrer politischen Neigung folgend sozialistisch dachten.

Für die Ostdeutschen, die 40 Jahre ihrer aktiven Lebenszeit unter der Herrschaft einer zentralplanwirtschaftlichen Ordnung gelebt und gearbeitet hatten, war es schwierig, die Grundzüge der sozialen Marktwirtschaft zu verstehen. Sie konnten weder wirtschaftliche Freiheit praktizieren noch die Bedeutung der Institutionen kennenlernen, auf denen eine marktwirtschaftliche Ordnung aufbaut. Wozu braucht man Eigentum, was bedeutet Haftung, welche Funktionen erfüllt der Wettbewerb und allgemeiner: welche Rolle das Kapital? Manche dieser Fragen werden selbst von Politikern und Führungskräften der Wirtschaft in der alten Bundesrepublik nicht mit selbstverständlicher Sicherheit beantwortet. Und im Osten fehlte bei vielen das Grundvertrauen in die neue Ordnung. Die Zeit war zu kurz, als dass es sich schon hätte entwickeln können.

Fragte man nach der Herausforderung, die während der ersten beiden Jahre gelebter Wiedervereinigung dominierend war, dann war es die Notwendigkeit, alle wesentlichen und in ihrer Widersprüchlichkeit schwer fassbaren Probleme gleichzeitig aufzugreifen und zu bewältigen.

Zu ihnen gehörte als erstes die Arbeitslosigkeit, die im Gefolge der Neustrukturierung der Wirtschaft entstanden war. Sie verlangte nach Hilfe und Unterstützung der Betroffenen: durch Kurzarbeit, vorzeitige Verrentung, Umschulung oder Maßnahmen, die sie weiterhin am wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Leben teilhaben ließen.

Vergleichbares galt für den öffentlichen Dienst. Er war überdimensioniert und musste abgebaut werden. Zugleich musste das vorhandene politische und administrative Personal auf seine Fähigkeit und Eignung überprüft werden, von den Bürgern als vertrauenswürdig akzeptiert zu werden. Die damit verbundenen Anstrengungen reichten bis in die Zusammensetzung der Landtagsfraktion der CDU. Allgemein musste der Eindruck einer schematischen Auswahl ebenso vermieden werden wie eine Entscheidungspraxis, die der Angst vieler nicht genügend Rechnung trug, die alten Strukturen könnten auch in der neuen Ordnung ihren Einfluss...

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