Die Entwicklung eines kennzahlenorientierten Frühwarnsystems vollzieht sich nicht intuitiv und bar jeder Grundlage. Daher ist neben den Betrachtungen von Kennzahlen, Kennzahlensystemen und Frühwarnsystemen auf die Rolle der Unternehmenskrise als Ausgangspunkt und Notwendigkeit eines Frühwarnsystems einzugehen.
Die Unternehmenskrise, alternativ Existenzkrise genannt, liegt als Tatbestand vor, wenn der Fortbestand des Unternehmens ernsthaft gefährdet ist. Typisch ist hierbei die Insolvenz wegen Illiquidität oder Überschuldung.[11] Das wird durch die Finanz- und Erfolgsplanung signalisiert, indem bei unveränderter Fortführung der Unternehmenstätigkeit das Insolvenzverfahren eingeleitet werden muss. Anhand dessen wird deutlich, dass es jedoch noch die Möglichkeit geben muss, diese Gefahr abzuwenden.[12] Ein weiterer wichtiger Aspekt der Unternehmenskrise ist deren Einzigartigkeit und die damit verbundene individuelle Krisenbewältigung. Die Übertragung eines erfolgreichen Modells der Bewältigung ist daher nicht ohne weiteres möglich.[13] Daraus leitet sich die Frage nach der Möglichkeit der Entwicklung des Referenzmodells eines Frühwarnsystems ab und macht eine weitergehende Betrachtung im Abschnitt 4.3 notwendig.
Eine Unternehmenskrise tritt nicht einfach in Erscheinung, sondern weist eine Krisendynamik auf. Ausgangspunkt sind die Insolvenzursachen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit. Die Überschuldung als Verzehr des Eigenkapitals stellt einen erfolgswirtschaftlichen Prozess dar, wohingegen die Illiquidität das Ergebnis eines finanzwirtschaftlichen Prozesses ist. Beide Prozesse können im Zuge der Krise isoliert als auch kombiniert auftreten.[14] Sie stellen den Höhepunkt der Krise und gleichzeitig den Tiefpunkt der geschäftlichen Tätigkeit des Unternehmens dar.
Die letzte Phase vor der Insolvenz kann mit dem Begriff Liquiditätskrise bezeichnet werden. Es treten hauptsächlich finanzwirksame Belastungen auf, wie beispielsweise Forderungsausfälle, das Ausbleiben von Anzahlungen oder die Zahlbarstellung von
Kreditlinien. Aus der Verschuldung resultiert die Überschuldung und mit einem sehr kleinen, kaum vorhandenen Handlungsspielraum nähert sich das Unternehmen der Insolvenz.[15]
In der vorletzten Phase häufen sich die erfolgs- und finanzwirtschaftlichen Belastungen, beispielsweise zu niedrige oder sinkende Umsätze sowie zu hohe oder steigende Aufwendungen. Dadurch steigt die Verschuldung bis zum restlosen Verzehr des Eigenkapitals mit gleichzeitiger Verringerung der liquiden Mittel und der Nutzung der Kreditlinien. Konsequenz ist auch in dieser Phase die Einengung des Handlungsspielraums. Bezeichnenderweise wird diese Phase als operative Krise bezeichnet.[16]
Alle weiteren vorgelagerten Phasen sind nicht so klar zu bestimmen. Hier können beispielsweise einfach nur Situationen wie geringe oder keine Deckungsbeiträge sowie keine Deckung der Vollkosten im operativen Geschäft stattfinden. Ein Handlungsspielraum ist noch deutlich gegeben, da die Reserven noch nicht verbraucht worden sind und der zeitliche Horizont diesen auch gewährt. Von den beiden Parametern steigt einzig die Verschuldung obgleich die Zahlungsfähigkeit gegeben ist. Die Phase wird unterschiedlich bezeichnet, im Rahmen dieser Arbeit wird der Begriff strategische Krise verwendet.[17]
Es wird deutlich, dass der Handlungsspielraum zur Bewältigung der Krise von Phase zu Phase abnimmt. Je früher eine Krise erkannt wird, desto mehr Ressourcen stehen zu deren Bekämpfung zur Verfügung.[18]
Dieser Sachverhalt hat eine große Bedeutung für die auszuwählenden Instrumente. Zum Erkennen und Entgegenwirken einer Krise, sie sind zukunftsorientiert auszurichten. Die Messung und Dokumentation existierender Zustände genügt insoweit nicht. Vielmehr müssen Indikatoren und Signale identifiziert werden, welche einen Ausblick auf zukünftige Gegebenheiten gewährleisten. Aufgegriffen und vertieft wird dieser Gedankengang in Abschnitt 2.3.3.
Abbildung 1: Krisenphasen[19]
Eine Konkursstatistik gibt nur die zur Insolvenz unmittelbar führenden Ursachen wider. Aufgrund dieser Betrachtung sind sich die entsprechenden Unternehmen ziemlich ähnlich und es kann keine Aussage zu den eigentlichen Ursachen getroffen werden. Typisch sind hierbei beispielsweise:[20]
fehlendes Eigenkapital bzw. eine hohe Verschuldung
hohe Zinsbelastungen
hohe Forderungsausfälle
Rückgang der Nachfrage nicht kompensierbar
mangelhaftes Rechnungswesen
In Tabelle 1 sind die Krisenursachen bzw. Risiken unter Beachtung der einzelnen Unternehmenssegmente systematisiert.[21] Auf die quantitativen Krisenursachen und deren Stellenwert wird insbesondere im Abschnitt 3.2.4 eingegangen.
Tabelle 1: Krisenursachen[22]
Abgeleitet von den Krisenursachen können auch entsprechende Typen der Krise identifiziert werden. Unabhängig vom individuellen Charakter der Existenzkrise ist eine Typologie erstellbar, in welche existenzbedrohte Unternehmen eingeordnet werden können. Diese Typologie ist eine Erweiterung der vorgenannten Krisenursachen.
Unternehmen auf brechenden Stützpfeilern
Der Absatz bricht ein oder stagniert obgleich die Produktion und Beschaffung weiter durchgeführt werden. Mangelhafte Kapazitätsabstimmung führt zu Halden von Rohstoffen und Produkten. Die Verschuldung ist die weitere Folge und führt analog in die operative Krise.
Technologisch gefährdete Unternehmen (Innovations-Avers)
Das Festhalten an gewohnten, zuvor erfolgreichen Verfahren und Prozessen im Produktionssektor, in der Investitionstätigkeit und im Bereich F&E führt in die Krise. Mögliche Führungsfehler können dann zu einer Verschlechterung der Situation beitragen.
Unternehmen mit unkontrollierter Expansion
Fehlendes Eigenkapital, Probleme im Rechnungswesen und Defizite in der Führung der teilweise unübersichtlichen Organisation sind hier der Ausgangspunkt der Unternehmenskrise. Ebenso anfällig ist hierbei das genutzte Informationssystem.
Unternehmen mit konservativer Führung
Das Defizit stellt in diesem Fall der Unternehmer selbst bzw. ein dominierendes Vorstandsmitglied dar. Frühere Erfolge führen zu subjektiven, intuitiven und sprunghaften Entscheidungen, welche sich dann als falsch erweisen.
Diese grundlegenden Muster können selbstverständlich auch in Kombination auftreten.[23]
Unternehmenskrisen stellen sich somit als durchaus komplexes System von Ursachen dar, welche in gegenseitiger Wechselwirkung stehen und in unterschiedlicher zeitlicher Abfolge auftreten.[24] Um die Krise letztendlich zu bewältigen ist es notwendig, frühzeitig entscheidende Veränderungen zu erkennen. Das ist die Aufgabe der strategischen Frühaufklärung. Als Controllinginstrument stellt diese einen Erfolgsfaktor dar.[25] Das Ziel ist hierbei, Chancen und Risiken in einer so frühen Phase zu erkennen, dass genügend Zeit zur Verfügung steht, um entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten.[26] In diesem Kontext ist ein Frühwarnsystem ein Teil der Früherkennung, insbesondere der erste Schritt, indem frühzeitig Bedrohungen und Risiken geortet werden. Im Kapitel 2.3 Frühwarnsystem wird dieser Gedankengang vertieft.[27] In diesem Zusammenhang stellt sich das Risiko als Kombination aus Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer Unternehmenskrise sowie seines
Schadensausmaßes dar. Unter dem gezielten und organisierten Umgang mit Risiken, kann dann das Risikomanagement verstanden werden.
Je nachdem in welchem Stadium der Krise sich das Unternehmen befindet, ist es möglich die Krise abzuwenden bzw. zu bewältigen. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass jede Krise auch eine Chance darstellt. Denn mit der Veränderung oder Anpassung kann die verschlafene Zukunft gerettet werden.[28] Je früher reagiert wird und reagiert werden kann, desto größer sind die Handlungsspielräume des Sanierungsmanagements. Ist es möglich, dass Unternehmen zu sanieren, befindet es sich zwar in einem Ausnahmezustand aber die Krise kann bewältigt werden.[29] Inwieweit eine Sanierung vorgenommen werden kann und wie sich ihr Ablauf gestaltet ist ebenso individuell zu betrachten wie die Ursachen die dazu geführt haben.
„Die Zahl ist die Grundlage des Staates"[30]